Macht und Ereignis
Der besondere arendtsche Akzent dieser Preisverleihung
Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte beginnen. Unsere Namensgeberin erzählt sie in ihrer Schrift Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus vom Jahre 1958. Sie könnte uns, hörten wir ihr gut genug zu, in das Zentrum der Sache einstimmen, um die es bei dieser Preisverleihung in einer besonderen Weise geht.
Ein erster Hinweis auf diese Sache könnte die Frage sein: Welche Betonung, welche Herausstellung der arendtschen Zugänge zum Sinn des Politischen, zum Offenkundigen und Verborgenen unserer politischen Geschichte wäre, in diesem Arendt-Jahr 2007, die wohl dringlichste? Die dringlichste in Hinblick auf jene, uns alle betreffende Konstellation unserer Zeit, in der die Krise des Politischen, nicht nur in diesem Lande und nicht nur auf unserem Kontinent, sowohl offenkundig ist als auch – in den verschiedensten partei-politischen, politikwissenschaftlichen, globalisierenden und antiglobalisierenden Diskursen – verdeckt wird. Und verdeckt auch, muss man leider sagen, von vielen Diskursen und Vorspiegelungen im Namen der moralisch vorgetragenen »Menschenrechte«.
In der fraglichen, von Arendt erzählten Geschichte geht es um ein fast unscheinbares und doch weithin leuchtendes Ereignis. Es mag vor vielen Jahren und in einer anderen politischen Welt vorgefallen sein, doch sein Sinn ist gegenwärtig und geht uns heute noch genauso an. Es geschieht bei einer Dichterlesung in Moskau der Fünfzigerjahre, in denen sich erste Haarrisse in der noch intakten stalinistischen Macht zu zeigen begannen. Boris Pasternak sollte aus seinen Gedichten vorlesen. Jener Boris Pasternak, den die meisten außerhalb Russlands nur als den Romanautor von Doktor Schiwago kennen, wobei er vor allen Dingen jener Dichter war, der den poetischen Einbruch in die russische Welt des 20. Jahrhunderts, der von den tragischen und schon fast mythischen Gestalten von Anna Achmatova und Marina Zwetajewa angeführt wurde, auch weiterhin erfahrbar machte.
»Pasternak«, erzählt Arendt – ich zitiere –, »hatte da einen Vorleseabend angekündigt, zu dem sich eine ungeheure Menschenmenge eingefunden hatte, wiewohl doch sein Name nach all den Jahren des Schweigens nur noch als Übersetzer von Shakespeare und Goethe bekannt war. Er las aus seinen Gedichten und es geschah, dass ihm beim Lesen eines alten Gedichts das Blatt aus der Hand glitt. … Da begann eine Stimme im Saal aus dem Gedächtnis weiterzusprechen. Von mehreren Ecken des Saales stiegen andere Stimmen auf, und im Chor endete die Rezitation des unterbrochenen Gedichts.«
Wir kommen nun dem weiterwirkenden Sinn dieser »Moskauer Geschichte« Arendts näher, wenn wir versuchen, den Kontext zu verorten, in dem sie sie erzählt. Wie schon erwähnt erzählt uns Arendt dieses Ereignis im Rahmen ihrer Schrift über ein anderes politisch und geschichtlich gewiss gewichtigeres Ereignis: das jener Ungarischen Revolution von 1956, in der, in einer ungeplanten und davor unvorstellbaren Weise, die Furcht erregende Macht eines totalitären Staatsapparates, seine Befehls- und Waffengewalt, in wenigen Tagen oder gar Stunden zusammenbrach. Weniger durch die Aktionen gar nicht sehr zahlreicher aktiver Kämpfer, als durch eine Veränderung des »Aggregatszustandes« des sich versammelnden und sich plötzlich artikulierenden Volkes. Für Arendt war dies ein Schlüsselereignis innerhalb unserer, von der Macht des Totalitären und von den Einbrüchen des Politischen überschatteten neueren Geschichte.
Gerade in Bezug auf den bei dieser Preisverleihung an Julia Kristeva besonders hervorzuhebenden arendtschen Zugang zu unserer politischen Geschichtlichkeit sollten wir an diesem Punkt wahrnehmen: Viel zu oft – und fatal einseitig – wird das arendtsche Œuvre im Wesentlichen mit Beschreibungen und Analysen der »voranschreitenden«, »erfolgreichen« und ständig »drohenden« totalitären Prozesse und Mächte verbunden.
In dieser – wohl symptomatischen – Fokussierung verschwindet genau das, was dem arendtschen Werk seine epochale Bedeutsamkeit verleiht. Das nämlich, was weit über die – generell liberal inspirierten – Totalitarismustheorien hinausgeht und auch nicht mit den – oft mit arendtschen Hinweisen vorgetragenen –Diskursen aufgeht, für die die »Zivilgesellschaft« eine in die rationale und moralische Moderne endlich »angekommene« Gesellschaft ist. Was in ihr verschwindet, ist die arendtsche Aufmerksamkeit für die plötzlich eintretende Ohnmacht dieser und wohl aller wesentlich gewaltgestützten Machtformen unserer Geschichtlichkeit, wenn jene – öffentliche – Wir-Weise in Erscheinung tritt, in der das, was im luziden arendtschen Verständnis die wahrhafte Macht – und keine »Gegenmacht« der gleichen Machtsorte – ausmacht. Mögen diese öffentlichen Wir-Weisen – an unsere latenten Freiheitsübertragungen anknüpfend – noch so vergänglich innerhalb unserer neutralisierten Zeitabläufe sein: Ohne sie könnten wir nicht einmal, wie Arendt es in ihrem Vom Leben des Geistes schreibt, jene »Sphären des Handelns« erfahren, durch die »Gemeinwesen, in denen das ›Wir‹ seine angemessene Gestalt für die Reise in die historische Zeit gefunden hat«, in die Welt kommen, und die in das determinierte, voll säkularisierte Kontinuum, in die »Abfolge der chronologischen Zeit einbrechen«.
Denn wie Paul Ricœur einmal schrieb, »die Auflösung der Macht« (das heißt der, die sich an die Gewalt assimiliert hat), »ist ein instruktiveres Phänomen hinsichtlich der Natur der Macht als die Ohnmacht, die aus der Ausübung der Macht resultiert.«
In diesem Kontext ist Arendts »Moskauer Erzählung« eine Art Ouvertüre zum zentralen Thema des Essays, in dem Arendt die Ereignisse des »Ungarischen Oktobers« als ein Wiederhervortreten einer Freiheits-, ja einer Revolutionslatenz unserer westlichen Geschichtlichkeit wahrnimmt. Gegenüber dem zutiefst widerständigen, aber nicht bloß »oppositionellen« Chor des Moskauer Theaters, der wohl auch in einem dankenden und hoffnungsbestätigenden Ton das Pasternak-Gedicht – öffentlich –rezitierte, wurde die sonst allgegenwärtige totalitäre Macht radikal machtlos.
Die Wahrheit – oder besser: das Wahrheitsgeschehen – in dieser Erzählung liegt offenbar nicht innerhalb der realpolitischen, moralpolitischen oder kulturpolitischen Kategorien durch die wir, alltäglich, unsere politische Wirklichkeit theoretisch einordnen. Es fällt uns schwer, es in einer Weise wahrzunehmen, in der es auch unsere – wirklichkeits-garantierenden – Kategorien affiziert, so dass wir im Geschehen der Erzählung nicht nur eine wohl anrührende, doch nicht wirklich relevante Einzelepisode erblicken. Es ist aber zu befürchten, dass unsere Bemühungen, an das arendtsche Denken anzuknüpfen – auch im Kontext dieser Preisverleihung –, ohne diese Schwierigkeit auf uns zu nehmen, hilflos oder idealistisch-utopisch bleiben.
Die Frage nach der Art der Freiheitslatenz und seiner differierenden Zeitlichkeiten zeichnet auch die Nähe des arendtschen zum benjaminschen Denken aus. In ihrem
großen Essay zu Walter Benjamin, wo die emblematische Gestalt des »Perlentauchers« den benjaminschen Umgang mit der Geschichte verkörpert, ist der »Schatz« (auch der »verlorene Schatz der Revolution«) nicht aus der Welt, er ist »nur versunken«. Wir können aber, um bei der Metapher zu bleiben, im Meer – das übrigens selber eine Metapher des Mütterlichen ist – nach ihm »tauchen«, ohne Gewissheit, doch mit dem Zutrauen, dass er uns eigentlich geschenkt und versprochen wurde. Es ist nicht schwer, in dieser Passage des Benjamin-Aufsatzes eine Metapher des jüdisch- christlichen »Versprechens« innerhalb einer gewandelten, nicht mehr zwingend-offensichtlichen Konstellation wahrzunehmen. Wir können in diesen Zeilen auch eine andere Metapher herauslesen. Sie ist die des »eintauchenden« freudschen (und nach -freudschen) analytischen Erfahrungszugangs. Dieser liegt allerdings – wie auch die zur übertragungsoffenen politischen Erfahrung – nicht auf dem Trockenen der psychologischen oder politologischen Reflexionen.
Es ist aber auch nicht so, dass das Bedeutsame dieser arendtschen Erzählung nur von der zentralen Thematik des Essays her beleuchtbar wäre. Umgekehrt ist auch die Hauptthematik des Essays von dieser »Ouvertüre« her gestimmt. Das heißt: Von einem, durch eine »Unterbrechung« zur Stimme gekommenen, politisch-poetischen und doch eigentümlich mächtigen »Wir« her, das keine »Oppositionsgruppe«, keine »Masse«, aber auch keine Gruppe eines »kulturellen Ausdrucks« ist. Das »Poetische« dabei ist keine im herkömmlichen Sinn »ästhetische« Kategorie. Vergessen wir nicht, dass im erweiterten politischen Verständnis Arendts das hellenische »Volk der Griechen« – in dem dann der ereignishafte Sprach- und Handlungsraum der Polis aufkommt – im Hören und Sagen der homerischen Dichtung entspringt, ebenso wie das jüdische Volk im »Höre Israel« und der Zusammenhang des Christentums in der »Frohen Botschaft« entspringt. Es ist so, als ob darin eine nicht-selbstreferentielle Art der Solidaritätsmacht gestiftet wäre, die mit unseren gewohnten – die differierenden Zeitlichkeiten einebnenden – Begriffen der »Interessens- oder Wertegemeinschaft« nicht zu fassen ist. Wohl auch deshalb, weil in der Natur der Letzteren nichts Angesprochenes und nichts Ansprechendes gedacht werden kann.
Damit kommen wir dem besonderen arendtschen Akzent dieser Preisverleihung näher. Wir haben für sie nicht von ungefähr als Motto einen Satz aus Arendts Denktagebüchern gewählt. Er heißt: »Nur von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, nicht von den Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten.« – »Wahrheit« zielt hier, wie bei Arendt
auch anderswo, auf ein Wahrheitsgeschehen, sei es der entbergenden oder der vertrauens-bezeugenden Art. In der Sprache wohnt Dichtendes, können wir wohl im Sinne Arendts sagen, und nicht bloß Informationskommunizierendes, mag dies auch für viele Philosophen und Sozialwissenschaftler schwerer nachvollziehbar sein als für gewöhnliche Sterbliche.
Dieser Akzent der diesjährigen Preisverleihung ist innig mit dem Werk unserer Preisträgerin verbunden. Dieses Werk ist von jener genuin arendtschen Wiedereröffnung
jener konstitutiven Bezügen gekennzeichnet, die, mal in ereignishaften, mal in latenten Weisen, zwischen unserem Sprachwesen und der Macht des Verzeihen- und Versprechen-könnens walten. Es ist diese Macht, die für Arendt die Zeiträume des Politischen eröffnet.
In Julia Kristevas Denken bekommen nun diese Bezüge – durch die unsere singulären Daseinsweisen mit unseren geschichtlichen Wir-Weisen verbunden sind – einen aktuellen politischen Sinn. Oder auch: einen widerständigen Sinn in der anfangs erwähnten, das Politische bedrohenden Konstellation. Er untergräbt die fast selbstverständlich gewordene funktionalistisch rationalisierende Festlegung, Identifizierung des politischen Sprechens und Handelns. Er untergräbt somit auch die dunkle, verdrängte »andere Seite« derselben Ausprägung. Diese kommt uns dann als die – mal offenere, mal untergründigere –paranoide Identifizierung des Politischen mit dem »letzten Entscheidungskampf« gegen die je aktuelle Verkörperung des An-Sich-Bösen vor. Durch beide Seiten werden die erwähnten Bezüge zwischen unseren Selbst- und Wir-Weisen und ihre –nicht bloß intellektuelle – Bearbeitbarkeit verdeckt und verleugnet. Nichtsdestoweniger gehören die an sie direkt anknüpfenden und weithin wirkenden Diskurse zu unserer politischen, intellektuellen und auch akademischen Wirklichkeit.
In welchem Maße die geschichtliche Bedeutung des arendtschen Denkens von der Widerständigkeit gegenüber diesen Diskursen und ihren Praktiken gekennzeichnet ist, wird in der Arendt gewidmeten Literatur nur recht punktuell wahrgenommen. Desto wichtiger ist somit die Weise, in der sie in Kristevas Werk hervortritt. Sie tritt hervor, auch weil Julia Kristeva einen noch seltenen Beitrag dazu geleistet hat, die »Verwandtschaft« zwischen dem arendtschen Zugang zu unseren freiheits- und übertragungsoffenen politischen Zwischenräumen und den freudschen-nachfreudschen Zugängen zu dem, was – wie Kristeva sagt, eher »selten« – in der analytischen Situationen geschieht, denkbar zu machen. Beide Zugänge liegen sozusagen »diesseits« unserer gewohnten politik-wissenschaftlichen und psychologischen Objektivierungen. Verschwindet die »Verwandtschaft«, werden sie erneut in die besagten Objektivierungen zurückgedrängt.
Dies hilft uns wesentlich beim – wie die Arendt-Literatur es zeigt: gar nicht leichten – Nachvollzug des arendtschen Verständnisses von unterbrochenen Handlungskontexten und Neugründungen. Die epochal angestoßene freudsche Erweiterung der denkerisch zugänglichen Erfahrung und Erfahrungszeitlichkeit hat ja auch ihre Parallelen in den phänomenologischen Durchbrüchen, die den direkten denkerischen Hintergrund Arendts bilden. Die analytische Erfahrungserweiterung »geschieht« in der übertragungsoffen werdenden ereignishaften Wiederverflüssigung der Fixierungen, die uns, alltäglich, sowohl vom Ängstigenden wie vom Zusprechenden abschirmen. Dadurch kommt die Macht ihrer Neubearbeitung zustande.
Die »Moskauer Erzählung« Arendts zeigt uns, wie die Anknüpfbarkeit an das, was die Freiheitsdimension des Politischen trägt, mit dem Wirksamwerden des poetischen Wortes und seiner Wir-Weisen zu tun hat. Darin liegt der besondere arendtsche Akzent dieser Preisverleihung.
© Zoltán Szankay, all rights reserved
Wir danken der Familie Szankay für die Erlaubnis, diesen Text hier zu veröffentlichen.
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