Damit Politik Sinn macht
Das Widerständige des böckenfördschen Denkens
Wahrheit und Sinn sind nicht dasselbe. Der Grundirrtum, dem alle speziellen
metaphysischen Trugschlüsse nachgeordnet sind, besteht darin, den
Sinn nach der Art der Wahrheit aufzufassen. Hannah Arendt, 1977
Auch wenn der Begriff der Menschenwürde aus christlichen Wurzeln
heraus entstanden und geformt worden ist, erhält die unabdingbare
Subjektstellung, auf welche die Würde abhebt, ein unterschiedliches
konkretes Profil, je nachdem, ob der Mensch als Gemeinschaftswesen im
Sinne des Aristoteles, als auf sich gestelltes Individuum, als imago dei im Sinne
des christlichen Menschenbildes oder davon abgelöst verstanden wird.
Ernst-Wolfgang Böckenförde, 2001
Die Politik Arendts als eine Antwort auf den modernen Nihilismus zu sehen,
bedeutet ihren Hinweis, dass wir die Politik um der Welt willen
brauchen, verstehen. Bonnie Honig, 1991
Der Arendt-Preis, das Diktum und die Interventionen Böckenfördes: gute gegenseitige Beleuchtungen Unsere Ausgangsthese: Die arendtsche Wiederbelebung eines emphatischen Politikverständnisses bildet einen vorzüglichen Hintergrund für die Erfassung der zentralen Aporie des Diktums der öffentlichen und denkerischen Interventionen Böckenfördes, zu denen eine spezifische Widerständigkeit gegenüber den übermächtigen Naturalisierungen und abstrakten Moralisierungen unserer geschichtlichen Welt gehört. Sie ist somit auch eine spezifische Resistenz gegenüber dem, was in unserer Zeit, prozesshaft und scheinbar nicht unterbrechbar, mit dem Anschein der Endgültigkeit in der Modernisierung und »Globalisierung« der Welt auftritt.
Wo können wir nun die fragliche und spezifische Widerständigkeit im Diktum verorten? Sie tritt in der Widerständigkeit seiner spannungsgeladenen Aporie gegenüber allen Versuchen ihrer geschichtsphilosophischen oder funktionalistischen Auflösung auf. Das Diktum lässt gerade den »säkularisierten Staat«, den Sicherheitsgaranten moderner Gesellschaftlichkeit schlechthin, als das Produkt eines einzigartigen »Wagnisses« erscheinen. Unsere so »gewagte« politische Sicherungseinheit wird, in dieser Konstellation, durch keine noch so perfektionierte »Sicherheitspolitik« wagnisfreier. Das, was hier mit »um der Freiheit willen« charakterisiert wird, ist, genau besehen, nicht mehr eindeutig auf einen objektivierbaren Staatsinnenraum beziehbar. Das Politische unserer institutionalisierten modernen Einheitsformen erscheint als ein im klassischen, rationalistischen Sinn Unbegründbares. War es die eigentümlich ansprechende Spannung dieser Aporie, die dem Diktum die – in der Moderne seltene – Bedeutsamkeit eines Spruches verlieh? Auch wenn hier nicht auf das Spezifische der Widerständigkeit, die hier gegenüber dem Anspruch des politischen Begründungswissens im Spiel ist, länger eingegangen werden kann, ist es schon auf den ersten Blick deutlich: Es ist, im Unterschied zu den klassischen, ideologisch-politischen »Widerständigkeiten« weder an eine Fortschritts- noch an eine Verfallsgeschichte gebunden. Sie ist folglich weder »fortschrittlich« noch »konservativ « verortbar.
Zur Parallele: Es ist schon seit einiger Zeit deutlich geworden, dass es innerhalb der neu belebten politischen Rationalismen der zweiten Nachkriegszeit lange Zeit unmöglich war, den »Ort« wahrzunehmen, von dem aus die Werke Hannah Arendts gedacht und geschrieben wurden. Da dieser »Ort« auf den geistesgeschichtlichen Karten zwar schon öfters aufgetaucht, aber noch bei weitem nicht richtig bekannt ist, kommt es noch immer zu absurden Topologien, in denen, zum Beispiel, es eine Arendt gibt, die aus einem »guten« (jüdischen) Ort heraus schreibt, und eine andere, die es aus einem weniger guten (deutschen) Ort heraus betreibt.[1]
Politisierende Interventionen Die Parallelsetzung der Widerständigkeit der Aporie und des »entgründeten« Politikverständnisses im Diktum mit der arendtschen Art des widerständigen Denkens und Verstehens muss zunächst als eine gewaltsame erscheinen. Kann sie durch relevante Züge im Werk und in den Interventionen Böckenfördes in etwa bestätigt werden?
Gewiss: Das Denken und die Interventionen Böckenfördes kommen nicht mit der Fahne des Widerständigen und des radikalen Einspruchs einher. Es fällt aber nicht schwer, auf Interventionen und auf hochbedeutsame Einsprüche gegenüber von nach wie vor hegemonischen Verständnisweisen unserer politischen und geschichtlichen Wirklichkeit hinzuweisen, die bestimmte Parallelen nahe legen.
Wir sehen sie, zum Beispiel, im vielleicht wichtigsten Essay Böckenfördes der letzten Jahre, im: Der Wandel des Menschenbilds im Recht (2001). Zentral im Essay ist die Herausstellung eines spezifischen und symptomatischen Vergessens des Politischen in der durchgehenden Zentralität eines liberal-individualistischen »Menschenbildes« und Rechtsverständnisses. So wird, zeigt Böckenförde, in der zur Selbstverständlichkeit geronnenen Formel: »Der Mensch ist nicht für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen« schlicht vergessen, »dass der Mensch auch für die politische Gemeinschaft da ist«. Dabei geht es Böckenförde nicht um die übliche »Überwindung« des Vergessens. Es ist ihm klar, dass es »zu nichts führt, religiöse oder philosophische Begründungen normativer Menschenbilder« gegen dieses Vergessen (oder Vergessenwollen) heraufzubeschwören. Es geht ihm wohl eher um eine Arbeit gegen das »Vergessen des Vergessens« (um eine heideggersche Formel anzuwenden), gegen die schicksalsergebene Kollaboration mit demselben, in der auch der Sinn des Politischen zu schwinden droht. Die Parallelen mit der nichtinstrumentellen Art des arendtschen Verständnisses der antignostischen Widerständigkeit sind, meine ich, wahrnehmbar.
Wir sehen sie auch in der breiter wahrgenommenen »resistenten« Intervention Böckenfördes zu der Neufassung des maßgeblichen Kommentars zum Grundgesetz. Er sieht in der besagten Neufassung eine verschleierte »Zäsur«, durch die, wie es im Titel seines diesbezüglichen Essays hieß, der Satz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar« sich in Wahrheit zum Satz: »Die Würde des Menschen war unantastbar« wandelt. Die Neuinterpretation bringt, so stellt es Böckenförde heraus, eine neue Qualität des Abwägens in die Anwendungen des Satzes hinein, die den Prinzipiencharakter des Satzes radikal verändert. Es gibt noch eine wesentliche Widerständigkeit im Denken Böckenfördes gegenüber einem fast selbstverständlich gewordenen Grundmuster unseres politischen und moralischen Handlungsverständnisses.
Wie kaum ein anderer, auch in der politischen Öffentlichkeit auftretender Denker in Deutschland wendet er sich gegen das bequeme Falschspiel, das, Politik verdeckend, mit den Bezügen auf »Werte«, »Grundwerte« und »Wertegemeinschaften « getrieben wird. Bekanntlich sollten diese Bezüge als »übermaterielle« Supplemente der – auch als selbstverständlich vorausgesetzten – Individual- und Kollektiv-»Interessen« dienen. Sie sollten nicht bloß – wirklichkeitsfern – »gelten« (so wie sie ursprünglich in den Idealismusresten des Neokantianismus konzipiert worden sind). Sie sollten – in einer imaginären Paarformierung mit den »Interessen«, einen nobleren Zement für den konkreten Zusammenhalt der Gesellschaft oder der politischen Gemeinschaft bilden.
Mit den Werten, so Böckenförde, postuliert man eine abgehobene Konsensform unserer politischen Einheiten, die »die Wirklichkeit unseres Lebens und Zusammenlebens verfehlt«. Das ideologisch-politisch Entscheidende dabei ist, dass die Sprache der Werte genau dort auftaucht, wo die geschichtliche, symbolische an das andere ansprechende Dimension unserer konfliktiven Zusammenhalte durch abstrakt-allgemeine Werte ersetzt werden sollte.
Die Bedeutung dieser ungewohnten öffentlichen Hinterfragung der Selbstverständlichkeit, mit der durch die Gegensatzpaare: Interessen – Werte (d. h.: naturhaftes Sein – moralisch Gebietendes) die Gesamtheit der legitimen Gründe des politischen Handelns abgedeckt wird, kann leicht unterschätzt werden. Zwei kurze Beleuchtungen sollen sie besser herausheben.
(1) Es kann gezeigt werden, dass die implizite Sozialontologie dessen, was Böckenförde präzise die neokantianische »Auseinanderreißung von Sein und Sollen« benennt, das im emphatischen Sinn Politische im Vorhinein ausschließt. Zwischen den Determinismen des naturhaft Gesellschaftlichen, die in den biologistischen Vorstellungsweisen von »Evolution« oder von »System - Umwelt«-Totalisierungen vorherrschen, und des werthaft Normativen, das ein ambivalenzbereinigtes Gutes gleichsam garantierend repräsentiert, bleibt für symbolisch und ereignishaft übertragene, freiheitsbezogene und plurale Erfahrungs- und Handlungsräume einfach kein Platz.
(2) Die eigenständige Artikulierung dieser Hinterfragung erfolgt bei Böckenförde aus einem »Ort« heraus, der nicht in diesen Artikulierungen selber entstand. Er entstand vornehmlich in jener krisenhaften Konstellation der westlichen Erfahrungs- und Denkgeschichte der »mitteleuropäischen« Zwanzigerjahre (siehe Fußnote 1). So hat ihre Relevanz allerdings ein bemerkenswertes Nachleben in den Versuchen, die Einbrüche des 20. Jahrhunderts als Unfälle zu buchen, die die Grundcharakteristiken der Geschichte nicht wesentlich tangieren. Wie es bekannt sein dürfte, hatte der arendtsche Widerstandsort heideggersche Grundzüge. Der von Böckenförde kam wohl in der Carl Schmitt’schen Neubelebung eines emphatischen und ereignisbezogenen Politikbegriffes zu Stande.
PS: Wir können hier nur mit einem Satz auf die Bedeutung der Art und Weise hinweisen, in der die Widerständigkeit Böckenfördes bei aktuellen politisch-geschichtlichen Fragen ins Spiel kommt. Seine Bremer Preisrede zum EU-Beitritt der Türkei – mit einem sonst kaum thematisierten politikgeschichtlichen Hintergrund – hat zu Recht Irritationen in jenem Meinungsspektrum ausgelöst, für die es eine Zumutung bedeutet, das Politische anders als unter funktionalistischen oder moralischen Perspektiven wahrzunehmen.
© Zoltán Szankay, all rights reserved
Wir danken der Familie Szankay für die Erlaubnis, diesen Text hier zu veröffentlichen.
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