Eugen Ruge: In Zeiten abnehmenden Lichts (2012)
Früher nannte man es diffamierend Renegatenliteratur, zu denen auch noch Arthur Koestlers Sonnenfinsternis zählte. Allmählich verbreitet sich die Einsicht, es könnte auch etwas mit Klugheit zu tun haben, wenn man den Blendwirkungen allzu großer Lichteinstrahlung nicht erliegt, sondern das grell Beleuchtete nach Möglichkeit vor seiner Erhebung zum alternativlos Göttlichen auch von seiner Schattenseite aus betrachtet. Eugen Ruge nutzt vier Generationen und meist auch noch beide Geschlechter, um aus den unterschiedlichen Perspektiven die Dinge hinter ihrem Rücken aufzuspüren. Hinter den überall aufgestellten Plakatwänden vom siegreichen Sozialismus sieht es nämlich deutlich anders aus.
Es gehört schon hohe Kunstfertigkeit dazu, das ganze Elend, die unglaubliche Anhäufung von Jämmerlichkeiten des sozialistischen Paradieses so zu schildern, dass der Leser nicht in einem Abgrund von Melancholie versinkt, sondern rechtzeitig durch herzhaftes Lachen aus seiner anwachsenden Trübsal wieder heraus geholt wird. Das Dogma des Glaubens, das die jüdisch-christliche mit der sozialistischen Tradition verbindet - credo quia absurdum - ich glaube, weil es absurd ist - hat eben auch seine komischen Seiten.
Am gelungensten scheinen mir die großen Gelegenheiten wie 90ster Geburtstag oder Weihnachten, das der großväterliche Erzkommunist nur mit dem Rücken zum Baum erträgt. Mit viel Lust und Liebe zum Detail schildert der Autor, der weiß wovon er spricht, wie die Jämmerlichkeiten regelmäßig daran scheitern, das längst völlig sinnentleerte Ritual in ein genießbares Schauspiel zu verwandeln. So läßt es sich im Hochgefühl seiner proletarischen Überlegenheit der 90jährige Veteran des antifaschistischen Widerstands und dementsprechend ordensüberhäufte Parteifunktionär Wilhelm nicht nehmen, den Ausziehtisch mit eigener Hand auf die für das Geburtstagsbuffet notwendige Länge zu erweitern. Doch wie in allen sozialistischen Utopien inklusive der aktuellen Klimarettung kommt der Hochmut vor dem Fall. Die Wirklichkeit erweist sich als widerständig, weshalb mit Gewalt in Gestalt von Hammer und Nägeln nachgeholfen werden muss. Es kommt wie es kommen muss. Bei der ersten Belastungsprobe versagt die glorreiche Konstruktion. Der sozialistische Menschheitstraum in einem Bild verdichtet: ein zusammengekrachter Ausziehtisch. „Wie ein verunglückter Vogel kam ihr der Ausziehtisch vor. Die beiden Platten ragten schräg in die Luft. Das Zeug auf dem Fußboden: Eingeweide eines verendeten Tieres.“
Gleichzeitig gelingt es dem Autor, die Elemente der Tatsächlichkeit so bleiläufig und unter der Hand einzustreuen. dass nur für einen kurzen Moment der ideologische Nebel einen Blick auf die Wirklichkeit freigibt und man als Leser trainiert wird, die Gelegenheit nicht zu verpassen. Ein in jeder Hinsicht gelungenes Buch.
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