Eine Lektüre[1. Von den vie­len Tex­ten, die in eine Lek­tü­re ein­flie­ßen, will ich drei beson­ders her­vor­he­ben, die stets mit­le­sen­de Mar­ga­ret Cano­van, den Münch­ner Alt­his­to­ri­ker Chris­ti­an Mei­er und den Frank­fur­ter Alt­phi­lo­lo­gen Karl Rein­hardt, der sowohl für Chris­ti­an Mei­er als auch für Mar­tin Heid­eg­ger eine inspi­rie­ren­de Quel­le war. Wenn von all den vie­len Tex­ten, die mei­ner Auf­merk­sam­keit ent­gan­gen sind, auch wel­che sind, die hier hät­ten Beach­tung fin­den sol­len oder gar müs­sen, aber nicht fan­den, ist dies allein mein Unver­mö­gen. Was dar­über hin­aus die Wid­mung schon andeu­tet, ist der Dank an mei­nen Leh­rer Zol­tán Szankay - ohne ihn könn­te ich so gar nicht lesen.] von Han­nah Are­ndts 1965 gehal­te­ner Vor­le­sung „Some Ques­ti­ons of Moral Phi­lo­so­phy“[2. Han­nah Are­ndt: Über das Böse - Eine Vor­le­sung zu Fra­gen der Ethik, aus dem Nach­lass her­aus­ge­ge­ben von Jero­me Kohn, aus dem Eng­li­schen über­setzt und mit edi­to­ri­schen Bemer­kun­gen von Ursu­la Ludz, sowie einem Nach­wort von Fran­zis­ka Aug­stein, 2007, Piper Ver­lag, Mün­chen; das unpas­sen­de Nach­wort von Fran­zis­ka Aug­stein strotzt nur so vor abstru­sen Behaup­tun­gen. Eine kur­ze Kost­pro­be muss genü­gen: Han­nah Are­ndt sei eine Kant-Kri­ti­ke­rin, weil Kant nach ihrem (H.A.) Gefühl zu deutsch sei. … Man möge doch bit­te damit auf­hö­ren, Tex­te von Han­nah Are­ndt, die einen gänz­lich ande­ren Rang ein­neh­men, durch Bei­fü­gung sol­cher Mach­wer­ke zu miss­ach­ten.] - gewid­met Zol­tán Szankay zum 85sten

„Alle Mora­li­tät ist schlech­ter­dings Sittengesetz
– eine Fra­ge der »mores« – und nichts sonst.
Es hat mit dem Pro­blem des Bösen über­haupt nichts zu tun.“

„Doch das Ver­track­te an der Weis­heit der Ver­gan­gen­heit ist,
dass sie sozu­sa­gen auf unse­ren Hän­den stirbt, sobald wir sie ernsthaft
auf die zen­tra­len poli­ti­schen Erfah­run­gen unse­rer eige­nen Zeit anzu­wen­den suchen.“

Mit­te des Jah­res 2013 ist hier­zu­lan­de Bert­hold Beitz gestor­ben. Sei­ne Fami­lie setz­te an den Anfang der Todes­an­zei­ge in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung ein Mot­to von Peri­kles, an dem sich, so hört man von sol­chen, die ihn lan­ge kann­ten, schon der jun­ge Bert­hold Beitz ori­en­tiert haben soll.

Das Geheim­nis des Glücks ist die Frei­heit. Das Geheim­nis der Frei­heit aber ist der Mut.

Auch über Bert­hold Beitz könn­ten wir, wenn wir nur einen Sinn dafür hät­ten, etwas sagen, was Han­nah Are­ndt vor fast 50 Jah­ren über Win­s­ton Chur­chill sag­te. Er wür­de uns wie eine Figur aus einem ande­ren Jahr­hun­dert erscheinen.

Han­nah Are­ndt beginnt ihre 1965 unter dem Titel ‚Some Ques­ti­ons of Moral Phi­lo­so­phy‘ gehal­te­ne Vor­le­sung mit einer Erin­ne­rung und einem Urteil. Sie erin­nert an Win­s­ton Spen­cer Chur­chill, der Anfang des Jah­res 1965 in Lon­don ver­stor­ben war und sie hebt ihn unter den Sterb­li­chen als den größ­ten Staats­mann unse­res bis­he­ri­gen Jahr­hun­derts her­vor. Mit der Erin­ne­rung bewahrt sie für uns das Andenken an den gera­de erst ver­stor­be­nen Chur­chill. Mit dem Her­vor­he­ben nimmt sie Chur­chill aus dem Gleich-Gül­ti­gen her­aus und lässt ihm den Rang zuteil wer­den, der ihm zukommt. Sie erwei­tert die­ses zunächst ganz ‚sub­jek­tiv‘ erschei­nen­de Urteil durch den Hin­weis auf eine mit ande­ren geteil­te Ein­schät­zung, die sich nur auf Win­s­ton Chur­chill bezieht. „Man hat ihn eine aus dem 18. in das 20. Jahr­hun­dert ver­schla­ge­ne Gestalt genannt, so als hät­ten die Tugen­den der Ver­gan­gen­heit sich unse­res Schick­sals in sei­ner ver­zwei­fels­ten Kri­se ange­nom­men.“ Mit dem Erin­nern und dem Her­vor­he­ben bringt Han­nah Are­ndt uns Chur­chill näher - kön­nen wir uns aber auf die­se Nähe über­haupt schon einlassen?

Ist es nicht erstaun­lich, dass in den meis­ten Kom­men­ta­ren und Rezen­sio­nen zu die­sem Text die schlich­te Tat­sa­che, dass Han­nah Are­ndt gera­de die­se Vor­le­sung mit Win­s­ton Chur­chill beginnt - ganz unacht­sam - ein­fach über­gan­gen wird, als han­de­le es sich bei die­sem Anfang um eine Bei­läu­fig­keit, etwas eher Neben­säch­li­ches, das vom eigent­li­chen The­ma bloß ablen­ken würde?

Weil sol­che Leser immer schon über den Text hin­aus sind, wer­de ich dem­ge­gen­über ein wenig bei die­sem Anfang ver­wei­len. Und ich wer­de bei dem Hin­hö­ren auf Han­nah Are­ndts Text auch dar­auf ach­ten, ob der aus­ge­spro­chen eigen­mäch­ti­ge deut­sche Titel ‚Über das Böse‘ über­haupt gerecht­fer­tigt wer­den kann. Geht es in die­ser Vor­le­sung über­haupt um das Böse? Ist nicht viel­mehr ein inzwi­schen schon ver­zwei­fel­tes Fest­klam­mern an dem Bösen mehr zu- als auf­schlie­ßend, etwas, womit wir uns - immer noch - ängst­lich Abson­dern von dem, ‚was wirk­lich auf dem Spiel steht‘?

Sofern es näm­lich um das Böse gin­ge, gibt es die­je­ni­gen, die sich wegen Are­ndts ‚Hans­wurst‘ vor lau­ter Empö­rung gar nicht wie­der ein­krie­gen. Mit reli­giö­sem, gele­gent­lich gar fana­ti­schem Eifer wol­len sie in einer gewis­sen Hab­gier, kos­te es, was es wol­le, ihre Dämo­nen und Teu­fel wie­der haben. Es ist ein ganz eigen­ar­ti­ger Ton in den Anwür­fen, die von die­ser Sei­te an Han­nah Are­ndt gerich­tet wer­den. Ich kann mich des Ein­drucks nicht erweh­ren, dass es der Ton von Kin­dern ist, denen Han­nah Are­ndt ihr Lieb­lings­spiel­zeug weg­ge­nom­men hat.[3. vgl. Clau­de Lanz­mann in einem Inter­view mit der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung am 26.05.2013.: „Es war ein schmut­zi­ger Pro­zess. Han­nah Are­ndt, die ihn von wei­tem ver­folg­te, hat viel Schwach­sinn über ihn geschrie­ben. Die Bana­li­tät des Bösen ist vor allem die Bana­li­tät der Schluss­fol­ge­run­gen von Frau Are­ndt. Eich­mann war kein blas­ser Büro­krat, son­dern ein Teu­fel, ein fana­ti­scher Anti­se­mit, gewalt­tä­tig, kor­rupt.“ Man beach­te den bemer­kens­wer­ten Ver­spre­cher: Clau­de Lanz­mann, der 1962 kei­ner­lei Inter­es­se an dem Pro­zess in Jeru­sa­lem hat­te und im Unter­schied zu Han­nah Are­ndt nicht über den Vor­zug der Erfah­rung des Wirk­li­chen ver­fügt, bezich­tigt H.A., ihn nur ‚von wei­tem‘ ver­folgt zu haben.] Der­weil geht es die­sen Empör­ten gar nicht in ers­ter Linie um das Indi­vi­du­um Adolf Eich­mann, um genau jene ein­zel­ne Per­son, die erst dann zum Vor­schein kommt, wenn man sie auf einem öffent­li­chen Schau­platz erschei­nen lässt, und, zusam­men mit ande­ren, dar­um ringt, ein ange­mes­se­nes Urteil über sie zu fäl­len. Vom Bösen aus gese­hen ist Eich­mann eine Inkar­na­ti­on, erst und, gemes­sen an den der­zei­ti­gen poli­ti­schen Kon­stel­la­tio­nen, nur im öffent­li­chen Erschei­nungs­raum einer Gerichts­ver­hand­lung, wird Adolf Eich­mann dage­gen ein exem­pla­ri­sches, ein­zel­nes und sterb­li­ches Leben, das gezeigt, bespro­chen und beur­teilt wer­den kann. Die­se Empör­ten klam­mern sich an eine bestimm­te Vor­stel­lung des Bösen, etwas, das sie wie einen Para­vent vor sich hin, zwi­schen sich und die Mög­lich­keit eines Ein­bruchs der Wirk­lich­keit stel­len kön­nen, und dem gegen­über (dem Para­vent) es ihnen erleich­tert wird, nicht nur gut, son­dern über­haupt sein zu kön­nen. Es geht ihnen, wie Han­nah Are­ndt an ande­rer Stelle[4. vgl. Ich will ver­ste­hen, S. 84: „Ich wür­de behaup­ten, dass in der Vor­stel­lung des Gut-sein-Wol­lens tat­säch­lich mein eige­nes Selbst für mich von Wich­tig­keit ist. In dem Augen­blick, in dem ich poli­tisch hand­le, bin ich nicht an mir inter­es­siert, son­dern an der Welt.“, sowie die Ein­tra­gung vom Febru­ar 1966 im Denk­ta­ge­buch: „Die Schwie­rig­keit der Selbst­lie­be bei Augus­tin in De Tri­ni­ta­te, Von den Drei­en , „amans“ - „ama­tum“ - „amor“, fal­len Eins und Zwei in Eines zusam­men. Er zieht dar­aus die rich­ti­ge Kon­se­quenz, dass nur die Lie­be geliebt wird - und sieht nicht, wie abscheu­lich das ist. Die Sen­ti­men­ta­li­tät der Selbst­lie­be: das Sich-berau­schen an Gefüh­len statt an Gegen­stän­den. Und auf die­ser Sen­ti­men­ta­li­tät beruht unse­re gan­ze Moral! Inklu­si­ve der Mög­lich­keit des Altru­is­mus.“, S. 648; es ist in die­sem Zusam­men­hang auch durch­aus bemer­kens­wert, dass im Unter­schied zu jenen, die im Hoch­mut des selbst­ge­fäl­li­gen Gut- und Anders Seins ihre Nase hoch tra­gen, die­je­ni­gen, die ihre Nase tat­säch­lich in den Dreck ste­cken, längst ver­stan­den haben, dass das „Böse“ kein meta­phy­sisch-onto­lo­gi­sches Wesens­merk­mal einer zu ent­lar­ven­den Täter­per­son ist, dass es längst nicht mehr dar­um geht, was in der Per­son ist, son­dern viel­mehr um das, was sich als „mores“ zwi­schen den Per­so­nen eta­bliert. vgl. z.B. Chris­to­pher Brow­ning: „Han­nah Are­ndt schil­dert (…) Eich­mann als „bana­len Büro­kra­ten“, als Räd­chen im büro­kra­ti­schen Getrie­be. Zwar ist Eich­mann sicher­lich nicht das bes­te Bei­spiel für einen „bana­len Büro­kra­ten“, den­noch ist die­ser Begriff zum Ver­ständ­nis vie­ler Holo­caust-Täter hilf­reich. Hil­berg und ande­re haben deut­lich doku­men­tiert, in wel­chem Maße nor­ma­le Büro­kra­ten den Holo­caust dadurch ermög­lich­ten, dass sie Funk­tio­nen, die für den plan­mä­ßi­gen Mas­sen­mord uner­läss­lich waren, genau­so rou­ti­ne­mä­ßig aus­üb­ten wie ihre übri­gen beruf­li­chen Pflich­ten.“, Ganz nor­ma­le Män­ner, S. 319.] bemerkt hat, mehr um sich selbst, als um die Welt, wes­we­gen sie, sofern poli­tisch etwas auf dem Spiel steht, gar kei­ne Rol­le spielen.[5. vgl. auch ihre Aus­füh­run­gen zu Machiavelli‘s „viel­fach miss­ver­stan­de­nen Leh­re, dass es in der Poli­tik dar­um gehe, zu ler­nen „nicht gut zu sein“, näm­lich nicht im Sin­ne christ­li­cher Moral­vor­stel­lun­gen zu han­deln.“ Über die Revo­lu­ti­on, S. 43; die­je­ni­gen, die Han­nah Are­ndt ein roman­ti­sches Fest­hal­ten an anti­ken Idea­len unter­stel­len, denen in der gesell­schaft­li­chen Moder­ne kei­ne Bedeu­tung mehr bei­kä­me, sei­en auf die klei­ne Geschich­te hin­ge­wie­sen, die Bo Lide­gaard in sei­nem Buch ‚Die Aus­nah­me‘ erzählt. Die Dänen, dar­auf hat­te schon Han­nah Are­ndt nach der bahn­bre­chen­den Stu­die von Leni Yahil im Eich­mann­buch hin­ge­wie­sen, bil­den, was die Indif­fe­renz, bzw. akti­ve Unter­stüt­zung der Ver­nich­tung der euro­päi­schen Juden anbe­langt, in Euro­pa neben den Bul­ga­ren die gro­ße Aus­nah­me. Einer der ver­ant­wort­li­chen Fak­to­ren für die­se Aus­nah­me ist die Tat­sa­che, dass die Dänen in der Per­son Hart­vig Frisch (Pro­fes­sor der Phi­lo­so­phie der Anti­ke) schon in den 30ger Jah­ren jeman­den wie Ernst Nol­te hat­ten, dort aller­dings ohne den ent­po­li­ti­sie­ren­den His­to­ri­ker­streit. Frisch hat­te in dem Buch ‚Pest over Euro­pe‘ anstel­le des religiös/ideologischen den poli­ti­schen Streit in den Vor­der­grund gestellt und dar­auf insis­tiert, dass es nicht um den Kon­flikt rechts/links gin­ge und schon gar nicht dar­um, in einer Volks­front mit dem Kom­mu­nis­mus gegen den Nazis­mus vor­zu­ge­hen, son­dern um eine ganz ande­re Front­stel­lung: die drei tota­li­tä­ren Sys­te­me auf der einen Sei­te, zu die­sen rech­ne­te er Bol­sche­wis­mus, Faschis­mus und Natio­nal­so­zia­lis­mus und die Sor­ge um eine rechts­staat­li­che, demo­kra­ti­sche Welt auf der ande­ren Sei­te. Das Buch, so Lide­gaard, hat­te ent­schei­den­den Ein­fluss auf die däni­sche Regie­rungs­po­li­tik und sorg­te dafür, dass früh­zei­tig in Däne­mark die Ver­tei­di­gung des Demo­kra­tisch-Poli­ti­schen mit dem Patrio­tisch-Natio­na­len ver­knüpft wur­de und vor allem von Sei­ten der Regie­rung vehe­ment dar­auf geach­tet wur­de, dass tota­li­tä­re Ideo­lo­gien in der poli­ti­schen Öffent­lich­keit kei­ne Chan­ce haben. In Däne­mark, seit April 1940 von den Deut­schen besetzt , fand Anfang Okto­ber 1943 die Juden­ak­ti­on statt, in der Däne­mark juden­rein gemacht wer­den soll­te. Die Dänen wur­den früh­zei­tig gewarnt, vie­le däni­sche Juden konn­ten daher recht­zei­tig flie­hen. Etli­che Juden waren in einem klei­nen Fischer­dorf von ca. 1700 Ein­woh­nern im Nor­den Däne­marks gelan­det und auf ver­schie­de­ne Unter­künf­te ver­teilt wor­den, unter ande­rem auch in der Kir­che. Nach­dem die Gesta­po den gehei­lig­ten Zufluchts­ort ‚Kir­che‘ gestürmt und die dort gefun­de­nen Juden depor­tiert hat­te, bil­de­te sich spon­tan im Dorf Gil­le­le­je ein soge­nann­tes ‚Juden­ko­mi­tee‘ aus zehn Bür­gern. Las­sen wir Bo Lide­gaard erzäh­len: „Es lie­gen meh­re­re spä­te­re Berich­te über die Debat­ten die­ser selbst ernann­ten Akti­ons­grup­pe vor, und es ist wirk­lich erwäh­nens­wert, was die­se Män­ner antrieb: Für sie stand der Ruf von ganz Gil­le­le­je auf dem Spiel, die Ehre ihres Gemein­de­rats und die aller Bür­ger. ‚In die­sen Tagen wird in die­sem Ort Geschich­te geschrie­ben wer­den‘ erklär­te der Schul­rat an die­sem Mor­gen und die Grup­pe nick­te, uni­so­no über­zeugt, dazu aus­er­se­hen wor­den zu sein, sich zu erhe­ben und ihren Teil zu dem Kampf bei­zu­tra­gen, der bis­lang so fern von ihrem Dorf statt­ge­fun­den hat­te. Es gab auch nicht die gerings­te Unstim­mig­keit hin­sicht­lich der Auf­ga­be, die ihnen nun zufiel: die Juden, die von der Gesta­po in der ver­gan­ge­nen Nacht nicht auf­ge­spürt wor­den waren, muss­ten geret­tet wer­den, kos­te es, was es wol­le. Zuerst ein­mal muss­te man sie aus dem Dorf fort­brin­gen, dann genü­gend Nah­rung für jeden orga­ni­sie­ren und schließ­lich für sys­te­ma­tisch orga­ni­sier­te Trans­fers nach Schwe­den sor­gen. … All das muss­te bin­nen Stun­den gesche­hen, trotz der Unge­wiss­heit, was die Gesta­po als Nächs­tes plan­te. Tat­säch­lich schei­nen die an die­ser Ver­schwö­rung betei­lig­ten Män­ner kei­nen Gedan­ken an das Schick­sal ver­schwen­det zu haben, das ihnen selbst droh­te (Her­vorh. von mir, B.B.), falls ihre Absicht auf­flog. Sie haben dar­auf gebaut, dass kein Mit­glied ihrer Gemein­de sie ver­ra­ten wür­de – weder sie noch die Hun­der­te von Juden, die sich noch immer auf fast jedes Haus und jeden Stall ver­teilt ver­steck­ten. … Die­se Män­ner waren weder jung noch poli­tisch beson­ders enga­giert, und schon gar nicht zähl­ten sie zur poli­ti­schen Extre­me. … Sie waren, einer wie der ande­re, Lokal­pa­trio­ten und aner­kann­te Mit­glie­der ihrer klei­nen Gemein­de … Kei­ner die­ser Män­ner hat­te je zuvor die Büh­ne der Geschich­te betre­ten, und kei­ner von ihnen soll­te jemals wie­der auf ihr ste­hen. Sie wur­den ein­zig und allein von der Über­zeu­gung gelei­tet, dass die Lage sofor­ti­ges Han­deln erfor­der­te, und dass nie­mand bes­ser in der Lage war als sie selbst, die Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men für das, was nun nötig war. … Mit einem Mal erschien es ihnen zwin­gend, das Heft in die Hand zu neh­men und der Welt zu demons­trie­ren, dass Gil­le­le­je nicht bereit war, Mit­schuld an einem Ver­bre­chen zu tra­gen, son­dern mit aller Macht ver­su­chen woll­te, dem Unrecht Ein­halt zu gebie­ten. … Es gab kei­ne Mög­lich­keit, ein­fach weg­zu­se­hen und so zu tun, als wis­se man von nichts. Nie­mand war so taub, dass er das Klop­fen an der Tür und das Fle­hen um Hil­fe nicht hören konn­te. Wenn denn all das, wor­an die christ­li­chen Bür­ger von Gil­le­le­je glaub­ten, all das, was ihnen von ihrem Pas­tor in der Kir­che gepre­digt wur­de, auch nur den gerings­ten Sinn haben soll­te, dann war dies der Moment, in dem sie sich ver­eint erhe­ben muss­ten. Täten sie es nicht, dann stün­de nicht nur der Ruf ihres Dor­fes auf dem Spiel, son­dern auch die gesam­te Gesell­schafts­ord­nung, die jene zehn Män­ner auf ihre jeweils eige­ne Wei­se reprä­sen­tier­ten, und die Demo­kra­tie, auf die sie ein­ge­schwo­ren waren, und der Respekt für jeden ein­zel­nen Men­schen, auf dem die­se Demo­kra­tie beruh­te.“ Bo Lide­gaard, Die Aus­nah­me, Okto­ber 1943: Wie die däni­schen Juden mit­hil­fe ihrer Mit­bür­ger der Ver­nich­tung ent­ka­men, Mün­chen, 2013, S. 464 f; Die däni­schen Bür­ger des Dor­fes Gil­le­le­je hat­ten ver­stan­den, dass mit der Erstür­mung des ‚hei­li­gen‘ Schutz­rau­mes der Kir­che die gesam­te Ord­nung ihres Dor­fes auf dem Spiel stand, sie haben den Schutz­raum aus der christ­li­chen Ein­gren­zung befreit, das Gesche­hen der ‚Schutz­fle­hen­den‘ poli­tisch wie­der­holt und gemein­sam die Fra­ge beant­wor­tet: Was sol­len wir mit Ihnen machen. Han­nah Are­ndt hat­te im Eich­mann­buch die Geschich­te des däni­schen Wider­stan­des allen Stu­den­ten der poli­ti­schen Wis­sen­schaft als Pflicht­lek­tü­re emp­foh­len - es ist bezeich­nend, dass das Buch von Hart­vig Frisch bis heu­te nicht ein­mal als eng­li­sche Über­set­zung vor­liegt, von einer deut­schen gar nicht zu reden.]

Aber auch die ande­ren, Han­nah Are­ndt gegen­über durch­aus wohl­ge­son­ne­nen, kom­men irgend­wie von Eich­mann, ob nun als Inkar­na­ti­on oder Bana­li­tät des Bösen, nicht los. Einer gän­gi­gen Ein­schät­zung nach, soll Are­ndt so erschüt­tert von den Reak­tio­nen auf ihr Eich­mann­buch gewe­sen sein, dass die Vor­le­sung so etwas wie eine dar­aus erwach­se­ne not­wen­di­ge Selbst­ver­stän­di­gung sein soll. Geht es bei Han­nah Are­ndt um das Selbst? Es liegt wohl an die­ser selt­sa­men Ein­schät­zung, dass die Über­set­ze­rin und Her­aus­ge­be­rin, Frau Ursu­la Ludz, einer die­ser ‚Piper­schen Pro­pa­gan­daideen‘ erle­gen ist und der Eigen­mäch­tig­keit des deut­schen Titels ‚Über das Böse‘ zuge­stimmt hat. Las­sen Sie uns also bes­ser auf den Text, als auf den Ver­le­ger hören. Von wel­cher Erschüt­te­rung spricht denn die Quelle?

Han­nah Are­ndt beginnt 1965 ihre Vor­le­sung mit Win­s­ton Chur­chill. Sie hebt ihn für Ihre Gegen­wart als den größ­ten Staats­mann her­vor, grö­ßer als ande­re Staats­män­ner des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts. Ken­ne­dy wur­de zwei Jah­re zuvor umge­bracht, Roo­se­velt, Wil­son, Ghan­di oder ganz ande­re könn­ten ja durch­aus auch Anspruch auf die­sen Titel gel­tend machen. In gewis­ser Wei­se kann man auch Sta­lin und Hit­ler Grö­ße, sofern man Grö­ße auf den Ein­fluss auf ande­re oder die Höhe des Lei­chen­ber­ges bezieht, nicht ganz abspre­chen. Aber die­se Namen wer­den nicht genannt. Han­nah Are­ndt beginnt mit Churchill.[6. Man möge mir die Pene­tranz, mit der ich auf die­sem Punkt her­um­rei­te, ver­zei­hen. Es ist eigent­lich nicht mei­ne Art. Es ist mehr eine Reak­ti­on auf die Erfah­rung, dass so vie­le vor die­sem Anfang davon­lau­fen. Man möch­te ein Seil neh­men, sie ein­fan­gen und wie­der zurück bin­den.] War­um Chur­chill? Was ist das Exem­pla­ri­sche an Chur­chill, wes­we­gen sie aus­ge­rech­net eine Vor­le­sung über Moral­phi­lo­so­phie mit ihm beginnt, denn zu den nam­haf­ten Moral­phi­lo­so­phen wür­de man Chur­chill ja nicht unbe­dingt zurech­nen. Auch aus der Hin­sicht derer, die Gut-sein-wol­len, lässt sich Win­s­ton Chur­chill schwer­lich als leuch­ten­des Vor­bild mora­li­scher Erha­ben­heit hin­stel­len, man den­ke nur an sei­ne etwas dubio­se Rol­le in der Aus­ein­an­der­set­zung um den Unter­gang des Pas­sa­gier­damp­fers RMS Lusi­ta­nia. Was also macht sei­ne Grö­ße hier aus?

Da gibt es ein­mal die Grö­ße, ‚die nie enden­de Bemü­hung, der Bes­te von allen zu sein‘, als Rang­ord­nung in der Gale­rie der Gro­ßen, als Unter­schied in der Grö­ße im Hin­blick auf ein bestimm­tes Ide­al von Grö­ße über­haupt, jene ‚zeit­lo­se Höhe des mensch­li­chen Geis­tes‘, die Are­ndt auch erwähnt. Etwas despek­tier­lich könn­te man es als Per­spek­ti­ve einer musea­len Zur­schau­stel­lung bezeich­nen. Aber das ist hier nicht der ent­schei­den­de Punkt, den Han­nah Are­ndt unse­rer Acht­sam­keit nahe brin­gen will. Nicht nur grö­ßer als, son­dern der Größ­te: Über einen zwei­ten Super­la­tiv stellt ihr Text den ‚größ­ten Staats­mann, den unser Jahr­hun­dert bis­her hat­te‘ mit der ‚ver­zwei­fels­ten Kri­se‘ in einen ganz außer­ge­wöhn­li­chen Bezug, eine Kon­stel­la­ti­on, die eine machiavell‘sche Stim­me her­vor­ruft, eine Stim­me, die man, hört man nicht acht­sam genug hin, leicht über­hö­ren kann, die jedoch gera­de an die­sem Anfang die alles ent­schei­den­de Stim­me ist.

For­tu­na hat es zufäl­lig doch noch gut mit uns gemeint, und uns in unse­rem Schick­sal der ver­zwei­fels­ten Kri­se einen geschickt, des­sen Vir­tuo­si­tät (vir­tu) mitt­ler­wei­le so sel­ten gewor­den ist, dass man den Ein­druck hat, er sei von einem ande­ren Jahr­hun­dert eigens des­halb zu uns ver­schla­gen wor­den, um uns in unse­rer Zeit höchs­ter Gefähr­dung als Gefähr­te bei­zu­ste­hen. Es geht nicht um die Größe[7. vgl. zu ‚Grö­ße‘ Are­ndts Aus­füh­run­gen in ‚Natur und Geschich­te‘ in: Zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Zukunft, Übun­gen im poli­ti­schen Den­ken I, Mün­chen, Zürich, 1994, S. 60ff.] des Staats­man­nes allein und auch nicht nur um die größ­te Kri­se, die wir dann irgend­wie öko­no­misch, his­to­risch, ratio­nal weg­er­klä­ren kön­nen, indem wir sie in einen geschicht­li­chen Gesamtzusammen­hang ein­sor­tie­ren, son­dern um die­ses Ver­hält­nis als Ver­hält­nis, als ein ganz beson­de­res Ver­hält­nis, an dem ganz kurz etwas auf­blitzt, das nicht ver­gan­gen, aber, vor allem im west­li­chen Kon­ti­nen­tal­eu­ro­pa, weit­ge­hend ver­schwun­den ist. „Vir­tu“ ist nie ohne „for­tu­na“ und „for­tu­na“ gibt es nicht ohne „vir­tu“, wer „for­tu­na“ hat, dem spielt die Welt ihre Bäl­le als Chan­cen zu, damit er sie auf­fan­ge und mit ihnen jon­glie­re; wer „vir­tu“ hat, dem hat sich die Welt in der „for­tu­na“ geöff­net und bie­te ihm ihre Chan­cen an, schreibt Han­nah Are­ndt in ‚Was ist Auto­ri­tät‘. Bäl­le der Welt kann aber nur auf­fan­gen, wer ihr zuge­neigt ist, wer wenigs­tens ein Fens­ter zur Stra­ße offen hat und, bes­ser noch, wer sich ohne Gestell mit offe­nen Hän­den in einer auch von den ande­ren mit gehal­te­nen Welt auf­hal­ten kann.

Die Grö­ße Chur­chills bemisst sich in einer Hin­sicht in dem Abstand, dem Rang­un­ter­schied, den er zu dem ein­nimmt, was Are­ndt ‚Zeit­geist‘ nennt, denn im Unter­schied zu die­sem, der sich in ‚Kli­schees, gän­gi­gen Rede­wen­dun­gen, kon­ven­tio­nel­len, stan­dar­di­sier­ten Kodi­ces vor der Wirk­lich­keit schützt, kann Chur­chill sich den Tat­sa­chen in einer wider­ste­hen­den Wei­se kon­fron­tie­ren, in einer Wei­se kon­fron­tie­ren, die Zol­tán Szankay uns mit einem Wort von Ernes­to Laclau ver­deut­licht hat. „To under­stand social rea­li­ty, then, is not to under­stand what socie­ty is, but what pre­vents it from being.“

Are­ndt zitiert eine Stel­le aus Chur­chills ‚My ear­ly Life‘, 1930 her­aus­ge­kom­men: „Kaum etwas von den Din­gen, den ein­ge­rich­te­ten oder schon lan­ge bestehen­den, von denen man mir bei­brach­te, sie für dau­er­haft und lebens­not­wen­dig zu hal­ten, hat über­dau­ert. Nahe­zu alles, von dem sowohl ich, als auch die­je­ni­gen, die es mich so anzu­se­hen lehr­ten, sicher waren, dass es unmög­lich gesche­hen kann, hat sich den­noch ereignet.“[8. vgl. Are­ndt, Über das Böse, S. 10. „Scar­ce­ly any­thing, mate­ri­al or estab­lished, which I was brought up to belie­ve was per­ma­nent and vital, has las­ted. Ever­y­thing I was sure, or was taught to be sure, was impos­si­ble, has hap­pen­ed.“ Das von der Her­aus­ge­be­rin nicht nach­ge­wie­se­ne Zitat lau­tet in der deut­schen Über­set­zung von Dago­bert von Mikusch: „Kaum irgend etwas in geis­ti­ger oder mate­ri­el­ler Bezie­hung, das als fest­ste­hend, unver­rück­bar und unver­lier­bar anzu­se­hen mir bei­gebracht wur­de, hat stand­ge­hal­ten. Alles das ist ein­ge­tre­ten, was mir als schlecht­hin unmög­lich erschien oder was ich für unmög­lich zu hal­ten gelehrt wur­de.“ Mei­ne Frü­hen Jah­re, Zürich, 1965, S. 128; sie­he auch die Ein­tra­gung im Denk­ta­ge­buch , S. 638.] (Über­set­zung von mir, B.B.) Die Wahr­neh­mung als sol­che, dass nichts mehr so ist, wie es einst gewe­sen, ist nicht das Exem­pla­ri­sche an Chur­chill, auch ande­re auf­merk­sa­me Geis­ter der Zeit regis­trier­ten durch­aus die epo­cha­len Erschütterungen.[9. vgl. Pfeil ins Blaue, S. 141: „Um 1922 wur­de mein Vater der Kom­pa­gnon eines alten Wie­ner Tex­til­im­por­teurs. Nach mei­nes Vaters Gewohn­heit, Geschäf­te auf ‚ame­ri­ka­ni­sche‘ Art zu täti­gen, wur­de kein geschrie­be­ner Ver­trag aus­ge­fer­tigt und alles auf gegen­sei­ti­gem Ver­trau­en auf­ge­baut. Doch dies waren die Jah­re der öster­rei­chi­schen Infla­ti­on, als acht­ba­re Haus­frau­en sich pro­sti­tu­ier­ten, um ihre Fami­li­en über Was­ser zu hal­ten und acht­ba­re Häu­ser Devi­sen­spe­ku­la­tio­nen betrie­ben. Aus die­sem Hexen­sab­bat, der den zen­tral­eu­ro­päi­schen Mit­tel­stand für immer an Leib und See­le zer­stör­te, erwuch­sen die Dämp­fe der tota­li­tä­ren Ideo­lo­gien; es war der Anfang vom Ende im Donau-Becken und öst­lich des Rheins. Kein Wun­der, dass Herr W., Spross meh­re­rer Gene­ra­tio­nen von ange­se­he­nen Kauf­leu­ten, den Hexen­be­sen bestieg und mei­nen arg­lo­sen Vater betrog.“ Man beach­te auch die Spur des gegen­sei­ti­gen Ver­spre­chens, die sich in der For­mu­lie­rung ‚Geschäf­te auf ame­ri­ka­ni­sche Art‘ erhal­ten hat. Koest­ler schreibt dies bereits aus der Rück­schau. Im Moment des Gegen­wär­ti­gen, flüch­te­te er wie vie­le ande­re in die Ideo­lo­gie als ver­de­cken­de Illu­si­on. Vgl. auch die beein­dru­cken­de Schil­de­rung von Sebas­ti­an Haff­ner über den Zusam­men­bruch der alt­ehr­wür­di­gen Insti­tu­ti­on des Ber­li­ner Kam­mer­ge­richts in „Geschich­te eines Deut­schen, Die Erin­ne­run­gen 1914 – 1933, Stutt­gart-Mün­chen, 2001, S. 148ff, insb. S. 181: „Es war nicht nur das Kam­mer­ge­richt, von dem ich damals Abschied zu neh­men hat­te. »Abschied« war die Paro­le gewor­den – durch­ge­hend, radi­kal und aus­nahms­los. Die Welt, in der ich gelebt hat­te, lös­te sich auf, ver­schwand, wur­de unsicht­bar, täg­lich und selbst­ver­ständ­lich, in aller Laut­lo­sig­keit.“ Im ‚Laut­lo­sen‘ hören wir gera­de das, was wir nicht hören - man spricht nicht dar­über, auch Haff­ner geht, bedrückt und nie­der­ge­schla­gen, nur mit sich selbst im stil­len Zwie­ge­spräch, nach Hau­se.] Chur­chill aber flüch­tet nicht und hält dem Blick in das Abgrün­di­ge - mit lachen­dem Mut - stand. Chur­chill hat­te früh­zei­tig etwas wahr­ge­nom­men, was eini­ge Jah­re spä­ter Zyg­munt Bau­mann so aus­drück­te: „Der Holo­caust war kein Bild an der Wand, son­dern ein Fens­ter, durch das Din­ge sicht­bar wur­den, die nor­ma­ler­wei­se unent­deckt blei­ben. Und was zum Vor­schein kam, geht nicht nur die Urhe­ber, die Opfer und die Zeu­gen des Ver­bre­chens etwas an, son­dern ist von größ­ter Bedeu­tung für alle, die heu­te leben und auch in Zukunft leben wol­len. Der Blick durch die­ses Fens­ter ver­stör­te mich zutiefst, aber je bedrück­ter ich wur­de, des­to mehr wuchs in mir die Über­zeu­gung, dass es äußerst gefähr­lich ist, die­sen Blick nicht zu tun.“[10. Bau­mann, Zyg­munt: Dia­lek­tik der Ord­nung, S. 8.] Es ist daher nur kon­se­quent, dass eine Erwäh­nung Chur­chills in ‚Ele­men­te und Ursprün­ge tota­ler Herr­schaft‘ ihn mit der ein­zi­gen ech­ten poli­ti­schen Neu­grün­dung des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts in Ver­bin­dung bringt. Denn anders als der Kon­ti­nent wuss­te ‚Eng­land Ver­dienst und Glück zu verketten.[11. vgl. Are­ndt, Han­nah: Ele­men­te und Ursprün­ge tota­ler Herr­schaft, S. 357; in der Wen­dung ‚Ver­ket­tung von Ver­dienst und Glück‘, hört man Goe­thes Ver­si­on von Machia­vel­lis ‚vir­tu und for­tu­na‘.] Haben wir Kon­ti­nen­ta­len also unse­re poli­ti­sche Lek­ti­on über­haupt schon gelernt?

Are­ndt beginnt ihre Vor­le­sung mit Chur­chill, weil der Ein­bruch von etwas Rea­lem in die Erfah­rung einen Zeu­gen und Bericht­erstat­ter benö­tigt, einen, der dem Ein­bruch stand­hält und, ver­ste­hend, was auf dem Spiel steht, die­se Erfah­rung als Wirk­lich­keit in die Welt der Sterb­li­chen durch sein Sagen was ist, über­trägt. Das Wirk­li­che ist erst wirk­lich durch die­ses über­tra­gen­de ‚es den ande­ren berich­ten‘. Are­ndt unter­schei­det den ‚poli­ti­schen‘ Bericht­erstat­ter sowohl vom ‚phi­lo­so­phi­schen Wahr­heits­sa­ger‘ als auch vom ‚reli­giö­sen Offen­ba­rungs­ver­kün­der‘ und sie unter­schei­det dar­über hin­aus Wirk­lich­keit von Rea­li­tät, denn zur gemein­sam mit ande­ren geteil­ten Rea­li­tät kann der Wirk­lich­keits­über­trag des Boten erst wer­den, wenn wir mit ande­ren auf ihn hören und ihn als gemein­sa­me Rea­li­tät anerkennen.[12. vgl. „Denn die Wirk­lich­keit, in der wir leben, bedarf, wenn ihr Ein­fluss auf uns den Augen­blick der leben­di­gen Erfah­rung über­dau­ern soll, der Spra­che, sie bedarf der Rede und des Mit­tei­lens, der Kom­mu­ni­ka­ti­on mit ande­ren, um als Rea­li­tät bestehen zu blei­ben.“, Die unga­ri­sche Revo­lu­ti­on und der tota­li­tä­re Impe­ria­lis­mus, In der Gegen­wart, Mün­chen, 2012, S. 98.]Was aber die­se uns zuge­spro­che­ne Wirk­lich­keit uns bedeu­tet, das ist eine ganz ande­re, aus­ge­spro­chen strit­ti­ge Fra­ge. Churchill’s Sagen was ist, ist für uns die Quel­le der schock­haf­ten Erfah­rung, dass zwei­tau­send­fünf­hun­dert Jah­re Moral­phi­lo­so­phie über Nacht nackt daste­hen, dass Moral nichts anders ist als mores, etwas wie Tisch­sit­ten, die jeder­zeit und ohne Mühe durch ande­re Sit­ten ersetzt wer­den kön­nen. Was wir bis­lang ganz selbst­ver­ständ­lich als halt­ge­ben­de Ori­en­tie­rung unse­res Han­delns ange­nom­men haben, ist über Nacht anders gewor­den und Chur­chill ist die­se Quel­le in einem ganz prä­zi­sen, gegen­wär­ti­gen und wahr­haf­ti­gen Sin­ne. Chur­chills exem­pla­ri­sche Grö­ße, sei­ne her­vor­ra­gen­de Vir­tuo­si­tät als Bote die­ser Erfah­rung ist der Dreh- und Angel­punkt der Vor­le­sung, was es um so denk­wür­di­ger macht, dass man sei­ner nicht ein­mal erwähnt. Ohne ihn macht näm­lich die gan­ze Vor­le­sung gar kei­nen Sinn.[13. Wie unge­wöhn­lich das blo­ße Sagen des­sen, was ist, inzwi­schen gewor­den ist, zeigt sich auch noch an einer ande­ren ver­le­ge­ri­schen Fehl­ent­schei­dung. Timo­thy Gar­ton Ash nann­te sei­ne erzäh­len­den Berich­te aus den Zen­tren Mit­tel­eu­ro­pas in der Zeit der poli­ti­schen Auf­brü­che ‚Histo­ry of the Pre­sent‘, wor­aus, erheb­lich ver­schlimm­bes­sert, im Deut­schen, ‚Zeit der Frei­heit‘ gemacht wur­de. Ganz bewusst gegen die gän­gi­ge Vor­stel­lung der His­to­ri­ker­zunft, mit Geschich­te kön­ne man erst anfan­gen, wenn alles längst ver­gan­gen ist und Staub in den Archi­ven ange­setzt hat, ver­weist Timo­thy Gar­ton Ash in sei­ner Ein­lei­tung auf den hoch­ge­lehr­ten Ideen­ge­schicht­ler Rein­hart Koselleck, der bemerkt hat, das es von Thuky­di­des bis weit ins 18. Jahr­hun­dert hin­ein ‚gera­de der Augen­zeu­ge oder bes­ser noch der an den Ereig­nis­sen unmit­tel­bar Betei­lig­te war, der sich beson­ders als Geschichts­schrei­ber qua­li­fi­zier­te‘.] Hat­te nicht gera­de Han­nah Are­ndt uns immer wie­der auf die her­vor­ra­gen­de Bedeu­tung des Anfangs auf­merk­sam gemacht? Was bedeu­tet es, das man gera­de hier, an die­ser Stel­le, die­sen Anfang so kon­se­quent miss­ach­tet? Steckt viel­leicht gar mehr dahin­ter? Han­nah Are­ndt beginnt mit Win­s­ton Chur­chill, „um auf die auch hier (Her­vorh. von mir, B.B.) dahin­ter oder dar­un­ter lie­gen­den Erfah­run­gen auf­merk­sam zu machen.“[14. Über das Böse, S. 10.] Das hier dar­un­ter­lie­gen­de ist aber etwas gänz­lich ande­res, als das car­te­si­sche, sei­ner Selbst-Gewiss­heit nach­stel­len­de Subjekt.

Aus Chur­chills Erfah­rung hören wir, das macht jenen Aspekt der Grö­ße aus, die als Tugen­den der Ver­gan­gen­heit hier kurz auf­blit­zen, eine Sor­ge um die Sta­bi­li­tät und Dau­er­haf­tig­keit der Welt, eine Sor­ge, die in vor­re­vo­lu­tio­nä­ren Zei­ten, wie Han­nah Are­ndt in ‚Über die Revo­lu­ti­on‘ brei­ter aus­führt, noch weit ver­brei­tet war, eine Sor­ge, wel­che maß­ge­bend die poli­ti­schen Anstren­gun­gen der Grün­der­vä­ter der Ame­ri­ka­ni­schen Repu­blik ange­lei­tet hat, eine Sor­ge, die hin­ge­gen in Kon­ti­nen­tal­eu­ro­pa nach der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on hin­ter einem Fort­schritts­den­ken ver­schwand, das sich immer wei­ter von der Gegen­wart ent­fern­te und sei­ne Heils-Hoff­nun­gen auf illu­sio­nä­re Zukunf­ten verschob.

Wir sind noch nicht sehr weit im Text fort­ge­schrit­ten. Wen­den wir uns noch ein­mal zurück an den Teil vor dem Anfang und reka­pi­tu­lie­ren den Titel, den Han­nah Are­ndt für die­se Vor­le­sung fest­ge­legt hat: Some Ques­ti­ons of Moral Phi­lo­so­phy. Das ent­schei­den­de Wört­chen ist hier „of“, denn durch die­ses ‚of‘ ent­steht eine gewis­se Span­nung zwi­schen dem Ori­gi­nal­ti­tel der Vor­le­sung und der Tat­sa­che, dass die­se Vor­le­sung mit Win­s­ton Churchill’s Erfah­rung beginnt, eine Span­nung zwi­schen der Sor­ge um die Sta­bi­li­tät und Dau­er­haf­tig­keit der Welt auf der einen und den Fra­gen und Pro­ble­men, mit denen sich die Moral-Phi­lo­so­phie beschäf­tigt, auf der ande­ren Sei­te. All das leicht­fer­ti­ge Gere­de über Roh­fas­sung, Unsys­te­ma­tik und der­glei­chen, ist hier ganz fehl am Plat­ze und nur dem geschul­det, dass man den roten Faden nicht fin­det, weil man schon den Anfang ver­fehlt hat. Die Span­nung zwi­schen Titel und Anfang der Vor­le­sung mar­kiert prä­zi­se jenen Ort, von dem her sich die Tex­te Han­nah Are­ndts ent­fal­ten, jene bis an ‚Feind­se­lig­keit gren­zen­de Span­nung zwi­schen Phi­lo­so­phie und Poli­tik‘, die wie ein Fluch auf der abend­län­di­schen Geschich­te lastet.[15. vgl. Über die Revo­lu­ti­on, Fuß­no­te 1 zum 6. Kapi­tel, S. 395. Man kann sol­che und ähn­li­che Zita­te nicht oft genug jenen Igno­ran­ten vor­hal­ten, die gedan­ken­los Han­nah Are­ndt in eine schein­bar unge­bro­che­ne Tra­di­ti­on ‚poli­ti­scher Phi­lo­so­phie‘ ein­rei­hen wol­len. Han­nah Are­ndt ist dage­gen sehr deut­lich: Die poli­ti­sche Phi­lo­so­phie beginnt nach Sokra­tes Tod mit Pla­ton und Aris­to­te­les und sie fin­det, trotz aller mehr oder weni­ger ver­zwei­fel­ter Umkeh­run­gen mit Marx ihr defi­ni­ti­ves Ende. Alle Pfa­de, die mit den Mit­teln die­ser Tra­di­ti­on poli­tisch beschrit­ten wor­den sind, haben im Ter­ror oder der Tyran­nei geendet.„Es muss etwas fun­da­men­tal Fal­sches in aller poli­ti­schen Phi­lo­so­phie ste­cken.“ (Denk­ta­ge­buch, I, S. 253).]

Chur­chills Bericht teilt uns schon 1930 mit, dass alles, was wir seit mehr als zwei­tau­send­fünf­hun­dert Jah­ren ganz selbst­ver­ständ­lich über Moral zu wis­sen glaub­ten, ‚ohne Vor­war­nung über Nacht‘ zusam­men­ge­bro­chen ist. Wäh­rend wir uns seit fast ewi­gen Zei­ten fest dar­auf ver­las­sen haben, das uns die gött­li­che Stim­me des Gewis­sens oder die uni­ver­sel­le Stim­me der Ver­nunft in ver­zwei­fel­ten Kri­sen schon sagen wer­den, was wir tun sol­len, fällt das erha­be­ne und schein­bar fest­ge­füg­te Gebäu­de der Moral­phi­lo­so­phie urplötz­lich in sich zusam­men, Moral steht gänz­lich ohne phi­lo­so­phi­sche Klei­der ganz nackt da und erweist sich in Momen­ten beson­de­rer Sicht­bar­keit in aller Öffent­lich­keit als das, was es vor der Phi­lo­so­phie war, eben nichts wei­ter als ‚mores‘. Der gan­ze phi­lo­so­phi­sche Auf­putz, die gan­ze Erha­ben­heit ist plötz­lich ver­schwun­den, Moral besteht nur aus ein paar Gebräu­chen und Kon­ven­tio­nen, die jeder­zeit und belie­big änder­bar sind[16. Gegen die auch in der Are­ndt Gemein­de noch weit­ver­brei­te­te Mei­nung, dass gera­de bei den Tätern ein völ­li­ger Zusam­men­bruch der Moral statt­ge­fun­den hät­te, greift Harald Wel­zer – vier­zig Jah­re spä­ter - Han­nah Are­ndts Ein­sicht von der Grund­lo­sig­keit der ‚mores‘ auf und schreibt, wenn auch mit zit­tern­der Feder, über den Mas­sen­mör­der und Kom­man­dan­ten von Sobi­bor und Treb­linka, Franz Stangl: „ … hat er nichts ande­res getan, als sich einer­seits im Rah­men zeit­ge­nös­si­scher nor­ma­ti­ver Stan­dards, wis­sen­schaft­li­cher Lehr­mei­nun­gen, mili­tä­ri­scher Pflicht­auf­fas­sun­gen und kano­ni­sier­ter Ehren­de­fi­ni­tio­nen zu ver­hal­ten und ande­rer­seits sich eben­so zeit­ge­nös­si­scher Defi­ni­tio­nen von mora­li­schem Ver­hal­ten zu ver­si­chern.“ Täter, Wie aus ganz nor­ma­len Men­schen Mas­sen­mör­der wer­den, S. 30.]. Die plötz­lich neue Sicht­bar­keit ermög­licht eine Rück­schau, zu Chur­chills Grö­ße gesellt sich nun auch Nietz­sche, des­sen ‚blei­ben­de Grö­ße dar­in liegt, dass er zu zei­gen wag­te, wie schä­big und bedeu­tungs­los Moral gewor­den war‘.[17. Über das Böse, S. 13.] Doch man muss hier prä­zi­se sein: zusam­men­ge­bro­chen ist nicht die Moral, wie nicht weni­ge immer noch mei­nen und sich damit der Illu­si­on hin­ge­ben, man hät­te davor eine gesi­cher­te gehabt und kön­ne auch danach wie­der eine auf Gewiss­hei­ten gegrün­de­te bekom­men. Zusam­men­ge­bro­chen ist die Moral-Phi­lo­so­phie und die Moral-Theo­lo­gie, also jene Vor­stel­lun­gen, die ver­spra­chen, man kön­ne mit außer­welt­li­chen Maß­stä­ben Welt halt­bar und sta­bil machen. Zusam­men­ge­bro­chen ist ‚nur‘ die ver­de­cken­de Hül­le, die die Phi­lo­so­phie um die Poli­tik her­um gestellt hat. Viel zu lan­ge waren wir mit Blind­heit geschla­gen und sind erst jetzt aus einem lan­gen Traum erwacht: Heu­te, das macht unse­re gegen­wär­ti­ge, ganz beson­de­re Kon­stel­la­ti­on aus, kön­nen wir bemer­ken, dass die poli­ti­sche Frag­wür­dig­keit der ‚mores‘ urplötz­lich wie­der in sei­ner vol­len Sicht­bar­keit erscheint. Könn­ten wir dann nicht ein­fach die gan­ze Moral­phi­lo­so­phie zum Fens­ter hin­aus schmei­ßen? Nicht ganz, zuvor soll­ten wir die Span­nung öffent­lich auf die Büh­ne brin­gen und den Unter­schied sicht-, und in einer Wei­se bered­bar machen, dass gemein­sam dar­über geur­teilt wer­den kann.

Han­nah Are­ndt lädt uns mit die­ser Vor­le­sung ein, das bis­lang auf­ge­scho­be­ne Gespräch mit Win­s­ton Chur­chill anzu­fan­gen. Die Ein­schät­zung Chur­chills als einer Figur aus dem 18. Jahr­hun­dert, die es nur zufäl­lig in unser Jahr­hun­dert ver­schla­gen hat, hat neben dem zeit­li­chen mehr noch einen räum­li­chen Aspekt. Wir und Chur­chill hal­ten uns nicht am sel­ben Ort auf. Um zu einem sinn­vol­len Gespräch mit ihm zu kom­men, müs­sen wir erst in Bewe­gung gera­ten und einen Zugang zu dem Ort fin­den, an dem Chur­chill noch oder schon ist. Um in Bewe­gung zu gera­ten, bedarf es eini­ger vor­be­rei­ten­der Übun­gen, von denen die ers­te das Auf­wa­chen ist. Wer schläft, bewegt sich gewöhn­lich nicht von der Stel­le. An meh­re­ren Stel­len der Vor­le­sung spricht Han­nah Are­ndt von dem mora­li­schen Pro­blem, das lan­ge im Schlum­mer gele­gen hat. Über die­se Kon­stel­la­ti­on: das schla­fen­de Pro­blem, das plötz­lich in die Sicht­bar­keit gera­ten ist, die Schla­fen­den, die die plötz­li­che Sicht­bar­keit noch nicht wahr­ha­ben und lie­ber ihren Traum fort­set­zen wol­len, sowie die ver­ein­zel­ten, bereits auf­ge­wach­ten Her­aus­ra­gen­den, deren vir­tu es for­tu­na ermög­licht, die neue Sicht­bar­keit in die Wirk­lich­keit zu tra­gen und die mehr oder weni­ger ver­zwei­felt ver­su­chen, die Schla­fen­den auf­zu­we­cken, stellt Han­nah Are­ndt im Rah­men der Span­nung zwi­schen Phi­lo­so­phie und Poli­tik eine beson­de­re Bezie­hung her zwi­schen dem mora­li­schen ‚Pro­blem‘ damals und heu­te, Chur­chill im zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert und Sokra­tes zu Beginn des Ent­ste­hens der Spannung.

Es sei kurz dar­an erin­nert, dass Chur­chill eine Samm­lung sei­ner Reden, in denen er unab­läs­sig und mit gera­de­zu bewun­derns­wer­ter Hart­nä­ckig­keit, zum Teil poli­tisch fast voll­stän­dig iso­liert seit 1932 im eng­li­schen Unter­haus gegen die ‚mora­li­schen‘ Illu­sio­nen sei­ner Lands­leu­te und vor allem sei­nes Pre­mier­mi­nis­ters vor der dro­hen­den Gefahr für die Daseins­ord­nung Groß­bri­tan­ni­ens warn­te, für den ame­ri­ka­ni­schen Markt ‚While Eng­land slept‘ beti­telt hat, Roo­se­velt hat­te das Buch auf sei­nem Nacht­tisch lie­gen und John F. Ken­ne­dy, der sich aus­führ­lich mit die­sem Buch und den dar­in ent­hal­te­nen poli­ti­schen Erfah­run­gen beschäf­tigt hat, nann­te sei­ne 1940 ver­öf­fent­lich­te Mas­ter The­sis „Why Eng­land slept“. Anders als auf dem Kon­ti­nent hat das Auf­wa­chen­de dort schon gewis­se Krei­se gezogen.

In Are­ndts Vor­le­sung geht es weder um das Böse, noch um die Täter, son­dern um die viel unheim­li­che­re Tat­sa­che, dass all die vie­len ganz gewöhn­li­chen Leu­te, die nicht aus Über­zeu­gung han­del­ten, die kei­ne Nazis waren, die sich im ’nor­ma­len‘ bür­ger­li­chen Sin­ne, erst recht im streng juris­ti­schen Sin­ne, an kei­nen straf­ba­ren Hand­lun­gen betei­lig­ten, dass sich die­je­ni­gen, die man ger­ne die ’schwei­gen­de Mehr­heit‘ nennt, eben­so gut an die Nazi-Moral anpas­sen konn­ten, wie an die ‚Rück­kehr zur Nor­ma­li­tät-Moral‘ nach 1945. Zuge­spitz­ter: Das eigent­li­che mora­li­sche Pro­blem wird nicht durch die Täter her­vor­ge­ru­fen, son­dern durch die Nicht-Täter, und viel­leicht soll­te man an die­ser Stel­le bes­ser sagen, die Nicht-Han­deln­den und Nicht-Urtei­len­den. Das eigent­lich denk­wür­di­ge Phä­no­men ist, das eine Gesell­schaft pro­blem­los von der einen Moral in die ande­re wech­selt und, nach­dem die Nazi-Moral nicht mehr all­ge­mein aner­kannt war, auch genau­so pro­blem­los wie­der zu einer libe­ra­len, tole­ran­ten, an uni­ver­sel­len Men­schen­rech­ten ori­en­tier­ten Moral zurück-keh­ren kann. Es wird gewöhn­lich über­se­hen, dass Han­nah Are­ndt hier von einem zwei­ma­li­gen tota­len Zusam­men­bruch einer mora­li­schen Ord­nung spricht, vor 1945 und von 1945 bis heu­te. Die soge­nann­te „Rück­kehr zur Nor­ma­li­tät“ ist, poli­tisch gespro­chen, ein höchst gefähr­li­ches Weiterschlafen.[18. Nichts demons­triert dies deut­li­cher, als die nur mit hohem Tabui­sie­rungs­auf­wand zu ver­drän­gen­de Tat­sa­che, dass vor unser aller Augen 1995 der ers­te Völ­ker­mord nach Ausch­witz gesche­hen konn­te, und von all jenen, die ansons­ten bei jeder Akti­on gegen rechts ihre gute Gesin­nung zur Schau tra­gen, kei­ner zu sehen und kei­ner zu hören war. Die für mich beein­dru­ckends­ten Tex­te die­ser anhal­ten­den Indif­fe­renz hat Sus­an Son­tag ver­fasst: „War­ten auf Godot in Sara­je­wo“ und „Hier und Da“, bei­des in: Wor­auf es ankommt, Frank­furt a. Main, 2007.]

Was bedeu­tet es, dass die Moral plötz­lich, und zwar zwei­mal,‘ ohne Hül­len‘ dasteht? Bezo­gen auf den Vor­le­sungs­ti­tel ‚Some Ques­ti­ons of Moral Phi­lo­so­phy‘ heißt dies nichts ande­res, als dass die Moral jetzt wie­der allei­ne dasteht, ohne die Phi­lo­so­phie, denn die­se, die mit dem Beginn der poli­ti­schen Phi­lo­so­phie lan­ge Zeit den allei­ni­gen Anspruch erho­ben hat­te, der Moral den Maß­stab vor­zu­ge­ben, hat, um im Bild zu blei­ben, die Hosen her­un­ter gelas­sen. Die Moral hat sich wie­der von der Phi­lo­so­phie getrennt. Das Band, das ent­stan­den ist, als die Phi­lo­so­phie und die Theo­lo­gie sich von der Welt und den Men­schen abson­der­ten und mit un-mensch­li­chen und un-welt­li­chen Maß­stä­ben aus der Wüs­te wie­der zurück­kehr­ten, um von nun an das Richt­maß der selbst­ver­ständ­li­chen Gewiss­heit vor­zu­ge­ben, die­ses Band ist zer­rissen. Die ‚mores‘ trei­ben rich­tungs­los den Lau­nen und Zufäl­len der Zeit aus­ge­setzt hin und her. Mores ohne Maß­stä­be wer­den maß­los, Men­schen, die sich in einer sol­chen Wüs­te auf­hal­ten, wer­den halt­los. Etwas ist völ­lig aus den Fugen geraten.Ohne Phi­lo­so­phie als maß­ge­ben­des Ele­ment sind wir in den Fra­gen des ver­fass­ten Daseins wie­der an den Anfang zurück­ge­wor­fen. ‚Some Ques­ti­ons of Moral Phi­lo­so­phie‘ heißt auch, dass uns die ohn­mäch­tig gewor­de­ne Phi­lo­so­phie die Fra­gen der Moral wie­der vor die Füße geschmis­sen hat und wir das Poli­ti­sche, das Phi­lo­so­phi­sche und den Bezug dazwi­schen erneut zu fas­sen haben. Ohne die schüt­zen­de und ver­de­cken­de Hül­le der Phi­lo­so­phie steht das Pro­blem nach zwei­tau­send­fünf­hun­dert Jah­ren hier und jetzt wie­der in aller Öffent­lich­keit nackt und sicht­bar da. Sicht­bar aller­dings nicht für jeden, son­dern nur für den, der sich neigt. Wir sind damit, jetzt und heu­te, in einer ganz beson­de­ren Situation.

Gol­dun­be­stech­lich hab ich die­ses Tribunal,
Unschuld­ver­tre­tend, zor­nes­schnell, den Schlafenden
Zur immer­wa­chen Hut des Lan­des eingesetzt
Aischy­los, Eumeniden

Von den ‚Din­gen die nicht über­dau­ert haben‘, sagt Han­nah Are­ndt, wen­det sie sich in die­ser Vor­le­sung nur den morali­schen zu. Sie qua­li­fi­ziert die mora­li­schen als jene Fra­gen, durch die wir in die Lage ver­setzt wer­den, Recht von Unrecht zu unter­schei­den, Ande­re und uns selbst zu beur­tei­len. Wir sagen ja auch: ‚etwas ist recht so‘ und mei­nen damit etwas ist so, wie es, ordent­lich gefügt, sein soll. Die für unser heu­ti­ges Ohr ver­tausch­te Reihenfolge[19. Die ver­tausch­te Rei­hen­fol­ge ver­weist als Umkeh­rung auf genau jene sokra­ti­sche ‚para­do­xe Lösung‘, mit der das Selbst erfun­den wird, und die Über­ein­stim­mung mit sich Selbst in den Vor­rang gegen­über der Über­ein­stim­mung mit ande­ren gesetzt wird. vgl. Über Das Böse, S. 70.] ist bedeut­sam: erst um Ande­re, dann uns selbst. Damit wird der Aspekt der Nei­gung in den Vor­rang gerückt. Recht von Unrecht zu unter­schei­den, wenn es um mich selbst geht, kann ich auch im ein­sa­men und stum­men Zwie­ge­spräch mit mir selbst, jeder­zeit und an jedem belie­bi­gen Ort. Recht von Unrecht unter­schei­den und dar­über zu urtei­len, sofern es um die Ande­ren oder gar um ganz bestimm­te Ande­re geht, kann ich dage­gen nur, wenn ich mich den Ande­ren zunei­ge, wenn ich für die Ande­ren ver­nehm­bar spre­che und wenn es für die­ses Spre­chen einen gesetz­ten öffent­li­chen Raum gibt, der sol­che Sprech-Orte und Sprech-Bezü­ge hal­tend ein­ge­rich­tet, insti­tu­iert hat.

Der Hor­ror in sei­nem sprach­lo­sen Ent­set­zen, hat die Wahr­neh­mung des Pro­blems noch behin­dert, es wacht aus dem Schlum­mer erst auf, wenn die Men­schen all­mäh­lich die Spra­che wie­der­fin­den und anfan­gen, mit- und über­ein­an­der zu spre­chen. Han­nah Are­ndt lenkt daher unse­re Auf­merk­sam­keit auf die Gerichts­ver­hand­lun­gen der Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­se, die, neben­bei bemerkt, maß­ge­bend von den Ame­ri­ka­nern initi­iert wur­den. Sta­lin woll­te, so wird kol­por­tiert, min­des­tens 50.000 Nazis ein­fach umbrin­gen und damit das tota­li­tä­re Modell der Säu­be­rung auf Deutsch­land über­tra­gen, Groß­bri­tan­ni­en prä­fe­rier­te zunächst eine ’napo­leo­ni­sche‘ Lösung und änder­te erst spä­ter sei­ne Meinung.

Die Hin­wen­dung zu einer Gerichts­ver­hand­lung erscheint auf den ers­ten Blick wie eine ‚unsys­te­ma­ti­sche‘ Abwei­chung, denn es soll­te doch nur um die mora­li­schen und gera­de nicht um die juris­ti­schen Din­ge gehen. Auf die durch­aus dis­kussionswürdige (man­gel­haf­te) juris­ti­sche Auf­ar­bei­tung woll­te Han­nah Are­ndt ja expli­zit gar nicht näher ein­ge­hen. Die­se Hin­wen­dung ist indes eben­so wenig bei­läu­fig, wie der Anfang mit Chur­chill zufäl­lig ist, hat sich doch in einer Gerichts­ver­hand­lung, fast unbe­scha­det von den Ver­wüs­tun­gen rund her­um, ein Ort erhal­ten, an dem all das zum Vor­schein kommt, wor­auf es, poli­tisch gespro­chen, beim Urtei­len ankommt. Die hohe Bedeut­sam­keit die­ser letz­ten übrig geblie­be­nen Oase eines öffent­li­chen Urtei­lens zeigt sich auch an einer Bemer­kung Hit­lers, die Han­nah Are­ndt hier erwähnt: ‚Hit­ler erhof­fe sich den Tag, an dem es in Deutsch­land für eine Schan­de gehal­ten wür­de, ein Jurist zu sein.‘ Auch wenn es ganz banal klin­gen mag: In einer Gerichts­ver­hand­lung wird ver­nehm­bar, im Unter­schied zu laut­los mit sich selbst, gespro­chen, das sprachlo­se Ent­set­zen löst sich zuguns­ten eines geord­ne­ten, gesetz­ten Dis­kur­ses von Ankla­ge, Ver­tei­di­gung und Urteils­spruch auf. Und es geht vor allem nicht um mich selbst, son­dern um ein Urteil über Ande­re, immer um einen oder meh­re­re ganz bestimm­te Per­so­nen, dies ver­bin­det, wie an meh­re­ren Stel­len betont wird, ein mora­li­sches Urteil mit einem juris­ti­schen. Am Ende einer Gerichts­ver­hand­lung, ter­ti­um datur, wird öffent­lich im Namen des Gemein­we­sens geurteilt.[20. Roland Bei­er bringt es fer­tig, in sei­nem gesam­ten Essay über das Urtei­len bei Han­nah Are­ndt an kei­ner ein­zi­gen Stel­le mit der Gerichts­ver­hand­lung den letz­ten übrig geblie­be­nen Ort eines öffent­li­chen Urteils zu erwäh­nen. So rui­niert er noch die letz­te der Oasen, um eine For­mu­lie­rung aus dem Denk­ta­ge­buch auf­zu­grei­fen: „Durch die Flucht aus der Poli­tik ver­schlep­pen wir die Wüs­te über­all hin – Reli­gi­on, Phi­lo­so­phie, Kunst. Wir rui­nie­ren die Oasen.“ (Denk­ta­ge­buch I, S. 524). Als ob es Han­nah Are­ndt jemals dar­um gegan­gen wäre, eine abschlie­ßen­de phi­lo­so­phi­sche Sys­te­ma­tik der Geis­tes­ver­mö­gen vor­zu­le­gen.] Je höher die poli­ti­sche Bedeu­tung des Gerichts, des­to sel­te­ner urteilt nur einer, son­dern meis­tens meh­re­re, und die­se auch nicht als Herr Mei­er und Frau Schul­ze son­dern als ein ‚Wir‘ im Namen von. Und als Straf­ge­richt geht es nicht dar­um, Opfern Gerech­tig­keit wider­fah­ren zu las­sen, son­dern um den poli­ti­schen Kör­per als sol­chen, an dem etwas wie­der ins Lot gebracht wer­den muss, was aus den Fugen gera­ten ist. „Es geht um das Gesetz selbst und nicht um den Kläger.“[21. vgl. Eich­mann in Jeru­sa­lem, S. 310.]

Mores - Sit­ten, Brauch - einen neu­en Brauch anfan­gen: In einem Zitat am Ende des Eich­mann­bu­ches stellt Han­nah Are­ndt mit dem ame­ri­ka­ni­schen Chef­an­klä­ger Robert H. Jack­son eine wei­te­re exem­pla­ri­sche Per­son an die Sei­te Chur­chills, die es, was den Rang der poli­ti­schen Grö­ße nach anbe­langt, durch­aus mit ihm auf­neh­men kann. Jack­son ist näm­lich einer, der bereits mit Chur­chills ‚dahin­ter oder dar­un­ter lie­gen­der Erfah­rung‘ im Gespräch ist, er ant­wor­tet. Weil das Zitat für den den­ke­ri­schen Fort­gang der Vor­le­sung von her­aus­ra­gen­der Bedeu­tung ist, zitie­ren wie es hier in vol­ler Län­ge. Zunächst zitiert sie Jack­son, um ihn dann zu kom­men­tie­ren: „Das Völ­ker­recht ist, wie Richter[22. Der schein­ba­re Wider­spruch zwi­schen Rich­ter und Chef­an­klä­ger Jack­son rührt daher, dass Jack­son vor sei­ner Betrau­ung mit dem Auf­bau eines Gerichts­ho­fes Rich­ter am ame­ri­ka­ni­schen Supre­me Court war, jener neben dem Senat her­aus­ra­gends­ten Neu­grün­dung der ame­ri­ka­ni­schen ‚con­sti­tu­tio libe­ra­tas‘ und von die­ser Posi­ti­on für sei­ne Tätig­keit in Nürn­berg ledig­lich beur­laubt wur­de, sei­nen Titel „Jus­ti­ce“ aber behal­ten hat. In Nürn­berg selbst saß Jack­son nicht mit auf der Rich­ter­bank, son­dern fun­gier­te als Chef­an­klä­ger.] Jack­son in Nürn­berg beton­te, „aus zwi­schen­staat­li­chen Ver­trä­gen und Über­ein­künf­ten erwach­sen und aus der Aner­ken­nung bestimm­ter Bräu­che. Und jeder Brauch ist ein­mal aus einer bestimm­ten Hand­lung ent­sprun­gen … Auch wir haben das Recht, Bräu­che zu stif­ten und Über­ein­künf­te zu tref­fen, die dann ihrer­seits wie­der zu Quel­len eines neu­en und mäch­ti­ge­ren Völ­ker­rechts wer­den.“ Was Rich­ter Jack­son in die­sen Aus­füh­run­gen zu den Nürn­ber­ger Pro­zes­sen zu sagen ver­säum­te, ist, dass damit auf Grund des erst in sei­ner Ent­ste­hung begrif­fe­nen Völ­ker­rechts gewöhn­li­chen Rich­tern die Auf­ga­be auf­ge­bür­det wird, ohne die Hil­fe posi­ti­ver Geset­ze oder über die Gren­zen des gesetz­ten Rechts hin­aus Recht zu spre­chen. Der Rich­ter, der gewohnt ist, die bestehen­den Geset­ze ein­fach anzu­wen­den, gerät damit in eine miss­li­che Lage, und es ist nur zu wahr­schein­lich, dass er ein­wen­den wird, es sei nicht an ihm, den Gesetz­ge­ber zu spie­len - was Jack­son in der Tat von ihm ver­langt hat.“

Um die Grö­ße Jack­sons und die Bedeu­tung der damit ein­her­ge­hen­den ame­ri­ka­ni­schen Rück­kehr eines repu­bli­ka­ni­schen Moments ange­mes­sen beur­tei­len zu kön­nen, kom­men wir um eine wenigs­tens kur­ze Vor­ge­schich­te und eine Erwei­te­rung des Kon­tex­tes nicht ganz her­um. Zunächst zur Vor­ge­schich­te: Die meis­ten Rechts­sys­te­me ken­nen den Begriff des Haus­frie­dens­bruchs. Wer in unse­rem eige­nen Haus das Gast­recht ver­letzt und den Haus­frie­den bedroht, dem wei­sen wir die Tür und geht er nicht von selbst, las­sen wir ihn holen. Im all­ge­mei­nen jedoch wird in einem pri­va­ten Haus die Fra­ge, was Recht und Unrecht ist, nicht von allen Betei­lig­ten gleich­be­rech­tigt, ent­schie­den. Anders dage­gen schon beim Land­frie­dens­bruch als Bedro­hung bestimm­ter öffent­li­cher Räu­me, der sich ursprüng­lich von dem mit­tel­al­ter­li­chen ‚con­sti­tu­tio pacis‘ her­lei­tet, und auf ver­trag­li­chen Ver­ein­ba­run­gen beruht, dass die Macht­trä­ger zur Rege­lung ihrer Ange­le­gen­hei­ten auf den Ein­satz von Gewalt ver­zich­ten. Erst im Zuge einer Sou­ve­rä­ni­sie­rung der poli­ti­schen Ord­nun­gen in bestimm­ten euro­päi­schen Räu­men ver­schiebt sich die Bedeu­tung vom Land­frie­dens­bruch in Rich­tung einer von oben als Dis­zi­pli­nie­rungs­in­stru­ment frei­heits­sin­ni­ger Bür­ger genutz­ten Straf­maß­nah­me. Die poli­ti­schen Ver­su­che, den Welt­frie­den durch ver­trag­li­che Ver­ein­ba­run­gen dau­er­haft zu hal­ten, gibt es seit dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg. Bis­lang hat­ten sich aller­dings, vor allem nicht die „Sou­ve­rä­ne“ an das gehal­ten, was Han­nah Are­ndt als das ein­zi­ge mora­li­sche, weil gewis­ser­ma­ßen vor-poli­ti­sche Phä­no­men cha­rak­te­ri­siert hat: das Ver­mö­gen, ande­ren ein Ver­spre­chen zu geben und es auch zu hal­ten, wor­aus dann das poli­ti­sche Phä­no­men par excel­lence ent­ste­hen kann - der Ver­trag, wes­we­gen genau an die­ser Stel­le das Zusam­men­pral­len eines nach Euro­pa zurück­ge­kehr­ten repu­bli­ka­ni­schen Moments mit der kon­ti­nen­tal­eu­ro­päi­schen Tra­di­ti­on der Sou­ve­rä­ni­tät gera­de­zu der sprin­gen­de Punkt des Nürn­ber­ger Pro­zes­ses ist.[23. vgl. „Es ist ange­führt wor­den, dass sich das Völ­ker­recht auf Hand­lun­gen sou­ve­rä­ner Staa­ten bezieht und kei­ne Bestra­fung von Ein­zel­per­so­nen vor­sieht; und wei­ter, dass dort, wo die frag­li­che Hand­lung ein Staats­akt ist, jene Per­so­nen, die sie aus­füh­ren, kei­ne eige­ne Ver­ant­wor­tung tra­gen, son­dern durch den Lehr­satz von der Sou­ve­rä­ni­tät des Staa­tes geschützt sei­en. Nach der Mei­nung des Gerichts­ho­fes müs­sen die­se bei­den Ein­wän­de zurück­ge­wie­sen wer­den. Das das Völ­ker­recht Ein­zel­per­so­nen so gut wie den Staa­ten Pflich­ten und Ver­bind­lich­kei­ten auf­er­legt, ist längst aner­kannt wor­den … Ver­bre­chen gegen das Völ­ker­recht wer­den von Men­schen und nicht von abs­trak­ten Wesen began­gen, und nur durch Bestra­fung jener Ein­zel­per­so­nen, die sol­che Ver­bre­chen bege­hen, kann den Bestim­mun­gen des Völ­ker­rechts Gel­tung ver­schafft wer­den. … Die­je­ni­gen, die sol­che Hand­lun­gen began­gen haben, kön­nen sich nicht hin­ter ihrer Amts­stel­lung ver­ste­cken, um in ordent­li­chen Gerichts­ver­fah­ren der Bestra­fung zu ent­ge­hen.“ Aus­zug aus der Urteils­be­grün­dung des Nürn­ber­ger Pro­zes­ses, zit. nach: Klaus Kast­ner, Die Völ­ker kla­gen an, Der Nürn­ber­ger Pro­zess 1945 - 1946, S. 147.]

Gegen­über der für unse­re Ohren ver­trau­ter klin­gen­den klas­si­schen mora­li­schen Fra­ge Kants „Was soll ich tun“ hört man an der Aus­gangs­fra­ge Robert H. Jack­sons „Was sol­len wir mit Ihnen machen“[24. zitiert nach: „Der Nürn­ber­ger Pro­zess. Die Ankla­ge­re­den des Haupt­an­kla­ge­ver­tre­ters der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka Robert H. Jack­son, Vor­wort des Her­aus­ge­bers Ingo Mül­ler. S. XIX, Wein­heim 1995.] zwei auf­fäl­li­ge Ver­schie­bun­gen her­aus. Zum einen ver­schiebt sich der Ort der Fra­ge vom Ich zum Wir, das wir ver­weist in die­sem kon­kre­ten Zusam­men­hang auf jene Grup­pe von Men­schen, die sich in Lon­don getrof­fen haben, um das ‚Lon­do­ner Sta­tut‘ aus­zu­ar­bei­ten und zu ver­ab­schie­den. Zum zwei­ten ver­weist das ‚mit ihnen‘ auf einen Ort, der es immer schon mit Ande­ren, in die­sem Fall mit den Taten von ganz kon­kre­ten Ande­ren zu tun hat, und der in dem „Was soll ich tun“ gera­de nicht anklingt, son­dern nur im Begriff des Geset­zes impli­zit mit­schwingt. Wäh­rend der Jeru­sa­le­mer Pro­zess schon dar­an schei­tert, dass er auf das voll­kom­men neu­ar­ti­ge Ver­bre­chen gegen die Mensch­heit, gegen die Plu­ra­li­tät von Mensch­sein als sol­chem, weder eine poli­ti­sche noch eine juris­ti­sche Ant­wort fin­det, zeigt der Nürn­ber­ger Pro­zess zunächst das Dilem­ma zwi­schen einer poli­ti­schen Ant­wort und der Gewohn­heit der Rich­ter, sich lie­ber an das Bekann­te zu hal­ten. Die­ses Dilem­ma löst sich spä­ter auf, als nach dem ers­ten Völ­ker­mord nach Ausch­witz und dem Zwi­schen­spiel eines Inter­na­tio­na­les Straf­ge­richts­hof für das ehe­ma­li­ge Jugo­sla­wi­en in Den Haag am 1. Juli 2002 ein stän­di­ger Inter­na­tio­na­ler Straf­ge­richts­hof als dau­er­haf­te Ein­rich­tung sei­ne Arbeit auf­nimmt. Es wird wohl kein Zufall sein, dass die ver­trag­li­che Grund­la­ge die­ses Inter­na­tio­na­len Straf-gerichts­ho­fes das Rom-Sta­tut ist, haben uns doch vor allem die Römer mit dem ‚pac­ta sunt ser­van­da‘ die ‚Hei­lig­keit der Ver­trä­ge‘ überliefert.

Bezo­gen auf die Aus­gangs­fra­ge, wie und wo wir öffent­lich urtei­len, wie wir vor allem über Ande­re urtei­len, und Recht von Unrecht unter­schei­den, wird die Hin­wen­dung zu einer Gerichts­ver­hand­lung aus der Sache her­aus unver­meid­bar, weil sich nur noch dort eine Tra­di­ti­on des öffent­li­chen Urtei­lens erhal­ten hat und auch nur noch dort der öffent­li­che Raum der Ver­hand­lung ein ein­ge­rich­te­ter Raum ist. Der Bei­klang von ‚einer Rich­tung‘ ist hier irre­füh­rend. Es geht gera­de nicht um das ‚eine‘, noch um ‚eine Rich­tung‘, son­dern um ein durch eine rech­te Ord­nung ermög­li­chen­des und gleich­zei­tig hal­ten­des, insti­tu­tier­tes Spre­chen für nicht einen, son­dern eine Plu­ra­li­tät von Men­schen, um gesetz­te Orte, von denen aus zu ande­ren und über ande­re gespro­chen wer­den kann. Denn ers­tens wird übli­cher­wei­se in einem Gericht gespro­chen und nicht Gewalt ange­wen­det. Zwei­tens: Es gibt meh­re­re Orte, von denen aus in meh­re­ren Rich­tun­gen in geord­net, gefüg­ter Wei­se ‚von wo aus‘ ‚zu etwas hin‘ ‚über etwas‘ gespro­chen wer­den kann. Die gesetz­ten Orte im Gerichts­raum errich­ten einen sta­bi­len und dau­er­haf­ten Bezug, der, ist es nicht ganz erstaun­lich, schon so lan­ge hält, wie es Geschich­te gibt. Im Unter­schied zu den nicht den­ken­den Objek­ti­vie­rungs­wis­sen­schaf­ten wie Sozio­lo­gie und Psy­cho­lo­gie, die jeg­li­che indi­vi­du­el­le Ver­ant­wor­tung hin­weg eska­mo­tie­ren, indem sie es zur Funk­ti­on einer deter­mi­nie­ren­den Gesell­schaft oder Geschich­te machen, ist „die Recht­spre­chung eine höchst unmo­der­ne, um nicht zu sagen: ver­al­te­te Institution.“[25. vgl. Eich­mann in Jeru­sa­lem, S. 18.]

Wie wird dort das mora­li­sche Pro­blem sicht­bar? Are­ndt fokus­siert den Blick auf eine ganz bestimm­te Per­so­nen­grup­pe, weder geht es um die Täter, deren Taten so mons­trös sind, dass sie auch jeg­li­chen juris­ti­schen Rah­men spren­gen, noch geht es um gewöhn­li­che Ver­bre­cher, die nach ganz gewöhn­li­chen Regeln beur­teilt wer­den kön­nen. Auch die ‚Sadis­ten und Per­ver­sen‘ sind in die­sem Zusam­men­hang nicht von Inter­es­se. Das Pro­blem wird erst dann sicht­bar, wenn genau die Per­so­nen vor Gericht ste­hen, die nichts wei­ter getan haben, als den an sie gesetz­ten Erwar­tun­gen zu ent­spre­chen, jene, die ein­fach nur funk­tio­nier­ten und im Rah­men ihrer Arbeit ihre Pflicht erfüllt haben. An die­sen Per­so­nen wird sicht­bar, dass ein Gericht nicht der rech­te Ort ist, um über sie zu urtei­len. Han­nah Are­ndt weist eigens dar­auf hin, ‚dass es kaum einen Berufs­stand gibt, in dem Sie Men­schen fin­den, die mora­li­schen Nor­men, ja selbst der Norm der Gerech­tig­keit, mit so viel Vor­sicht und Miss­trau­en begeg­nen wie den der Juristen.‘

Die Per­so­nen, die das Gericht aus­ma­chen, urtei­len ‚im Namen des Vol­kes‘ in juris­ti­schen Ange­le­gen­hei­ten. Wer und mehr noch wo wird dem­ge­gen­über öffent­lich ‚im Namen von‘ in mora­li­schen Ange­le­gen­hei­ten geur­teilt? Etwa in der moder­nen Öffentlichkeit?

Kon­tras­tie­rend zu der ‚ver­al­te­ten‘ Insti­tu­ti­on des Gerichts berich­tet uns Han­nah Are­ndt drei unter­schied­li­che Fäl­le, deren gemein­sa­mer Nen­ner eine auf­fäl­li­ge Span­nung zwi­schen der öffent­li­chen Mei­nung und den öffent­li­chen Urtei­len Ein­zel­ner ist. Zwei Fäl­le stam­men aus dem euro­päi­schen Kon­text, einer aus dem ame­ri­ka­ni­schen. Alle drei Fäl­le rufen einen Sturm der Ent­rüs­tung her­vor und erre­gen zum Teil bis heu­te die öffent­li­che Mei­nung. Hoch­huths Ankla­ge gegen Papst Pius XII, Han­nah Are­ndts Urteil über Adolf Eich­mann und Hans Mor­genthaus Urteil über den Lite­ra­tur­pro­fes­sor van Doren.[26. Hans Mor­genthau hat­te in einem Arti­kel im New York Times Maga­zin im Novem­ber 1959 das Ver­hal­ten des jun­gen Lite­ra­tur Pro­fes­sors Van Doren geta­delt, der sich für Geld einer auf Quo­te und Wer­be­ein­nah­men hin ori­en­tie­ren Quiz-Show ver­kauft hat­te. Die Quiz-Show war ein Betrug, weil die Fra­gen, sowie das gesam­te pro­ce­de­re vor­ab abge­spro­chen waren und nur gegen­über den Zuschau­ern der Anschein eines offe­nen Wett­be­werbs erweckt wor­den war. Ein jun­ger Anwalt, Richard N. Good­win hat­te die Sache auf­ge­deckt und als Skan­dal öffent­lich gemacht. Hans Mor­genthau nann­te das Ver­hal­ten des Pro­fes­sors ein drei­fa­ches Unrecht: „das es Unrecht war, aus Geld­grün­den zu betrü­gen, zwei­mal Unrecht, dies in geis­ti­gen Din­gen, und drei­mal, es als aka­de­mi­scher Leh­rer zu tun.“ Über Das Böse. S, 24; Han­nah Are­ndt ver­merkt, dass die ‚hei­ßes­te Empö­rung‘ nicht etwa den betrü­gen­den Lite­ra­tur­pro­fes­sor traf, son­dern aus­ge­rech­net jenen Hans Mor­genthau, der sich als Ein­zel­ner dar­über ein Urteil erlaubt hat­te. „Aus den zahl­rei­chen Brie­fen, die auf den Arti­kel ant­wor­te­ten, wur­de sehr deut­lich, dass die Öffent­lich­keit, ein­schließ­lich vie­ler Stu­den­ten, über­wie­gend der Mei­nung war, nur eine Per­son sei ein­deu­tig zu tadeln: der Mann, der urteil­te - nicht der Mann, der Unrecht getan hat­te, nicht eine Insti­tu­ti­on, nicht die Gesell­schaft im all­ge­mei­nen oder die Mas­sen­me­di­en im beson­de­ren.“ Über Das Böse S. 25.]In allen drei Fäl­len steht die Lei­den­schaft­lich­keit der Debat­te in selt­sa­men Kon­trast zu dem Pro­blem der ‚mores‘. ‚Wäh­rend man mora­li­sche Fra­gen lei­den­schaft­lich debat­tier­te, wich man ihnen gleich­zei­tig aus und ver­mied sie mit glei­chem Eifer‘, denn die ein­zi­gen, die in die­sen drei Debat­ten am Ende schul­dig gespro­chen wur­den, waren aus­ge­rech­net jene, die sich ein öffent­li­ches Urteil über eine kon­kre­te indi­vi­du­el­le Per­son erlaubt haben. Am Ende wur­den nicht die geta­delt, die Unrecht getan hat­ten, son­dern die­je­ni­gen, die urteil­ten. Are­ndt macht die­ses auf den ers­ten Blick para­do­xe Phä­no­men am Unter­schied zwi­schen dem all­ge­mei­nen und dem Beson­de­ren fest. Wäh­rend man die Fra­gen des Guten und des Bösen im all­ge­mei­nen mit gro­ßer Lei­den­schaft debat­tiert, ver­stummt die Debat­te ganz plötz­lich in dem Moment, in dem wir über eine ganz bestimm­te Per­son aus unse­rer Mit­te ein Urteil fäl­len sol­len und die sel­te­nen Exem­pla­re, sie sich ein sol­ches Urteil leis­ten, wer­den zum Stör­fak­tor, der zum Schwei­gen gebracht wer­den muss. ‚Recht­li­che und mora­li­sche Fra­gen sind kei­nes­wegs gleich­zu­set­zen, aber es ist ihnen gemein­sam, dass sie es mit Per­so­nen zu tun haben‘. Wäh­rend es aber, der Tra­di­ti­on sei Dank, noch einen ein­ge­rich­te­ten öffent­li­chen Raum für Urtei­le in juris­ti­schen Ange­le­gen­hei­ten gibt, gibt es nicht nur gar kei­nen ver­gleich­bar insti­tu­ier­ten Raum für sol­che in mora­li­schen Ange­le­gen­hei­ten, selbst Urtei­le Ein­zel­ner kön­nen kaum mehr aus­ge­spro­chen wer­den, ohne sofort hef­tigs­ten Gegen­wind zu erzeu­gen. Erst von hier aus macht die Rede des schlum­mern­den Pro­blems einen Sinn.

Wenn die selbst­ver­ständ­li­chen Gewiss­hei­ten der Moral-Phi­lo­so­phie den Ver­än­de­run­gen der ‚mores‘ kei­ner­lei Maß geben, kei­ner­lei Ein­halt gebie­ten kön­nen, wer wacht dann über die Sit­ten, über Recht und Unrecht? Was machen wir mit sol­chen, die nicht gegen das Gesetz, aber gegen Sit­te und Anstand ver­sto­ßen, was mit denen, die die Sta­bi­li­tät des Gemein­we­sens bedro­hen, was mit denen, die ihre Macht miss­brau­chen, was mit denen, die Maß und Mit­te längst nicht mehr beach­ten, den maß­los Kor­rup­ten? Sie für fünf Jah­re in die Ver­ban­nung schi­cken? Ihnen erst das Ver­mö­gen und dann die Staats­bür­ger­rech­te ent­zie­hen? Wer soll dar­über urtei­len und nach wel­chen Maß­stä­ben? Schon die­se Fra­gen erschei­nen gänz­lich fern wie aus einer ganz ande­ren Zeit. Haben wir nicht längst ver­ges­sen, dem Sinn von Sit­te über­haupt nur nach­zu­fra­gen? Schon das Wort selbst ist fast gänz­lich außer Gebrauch gera­ten und wenn über­haupt, nur noch in Rand­be­zir­ken hör­bar, wie der Poli­zei­ab­tei­lung oder der Anstands­re­gel, der älte­ren Dame im Bus den Sitz­platz frei­zu­ge­ben. Das Pro­blem aber der halt­los umher trei­ben­den ‚mores‘ ist ganz gegen­wär­tig und tag­täg­lich unheil­vol­ler sicht­bar. Wir ste­hen, wenn wir mit den Mit­teln der Tra­di­ti­on die gegen­wär­ti­gen poli­ti­schen Erfah­run­gen ver­ste­hen wol­len, mit lee­ren Hän­den da und müs­sen uns fra­gen: woher neh­men wir einen Maß­stab für ‚mores‘, wenn ihn uns die Moral-Phi­lo­so­phie nicht lie­fern kann? Hat Moral über­haupt etwas mit ‚mores‘ zu tun?
Es sei nur hier kurz ange­merkt, dass schon die ers­ten Ein­tra­gun­gen im Denk­ta­ge­buch Han­nah Are­ndts auf eine inten­si­ve Beschäf­ti­gung mit dem grie­chi­schen Sinn von ’nomos‘ hinweisen.

Das Gewis­sen weiß nichts von Recht und Unrecht. Es
ist kei­nes­wegs eine Fähig­keit des Urtei­lens oder des
Recht-von-Unrecht Unter­schei­dens. Was für eine Verwirrung!

Die sokra­ti­sche Ant­wort funk­tio­niert nicht - sie hat noch nie wirk­lich funk­tio­niert, schreibt Han­nah Are­ndt im August 1954 an ihre Freun­din Mary McCarthy.[27. vgl. Han­nah Are­ndt / Mary McCar­thy: Im Ver­trau­en, Brief­wech­sel 1949 -1975, Mün­chen 1995, S. 74.] Die Kant’sche Ant­wort auch nicht - kön­nen wir hin­zu­fü­gen, jeden­falls nicht die aus der Moral­phi­lo­so­phie Kants. Nicht nur hat uns das Gewis­sen nicht vor den Tota­li­ta­ris­men geschützt, weil die meis­ten Men­schen, die ihre Pflicht getan haben, nur eines hat­ten, das ihnen riet, sich so zu ver­hal­ten wie alle ande­ren rings um sie her­um. Auch die heu­te wie­der ver­brei­te­te Schläf­rig­keit, ein Grund­kon­sens lau­te­rer Gesin­nung kön­ne poli­tisch Gefähr­den­des ver­hü­ten, ist seit Sre­bre­ni­ca rei­ne Illu­si­on. Die weni­gen Aus­nah­men, deren inne­re Stim­me des Gewis­sens sie von Ver­bre­chen abhielt, ‚die nie dar­an gezwei­felt haben, dass Ver­bre­chen, auch wenn sie von der Regie­rung lega­li­siert waren, Ver­bre­chen blie­ben‘, waren zwar mora­lisch gese­hen in die­sen Aus­nah­me­zei­ten die ein­zi­gen zuver­läs­si­gen Men­schen, kamen aber, poli­tisch gespro­chen, über ein ver­ant­wor­tungs­lo­ses ‚Ich kann nicht‘ nicht hin­aus, weil, wie Han­nah Are­ndt betont: ‚ihr Maß­stab ist das Selbst und nicht die Welt‘.[28. Über das Böse, S. 53.] Are­ndts Ant­wort ist daher schon 1954 sehr viel radi­ka­ler. Es hat noch nie funk­tio­niert: das Gewis­sen als Ant­wort ist schon Teil des Flu­ches. Das schein­bar ewi­ge Dilem­ma zwi­schen Moral und Poli­tik ist nur ein Dilem­ma inner­halb die­ser fluch­be­la­de­nen Span­nung, oder kür­zer: das Dilem­ma ist der Fluch.

Woher kommt also die so lan­ge selbst­ver­ständ­li­che Vor­stel­lung, jeder von uns hät­te ganz unab­hän­gig von den Geset­zen des Lan­des, in dem er lebt und auch ganz unab­hän­gig von all sei­nen Mit­men­schen eine qua­si von Geburt an vor­han­de­ne Stim­me des Gewis­sens, die ihm, wenn es dar­auf ankommt, ganz ohne jeg­li­chen ande­ren und ganz ohne jeg­li­ches Bei­spiel sagt, was Recht und was Unrecht ist und war­um funk­tio­niert die­se Ant­wort nicht? Han­nah Are­ndt zieht zwei ent­schei­den­de Ein­sich­ten Machiavelli’s her­an und zeigt uns damit, war­um ‚Machia­vel­li so wich­tig für die Moralphilosophie‘[29. Über das Böse, S. 55; bei­de Ein­sich­ten spie­len schon beim Anfang der Vor­le­sung mit Chur­chill eine Rol­le, war doch der poli­ti­sche Gegen­spie­ler Chur­chills, Neville Cham­ber­lain, vor lau­ter Fixie­rung auf die Vor­stel­lung von sich selbst, als gefei­er­ter Frie­dens­stif­ter in die Geschich­te ein­zu­ge­hen, taub und blind gegen­über dem, was sich längst um ihn her­um hät­te wahr­neh­men las­sen. Es ist nicht ganz abwe­gig, an die­ser Stel­le auch an die pro­vo­kan­te For­mu­lie­rung Hei­ner Geiß­lers zu erin­nern, dass der Pazi­fis­mus der zwan­zi­ger Jah­re Ausch­witz erst mög­lich gemacht hat, und man kann anfü­gen, dass das Gut-Sein-Wol­len der neun­zi­ger Jah­re Sre­bre­ni­ca erst mög­lich gemacht hat.] ist. Zum einen jener Unter­schied zwi­schen der ‚Sor­ge um sich selbst‘ und der ‚Sor­ge um die Welt‘, sowie sei­ne, meis­tens miss­ver­stan­de­ne, Ein­sicht, dass es in der Poli­tik dar­um gehe, nicht gut zu sein.

Was wie ein Fluch auf der abend­län­di­schen Geschich­te las­tet, es las­tet ganz beson­ders auf der Geschlecht­er­fol­ge der­je­ni­gen, die Kant die Den­ker von Gewer­be nennt. Doch wie bei allen gro­ßen Den­kern, erscheint die Span­nung zwi­schen Phi­lo­so­phie und Poli­tik dem Kant­schen Text nicht äußer­lich. Han­nah Are­ndt wan­dert nicht ein­fach so durch die Phi­lo­so­phie­ge­schich­te und bricht sich mal hier, mal da die inter­es­san­ten Stü­cke her­aus, die sie dann zu einer neu­en poli­ti­schen Phi­lo­so­phie zusam­men ver­wursch­telt. Was für ein Irr­tum! Han­nah Are­ndt liest den Fluch in die Tex­te hin­ein und kann so erst auch im Text Kants jene unter­schied­li­chen Sinn­be­rei­che frei und gegen­sin­nig aus­ein­an­der­le­gen, die wie hier, in Hin­sicht auf die mora­li­schen Ange­le­gen­hei­ten die­se Span­nung aus­tra­gen. Damit bringt sie das ‚pole­mi­sche‘ die­ser Aus­ein­an­der­set­zung erst wie­der für uns auf die Büh­ne. Denn die Fra­ge, was Kant uns bedeu­tet, ist längst nicht ent­schie­den. Es kommt, sofern nach dem Sinn gefragt wird, dar­auf an, ihn wie­der zu einer umkämpf­ten Figur zu machen. Dort näm­lich, wo sich mit den ande­ren aus­ein­an­der­ge­setzt wird, erweist sich die prak­ti­sche Ver­nunft Kants als unprak­tisch: sie hat kei­ner­lei Fens­ter. Auch sei­ne Moral­phi­lo­so­phie ist ein laut­lo­ses Gespräch mit sich selbst, ihr welt­lo­ses Maß die Selbst-Ach­tung, ihre vom Ver­ständ­nis der Sterb­li­chen her fre­vel­haf­te Hybris ein ganz unchrist­li­cher Stolz. Wäh­rend es in der Kri­tik der rei­nen Ver­nunft einen nicht ein­hol­ba­ren ‚Rest‘ gibt, kehrt die prak­ti­sche Ver­nunft die theo­lo­gisch-meta­phy­si­sche Figur des ab-solu­ten Sou­ve­räns um und ist sich selbst ihr eige­ner, unbe­ding­ter Gesetz­ge­ber. Jeg­li­che Nei­gung, jeg­li­che Ange­wie­sen­heit auf ande­re, jeder mög­li­che Bund mit ande­ren muss zwin­gend außen vor blei­ben, weil sie die Frei­heit die­ses abso­lu­ten Selbst nur beein­träch­ti­gen wür­de. Weil aus die­ser unaf­fi­zier­ba­ren Autistik[30. vgl. „Mit der gedank­li­chen Fol­ge­rich­tig­keit, die das Kenn­zei­chen eines gro­ßen Phi­lo­so­phen ist, stellt Kant des­halb die Pflich­ten, die der Mensch sich selbst gegen­über hat, vor die­je­ni­gen, die er gegen­über Andern hat - was wirk­lich sehr über­ra­schend ist, weil es in einem bemer­kens­wer­ten Wider­spruch zu dem steht, war wir übli­cher­wei­se unter mora­li­schem Ver­hal­ten ver­ste­hen. Es geht bestimmt nicht um die Sor­ge für den Ande­ren, son­dern um die Sor­ge für das Selbst, nicht um Demut, son­dern um mensch­li­che Wür­de, ja mensch­li­chen Stolz. Maß­stab ist weder die auf irgend­ei­nen Nach­barn gerich­te­te Lie­be noch die Selbst-Lie­be, son­dern die Selbst­ach­tung.“ Über das Böse, S. 35, Die­je­ni­gen, die auch heu­te noch eisern dar­an fest­hal­ten, sich selbst ein Sit­ten­ge­setz zu geben, die Auto­no­men, sind daher nur noch ein höchst abschre­cken­des Bei­spiel. Sie las­sen völ­lig ver­ges­sen, dass Auto­no­mie einst gar nichts mit einem Indi­vi­du­um oder einem Sub­jekt zu tun hat­te, son­dern in einem aus­ge­zeich­ne­ten Bezug zur Polis stand, die sich dar­in eine eige­ne, von ande­ren unter­schie­de­ne Stät­te geben konn­te.] gar nichts mehr aus dem Selbst auf die Ande­ren hin wie­der her­aus führt, bleibt am Ende nur das rei­ne Pos­tu­lat des guten Wil­lens. Die Kant­sche Moral erweist sich als bin­dungs­los, als ein Modell der Wüs­te, ein abge­son­der­tes Sich-Selbst-Gefal­len, des­sen Selbst-Miss­ver­ständ­nis an der Mehr­deu­tig­keit des Begriffs ‚Gesetz‘ haf­tet, den Kant, dem Zeit­geist ent­spre­chend, als Vor­schrift ver­steht, die Ver­pflich­tung und Gehor­sam ein­for­dert. Die­ses Gewis­sen weiß nur sich selbst, wes­we­gen Han­nah Are­ndt dar­auf hin­weist, dass ‚in allen Spra­chen ursprüng­lich mit ‚Gewis­sen‘ nicht eine Fähig­keit des Urtei­lens in Bezug auf Recht und Unrecht gemeint ist, „son­dern das, was wir heu­te ‚Bewusst­sein‘ nen­nen, das heißt die Fähig­keit, mit deren Hil­fe wir uns selbst ken­nen und wahrnehmen.“[31. Über Das Böse, S. 49; Sokra­tes kennt noch kei­ne ‚Stim­me des Gewis­sens‘. Er kennt nur das Zwei-in-Einem, das stil­le Gespräch mit sich selbst, um mit sich ins Lot zu kom­men. Erst die christ­li­che Meta­phy­sik ’schafft das Gewis­sen aus der Welt‘, macht aus dem Zwei­ten die Stim­me Got­tes, die in jedem Men­schen, weil von ihm her­ge­stellt, mit ihm spre­chen und ihm vor­schrei­ben soll und aus dem Zwei-in-Einem wie­der Einen, der die­ser ‚frem­den‘ Stim­me gehor­chen soll. Die Auf­klä­rung, als voll­sä­ku­la­ri­sier­te Meta­phy­sik macht dar­aus die uni­ver­sel­le Stim­me der Ver­nunft, die in jedem Men­schen vor­han­den sein soll und Marx, der sie Sache vom Kopf auf die Füße stellt, macht dar­aus die Stim­me des ‚objek­ti­ven‘ Inter-esses. Erst Freud, des­sen Heid­eg­ger Nähe Han­nah Are­ndt lei­der nicht wahr­ge­nom­men hat, wird die ande­re Stim­me wie­der da her­aus hören, wo sie immer schon gewe­sen sein wird. Das heu­ti­ge ’schlech­te Gewis­sen‘ ist mehr ein Ver­sa­gen, die nach­träg­li­che Emp­fin­dung, dass man zu einem Gesche­he­nen etwas hät­te sagen sol­len, es aber nicht gesagt hat, wor­in zumin­dest schon die Spur des Anspru­ches ent­hal­ten ist, der von drau­ßen ange­klopft hat, aber nicht her­ein­ge­las­sen wur­de. vgl. die Ein­tra­gun­gen im Denk­ta­ge­buch, S. 88, 137, 794 und 818.]

Etwas ist völ­lig aus den Fugen gera­ten im Athen der zwan­zi­ger Jahre.[32. „Für alle Ver­trä­ge galt, was Thuky­di­des auch für die Innen­po­li­tik fest­ge­stellt hat­te: Man hielt sich dar­an, solan­ge es einem pass­te. Ver­läss­lich­keit war kaum mehr gege­ben, Ver­ant­wor­tung ein lee­rer Begriff. Jeder such­te sei­nen Vor­teil ohne Rück­sicht auf bestehen­de Regeln. For­men des Eides, des Ver­tra­ges, des Bünd­nis­ses waren nur noch lee­re Hül­sen.“ Chris­ti­an Mei­er, Athen, Ein Neu­be­ginn der Welt­ge­schich­te, S. 598, Ber­lin 1993.] In die­ser Situa­ti­on kann das, was wie ein Fluch auf der gesam­ten abend­län­di­schen Geschich­te las­tet, kei­ne Klei­nig­keit sein. Schon ein Fluch, der ’nur‘ auf einem Geschlecht wie dem der Atri­den las­tet, hat sei­ne Quel­le in einer anfäng­li­chen fre­vel­haf­ten Tat, in der jeg­li­ches Maß, jeg­li­che Mit­te ver­las­sen wur­de. Hier aber ist von einer Span­nung zwi­schen Phi­lo­so­phie und Poli­tik die Rede. Es gehört zu dem Anhal­ten­den die­ser Span­nung, dass Han­nah Are­ndt ent­we­der mal hier, mal da völ­lig gedan­ken­los irgend­wo zuge­ord­net wird, einer­lei ob nun als Phi­lo­so­phin oder poli­ti­sche Theo­re­ti­ke­rin, oder noch schlim­mer unter dem Titel einer ‚poli­ti­schen Phi­lo­so­phin‘ ein­fach eine Misch­form erzeugt wird, in der jeg­li­che Span­nung, gar eine lang­wäh­ren­de, fluch­be­la­de­ne dann völ­lig ver­stellt ist. Man wird wohl oder übel die Span­nung erst aus­tra­gen und erfah­rend, also ‚durch Lei­den ler­nend‘ aus­hal­ten müs­sen, bevor man über­haupt an so etwas wie eine Ver­söh­nung, in der die Betei­lig­ten der Span­nung ver­wan­delt wie­der zurück zu dem kom­men, was ihnen zukommt, den­ken kann. Soll­ten wir daher nicht nur von einer, son­dern wenigs­tens von zwei anfäng­li­chen fre­vel­haf­ten Taten aus­ge­hen? Und wel­che könn­ten das gewe­sen sein? Und was dar­an könn­te das fre­vel­haf­te, das jeg­li­chem Maß so maß­los Hohn­spre­chen­de gewe­sen sein, das, so scheint es, erst heu­te an den völ­lig aus den Fugen gera­te­nen ‚mores‘ wie­der in die Sicht­bar­keit gera­ten ist.[33. „Jeder ‚poli­ti­schen Phi­lo­so­phie‘ muss ein Ver­ständ­nis über das Ver­hält­nis von Phi­lo­so­phie und Poli­tik vor­aus­ge­hen. Es könn­te sein, dass ‚poli­ti­sche Phi­lo­so­phie‘ eine Con­tra­dic­tio in adjec­to ist.“ (Denk­ta­ge­buch II, S. 683).]

Mit­ten zwi­schen die­ser Span­nung, an dem Ort jenes Abgrun­des, die den Alten bedeu­tend war, steht Sokra­tes, der aus phi­lo­so­phi­scher Hin­sicht, Anfang der Moral-Phi­lo­so­phie. Anhand der Meta­phern (Heb­am­me, Stech­flie­ge und Zit­ter­ro­chen), die ihm auch von andern zuge­spro­chen wer­den, wird sicht­bar, dass er noch für etwas steht, das die Betei­lig­ten der Span­nung mehr oder weni­ger gewalt­sam aus der Sicht­bar­keit ent­fer­nen wol­len. Gar im Unter­schied zu Kant erscheint Sokra­tes hier als noch ganz anders umkämpf­te Figur, schon allei­ne des­we­gen, weil Kant nicht wegen Ver­derb­nis der Jugend ange­klagt und zum Trin­ken des Schier­lings­be­chers auf­ge­for­dert wur­de. Das Dra­ma um Sokra­tes legt sich in zwei Extre­me aus­ein­an­der, wovon bei­de ihn aus jener Mit­te, in der er sich gewöhn­lich auf­hält, ent­fer­nen wol­len, die Abson­de­rer, die ihn von den ande­ren weg­zie­hen wol­len, sowie die Ver­ur­tei­ler, die ihn voll­stän­dig entfernen.

Theo­ros heisst dann der­je­ni­ge, der etwas in sei­nem Anblick ansieht,
der sich ansieht , was es zu sehen gibt. Theo­ros ist der Festbesucher,
der auf den gros­sen Spie­len und Fes­ten als Zuschau­er anwe­send ist.
Mar­tin Heid­eg­ger, Pla­ton: Sophistes

Man wird die Ein­zig­ar­tig­keit des Are­ndt­schen Bei­trags zum Poli­ti­schen nur ver­ste­hen, wenn man Heid­eg­gers und Are­ndts Zugang zum Anfäng­li­chen, als etwas unaus­ge­spro­che­nen ago­na­les wahr­nimmt, dem es, einem jeg­li­chen auf sei­ne Wei­se, um ein Her­aus­kom­men aus dem Fluch ankommt, der in der anhal­ten­den feind­li­chen Span­nung zwi­schen Phi­lo­so­phie und Poli­tik liegt. Viel­leicht kann man die For­mu­lie­rung wagen, dass es in den Are­ndt­schen Tex­ten dar­um geht, die feind­li­che Span­nung, in der es um Sieg oder Nie­der­la­ge geht, wie­der in einen tra­gi­schen Kon­flikt zu ver­schie­ben, denn zur Tra­gö­die gehört, wie wir erfah­ren könn­ten, das Wun­der der Ver­wand­lung der Kon­flik­ten­den, sowie, ter­ti­um datur, ein gemein­sin­ni­ger Chor als öffent­li­che Zur­schau­stel­lung einer gerei­nig­ten Mei­nung. Dies ist eine der Stel­len, an denen wir die sonst sehr geschätz­te Beglei­tung Mar­ga­ret Cano­vans ver­las­sen müs­sen. In Ihrem Ver­ständ­nis des grie­chi­schen logos, in dem har­mo­nisch ver­eint sein soll, was die Span­nung zwi­schen Phi­lo­so­phie und Poli­tik spä­ter gewalt­sam aus­ein­an­der­reißt, wäre für Hera­klit zu wenig Platz. Hier geht es mehr dar­um, die Auf­merk­sam­keit auf den Unter­schied zwi­schen zwei ver­schie­de­nen Wei­sen von gespann­ter Aus­tra­gung, einer gewalt­sa­men, feind­li­chen und einer poli­ti­schen, tra­gi­schen, zu lenken.

Wäh­rend der Rück­zug in die Ein­sam­keit des Den­kens in der Wei­se des Nach­den­kens über etwas, was zuvor den Sin­nen gegen­wär­tig war, in die­sem Zug auf das bezo­gen bleibt, wovon es sich zurück­zieht, also zum Bei­spiel eine erfah­ren­de Wahr­neh­mung wie die Chur­chills als etwas dem Nach­den­ken Bedeu­ten­des in die­sen Rück­zug mit­nimmt, sich dadurch von ihm in jenen Anspruch neh­men lässt, aus dem ein ver­nehm­ba­rer und viel­leicht sogar beson­ne­ner Spruch wie­der zu den ande­ren zurück kom­men kann, dem eine gewis­se Klug­heit anzu­mer­ken ist, die sich Auto­ri­tät ver­schaf­fen kann, ver­flüch­ti­gen sich in der Abson­de­rung der pla­to­ni­schen ‚Dia­lo­ge‘ Sinn, Leben und die ande­ren. Was Dia­log genannt wird, ent­fal­tet sich tat­säch­lich in einer mono­lo­gi­schen Kon­stel­la­ti­on, in der die ande­ren Stim­men der füh­ren­den ers­ten bloß sekun­die­ren, aber kei­nen zwei­ten, gar mit dem ers­ten in Kon­flikt ste­hen­den Sinn­be­reich mehr reprä­sen­tie­ren können.[34. Zum Bedeu­tungs­um­fang des Mono­lo­gi­schen vgl. Karl Rein­hardt: Sopho­kles, Frank­furt a. Main , 1976, noch etwas hand­fes­ter drückt es Klaus Hein­rich aus, der auf das lehrei­che Bei­spiel Prantls und des­sen Abscheu vor der Sokra­ti­schen Metho­de in den Pla­to­ni­schen Dia­lo­gen ver­weist: „Prantl miss­ver­steht das ‚Wider­li­che‘ der Stel­len, ‚wo die Ant­wor­ten­den bloß wie jene chi­ne­si­schen Figür­chen nickend Ja sagen‘, als die Ver­zer­rung eines ‚wis­sen­schaft­li­chen Zwie­ge­sprächs‘, aber sein Abscheu trifft den ent­schei­den­den Punkt: die ‚Supe­rio­ri­tät‘ des ‚Wis­sen­den‘, der den Unwis­sen­den ein­führt in das Mys­te­ri­um.“ Ver­such über die Schwie­rig­keit, nein zu sagen, Frank­furt a. Main, 1985, S. 173.] Indem die sophia aus dem logos her­aus in den nur noch mit geis­ti­gem Auge sehen­den Vor­rang des Höchs­ten gerückt wird, rückt die ihrer jewei­li­gen Situa­ti­on umsich­ti­ge phro­ne­sis in einen nie­de­ren Rang. Bei­des wird aus dem Rang her­aus­ge­rückt, der ihm für eine schö­ne Wei­le vor dem Ver­fall der Polis zukam. Im Wege die­ser Abson­de­rung wer­den die Abge­son­der­ten zu Beson­de­ren, der Ort, an dem sie sich auf­hal­ten, ein den ande­ren weit ent­fern­ter, die ‚Insel der Seli­gen fast eine Wüs­te‘. Mit der Hoch-Ach­tung für die­ses aus­er­wähl­te Selbst ent­steht zugleich die Ver­ach­tung der ande­ren, die jetzt nur noch als die Vie­len erschei­nen, die dop­pel­köp­fi­ge, blö­de Men­ge. Der immer­sei­en­den idea wird eine eigens dafür erfun­de­ne unsterb­li­che See­le gegen­über­ge­stellt, ver­steift ver­har­rend im gegen­sei­ti­gen Anblick, dem Tode näher als dem Leben. Han­nah Are­ndt ver­weist auf die para­do­xen Behaup­tun­gen, die Sokra­tes im Gor­gi­as Dia­log auf­stellt und erwähnt bei­läu­fig, dass uns der Sinn dafür ver­lo­ren gegan­gen ist. Wäh­rend das Gemein­sa­me der Meta­phern, die für Sokra­tes ste­hen, ein jewei­li­ger Bezug ist: eine Heb­am­me ohne Bezug zu einer wer­den­den Mut­ter macht eben­so wenig Sinn, wie eine Stech­flie­ge ohne Bezug auf das, was sie sticht, man den­ke nur an die Apo­lo­gie, wo ganz Athen gesto­chen wer­den soll. Dage­gen erscheint schon das Aus­gangs­pa­ra­dox eigen­tüm­lich bezug­los. Aus der Fra­ge: Ist es bes­ser Unrecht zu lei­den, als Unrecht zu tun, kann schwer­lich her­aus gefragt wer­den: in wel­chem Zustand ist denn unser Gemein­we­sen gera­de jetzt, was ist denn aus den Fugen? In wel­cher Situa­ti­on befin­den wir uns denn? Durch den fra­gen­den Zusatz ‚bes­ser für wen oder was‘ wird ersicht­lich, dass es um das Selbst geht und nicht um die Welt. Das eigen­tüm­lich Sinn­lo­se wird noch deut­li­cher an dem Para­dox, ‚das sie bei Pla­ton immer wie­der erwähnt fin­den werden‘:[35. Über das Böse, S. 71.] einem Ver­bre­chen, das sowohl den Augen der ande­ren als auch den Göt­tern gänz­lich ver­bor­gen bleibt, also nir­gend­wo jemals jeman­des Sin­nen gege­ben ist. Als im soge­nann­ten ‚Dia­log‘ jeg­li­cher Ver­such einer reden­den Über­zeu­gung fehl­schlägt, kommt wie das Häs­chen aus dem Hut ein pla­to­ni­scher Mythos, ein ‚Mär­chen für alte Wei­ber‘ wie Han­nah Are­ndt iro­nisch kom­men­tiert. Am Ende des Dia­lo­ges ist jeder Gesprächs­fa­den geris­sen - die Freun­de des Demos und die Freun­de der Phi­lo­so­phie ste­hen sich gegen­sei­tig unver­steh­bar als Fein­de gegen­über. Wozu noch öffent­lich ver­sam­melt ver­sam­melnd aus­ein­an­der­le­gen, was die Ver­sam­mel­ten angeht?

Das Abge­son­der­te ver­kap­selt sich in einen eige­nen, in sich selbst ste­hen­den, stän­di­gen Sinn­be­reich und macht die Fens­ter zu. Wir soll­ten anfan­gen, sol­ches Mono­lo­gi­sche als die Urka­ta­stro­phe der abend­län­di­schen Geschich­te wahr­zu­neh­men. Am Ende zeigt sich: was die Ety­mo­lo­gie nahe­legt, ver­wei­gert die Lek­tü­re. Der Moral­phi­lo­so­phie geht es gar nicht um Moral, son­dern um das Selbst. Das Ge-Wis­sen gibt sich selbst das Wis­sen von sich, eben­so wie die Ge-Sin­nung sich selbst den Sinn von sich gibt, wes­we­gen bei­des poli­tisch immer so jäm­mer­lich daher­kommt, wenn tat­säch­lich etwas auf dem Spiel steht.[36. „Die wil­hel­mi­ni­sche Gesell­schaft ist in ihrer poli­ti­schen Nai­vi­tät in man­cher Hin­sicht ver­gleich­bar mit bestimm­ten Grup­pie­run­gen der heu­ti­gen bun­des­deut­schen Gesell­schaft, die nicht bereit sind, sich den Para­do­xien der Poli­tik zu stel­len. Man hält die Rein­heit der Gesin­nung, die Auf­rich­tig­keit, die Gut­her­zig­keit der Absich­ten teil­wei­se wie­der für den Schlüs­sel zum rich­ti­gen poli­ti­schen Han­deln und ist nicht bereit, vom Ende her zu den­ken. Man kann den Ers­ten Welt­krieg als Ver­ket­tung von Fehl­ein­schät­zun­gen, Miss­grif­fen, Illu­sio­nen und gut­ge­mein­ten Irr­tü­mern den­ken. Das mei­ne ich mit Kom­pen­di­um: ein Lehr- und Warn­stück gegen eine Poli­tik, die glaubt, durch Auf­rich­tig­keit und Gut­her­zig­keit wer­de schon alles gut wer­den.“ Her­fried Mün­k­ler, Zeit­raf­fer eines Jahr­hun­derts, Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung vom 28.01.2014.] Zu den mores aber, die im Bereich des Zwischen[37. „Alles, was beschlos­sen wird, wird zwi­schen Men­schen beschlos­sen und gilt, solan­ge dies Zwi­schen gilt. Unab­hän­gig von die­sem Zwi­schen gibt es nicht Recht und Unrecht. Sobald es schwin­det, ver­schwin­den mit ihm die Maß­stä­be im buch­stäb­lichs­ten Sin­ne. Es gibt kein Gewis­sen, das die­sen Schwund, gleich­sam im lee­ren Raum über­le­ben könn­te.“ (Denk­ta­ge­buch I, S. 180).] sich abspie­len, hat die Moral­phi­lo­so­phie eben­so wenig zu sagen, wie die Gesin­nung, die sich selbst schon von vorn­her­ein jeg­li­chen Sinn für das Gefähr­li­che zustellt.

Das Böse und das Gefähr­li­che sind näm­lich nicht von der glei­chen Art. Das Gefähr­li­che ist vor allem nicht stän­dig, es kommt, häu­fig uner­war­tet und über­ra­schend, plötz­lich her­vor und ver­geht auch wie­der, es ist nicht im Modus des Gestells vor­stell­bar. Es ist von inner­halb des Her­ge­stell­ten gese­hen, eher so etwas wie ein Fens­ter nach drau­ßen. Zudem ruft das Gefähr­li­che unmit­tel­bar in das Gegen­wär­ti­ge hin­ein, es zieht, sobald es in die Wahr­neh­mung kommt, aus dem Schlaf her­aus. Man muss urplötz­lich hell­wach sein, das Gefähr­li­che ruft nach dem gan­zen Men­schen. Erst im her­ein­zie­hen­den Bezug zum Gefähr­li­chen zeigt sich, wer einer ist, hier zählt nicht das Wol­len, son­dern nur das Kön­nen und das Glück. Das Gefähr­li­che erscheint als beson­de­rer Moment, ein ‚big point‘, wie man im Ten­nis sagt. Die Fol­gen eines ver­schla­fe­nen ‚big points‘ kön­nen lan­ge Geschich­ten haben.

An zwei Stel­len der Vor­le­sung erwähnt Han­nah Are­ndt aus dem Mat­thä­us-Evan­ge­li­um einen Spruch von Jesus von Naza­reth, dem Urbild aller Gut-Sein-Wol­len­der, wo die­ser recht unver­blümt und ganz unchrist­lich der rei­nen Gewalt das Wort redet, „dass ein Mühl­stein an sei­nen Hals gehän­get wer­de, und er ersäuft wür­de im Meer“. Han­nah Are­ndt lenkt unse­re Auf­merk­sam­keit auf eine Stel­le im Evan­ge­li­um, die, so könn­te man sagen, der Zuschlie­ßung des Sin­nes wider­steht. Es bleibt da, an einer ganz klei­nen Ecke, etwas offen. Hier zeigt sich, wie Han­nah Are­ndt in ‚Über die Revo­lu­ti­on‘[38. Über die Revo­lu­ti­on, S. 105 ff.] detail­lier­ter aus­führt: Am Grun­de der Kon­fron­ta­ti­on des Guten und des Bösen arbei­tet eine aus dem logos abge­trenn­te Logik der Ver­nich­tung, der rei­nen, sprach­lo­sen Gewalt. In die­sem Kon­flikt ist ’nichts Tra­gi­sches‘, er steht außer­halb des Poli­ti­schen. Die tra­gi­sche Dimen­si­on öff­net sich erst wie­der, wenn in der Figur der ‚vir­tu‘ die Sor­ge um den Erhalt des Zwi­schen - dazwi­schen­tre­tend - in den Vor­rang tritt. Für den Unter­schied die­ser bei­den Stel­len im Text ist, wie schon in der gesam­ten Vor­le­sung, der Unter­schied Machiavelli’s zwi­schen der ‚Sor­ge um sich Selbst‘ und der ‚Sor­ge um die Welt‘ die auf­hel­len­de Hin­sicht. Wird an der ers­ten Stel­le eigens dar­auf hin­ge­wie­sen: ’notie­ren Sie bit­te, daß [es heißt], es wäre ‚ihm‘ für ihn, bes­ser gewesen“[39. Über das Böse, S. 98.], so heißt es an der zwei­ten Stel­le, an der sie Jesus‘ Mord­wunsch noch ein­mal zitiert: ‚Kri­te­ri­um ist nicht mehr das Selbst, … nein, der Täter ist jemand, der die Welt­ord­nung als sol­che ver­letzt‘. Fast unmerk­lich ver­schiebt und öff­net sich die Moral, die seit Sokra­tes und Jesus mit dem Selbst fest ver­klam­mert schien, wie­der auf ihre anfäng­li­che Her­kunft hin - jene ‚mores‘, die, wenn sie aus den Fugen gera­ten, durch Abson­de­rung nicht wie­der ein­ge­rich­tet wer­den kön­nen. „Doch was hier zwei­fel­los betont wird, ist der Scha­den, der der Gemein­schaft zuge­fügt wird, ist die für alle bestehen­de Gefahr.(Her­vorh. von mir, B.B.)“[40. Über das Böse, S. 122.] Zwi­schen dem Tod des Sokra­tes und dem was Jesus hier ‚wie Unkraut‘ ver­nich­ten will, wal­tet ein noch ziem­lich geheim­nis­vol­ler Bezug. Poli­tisch gespro­chen macht weder die Rede vom Bösen, noch das ent­lar­ven­de Zei­gen auf einen sol­chen Sinn - hier geht es, wenn es um das Ver­ste­hen des­sen geht, was auf dem Spiel steht, stets um das Gefähr­li­che, wes­we­gen ja auch nicht das Gut-Sein, son­dern der Mut die poli­tischs­te Tugend genannt wird. „Die Welt sau­ber hal­ten! nicht die Men­schen ändern.“[41. Denk­ta­ge­buch II, S. 618.]

Die Stra­ße nach Ausch­witz wur­de durch Hass gebaut,
aber mit Teil­nahms­lo­sig­keit gepflas­tert
.
Ian Kershaw

Indif­fe­renz stellt, mora­lisch und politisch
gespro­chen die größ­te Gefahr dar

Harald Wel­zer, 1958 gebo­ren, berich­tet in sei­nem Buch über die Täter von einer klei­nen Übung, die er in einem Uni­ver­si­täts­se­mi­nar mit sei­nen Stu­den­ten nach der Lek­tü­re der Pio­nier­ar­beit von Chris­to­pher Brow­ning über die Män­ner des Reser­ve-Poli­zei­ba­tail­lons 101 durch­führ­te. Der Kom­man­deur die­ses Batail­lons, Major Trapp hat­te, nach­dem er den ver­sam­mel­ten Män­nern ihren bevor­ste­hen­den Ein­satz als Erschie­ßungs­kom­man­do erst­ma­lig ver­kün­de­te, ganz offen den Män­nern die Mög­lich­keit ein­ge­räumt, nicht mit­zu­ma­chen: ‚Wer von den Älte­ren sich die­ser Auf­ga­be nicht gewach­sen füh­le, möge vortreten.‘[42. Brow­ning, Chris­to­pher: Ganz nor­ma­le Män­ner, S. 88; mehr­fach wird in der Lite­ra­tur, die als ‚Täter­for­schung‘ klas­si­fi­ziert wird, erwähnt, dass bis­lang kein ein­zi­ger nach­weis­ba­rer Fall bekannt gewor­den ist, dass jemand, der sich dem Mord­be­fehl ver­wei­gert hat, ernst­haf­te per­sön­li­che Schwie­rig­kei­ten dadurch bekom­men hät­te. Der soge­nann­te Befehls­not­stand ist offen­bar eine rei­ne Legen­de.] Zunächst trat einer her­vor, dann noch zehn oder zwölf, von viel­leicht 350 bis 400 Män­nern. Die Stu­den­ten soll­ten in einem gemein­sa­men Brain­stor­ming die Fak­to­ren auf­lis­ten, die aus der Sicht der Akteu­re dafür spra­chen, nicht oder doch her­vor­zu­tre­ten, um sich der geplan­ten Mord­ak­ti­on zu ent­zie­hen. In einem Pro und Con­tra Sche­ma wur­de die Tafel beschrei­ben; die lin­ke Hälf­te mit den Grün­den für das Nicht-Her­vor­tre­ten füll­te sich schnell, die rech­te ent­hielt am Ende nur drei Ein­trä­ge: eine uni­ver­sa­lis­ti­sche Ethik, eine christ­li­che Moral und so etwas wie eine anti­zi­pier­te Empa­thie mit den Opfern.[43. Wel­zer, Harald: Täter, S. 117.] Das Beach­tens­wer­te und zugleich Beun­ru­hi­gen­de an die­ser Auf­zäh­lung der Ein­trä­ge auf der rech­ten Sei­te ist das, was dar­in nicht vor­kommt. Die eigent­lich nahe lie­gends­te Ant­wort, dass man nicht in einer Welt woh­nen möch­te, in der es ganz nor­mal ist, dass jeder­zeit die Nach­bars­fa­mi­lie aus ihrem Haus geholt wer­den kann, in der es ganz nor­mal ist, dass, wer bett­lä­ge­rig ist und nicht gehen kann, gleich erschos­sen wird, wäh­rend die ande­ren kurz dar­auf im nahe­lie­gen­den Wald ein­fach so umge­bracht wer­den. Genau die­se Ant­wort fehlt, denn auch in die­sen drei Ein­trä­gen geht es mehr um das Selbst, als um die Welt, was nichts ande­res heißt als: es wür­de wie­der gesche­hen, es wird wie­der gesche­hen und es ist schon wie­der geschehen.

Bezo­gen auf die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Täter bemer­ken Robert H. Jack­son und Han­nah Are­ndt, unab­hän­gig von­ein­an­der, den glei­chen Punkt. So for­mu­liert Jack­son in sei­ner Drit­ten Ankla­ge­re­de: „Nir­gend­wo fin­den wir ein Bei­spiel, dass einer der Ange­klag­ten gegen die übri­gen auf­stand und sag­te: die­se Sache ist nicht rich­tig, und ich wer­de nicht wei­ter mit­ma­chen. Wo sie von­ein­an­der abwi­chen, bezo­gen sich die Dif­fe­ren­zen auf die Metho­de oder auf Strei­tig­kei­ten der Ober­auf­sicht, aber immer inner­halb des Rah­mens des gemein­sa­men Plans.“[44. Der Nürn­ber­ger Pro­zess, Die Ankla­ge­re­den des Haupt­an­kla­ge­ver­tre­ters der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka Robert H. Jack­son, Hg. von Ingo Mül­ler, S. 133.] Und auch Han­nah Are­ndt bemerkt: „So wie Eich­mann die Din­ge dar­stell­te, hat kein Fak­tor so wirk­sam zur Beru­hi­gung sei­nes Gewis­sens bei­getra­gen, wie die schlich­te Tat­sa­che, dass er weit und breit nie­man­den, abso­lut nie­man­den ent­de­cken konn­te, der wirk­lich gegen die ‚End­lö­sung‘ gewe­sen wäre. Mit einer ein­zi­gen Aus­nah­me, die er mehr­fach erwähn­te und die einen tie­fen Ein­druck auf ihn gemacht haben muss: näm­lich Dr. Kast­ner, dem er in Ungarn begegnete.“[45. Eich­mann, S. 152.]

Wir sehen - von der Moral­phi­lo­so­phie her kom­men wir nicht in ein Gespräch mit Chur­chill. Rich­ter Jack­son aber kam mit ihm in ein Gespräch und leis­te­te mit der Ein­rich­tung einer Stät­te für das öffent­li­che Urtei­len einen gewich­ti­gen poli­ti­schen Bei­trag als ‚Wie­der-ins-Lot Brin­ger‘. Anders als wir aber kam Rich­ter Jack­son aus der Neu­en Welt, die auch gera­de des­halb eine Neue Welt wur­de, weil sie im Unter­schied zur alten Welt aus der Kon­ti­nui­tät der sich in Kon­ti­nen­tal­eu­ro­pa als ‚gefähr­lichs­te Form des Abso­lu­ten‘ auf­sprei­zen­den natio­na­len Sou­ve­rä­ni­täts­idee her­aus­sprang und kei­ne Revo­lu­ti­on, eine inner­halb des mono­lo­gi­schen blo­ße Umkeh­rung der Idee der Sou­ve­rä­ni­tät war, son­dern, wie der Brauch, der inzwi­schen zu einem stän­di­gen Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof wur­de, ein Neu­an­fang. Wir wol­len damit auch auf einen bestimm­ten Punkt hin­wei­sen, der leicht über­se­hen wer­den kann. Wir mei­nen ja heu­te in einer glo­ba­li­sier­ten Welt, wir könn­ten uns jeder­zeit mit jedem über alles unter­hal­ten und ver­ges­sen dabei ein ganz prin­zi­pi­el­les Ele­ment, das in der Moder­ne erst in der Freud­schen Erfah­rung wie­der zum Vor­schein gekom­men ist. Was und wie etwas in die Erschei­nung kom­men kann, ist nicht ganz los­ge­löst von der Art und Wei­se, wie etwas mit­ein­an­der in Bezug gesetzt wird. Freud nann­te die­sen Bezug ’set­ting‘. Han­nah Are­ndt, deren Vor­ur­teil an die­ser Stel­le eine Wahr­neh­mung Freuds ver­hin­dert hat, fin­det die­sen ‚prin­zi­pi­el­len‘ Zusam­men­hang bei Mon­tes­quieu und des­sen poli­ti­schem Ver­ständ­nis von ‚Gesetz‘ als ‚rap­port‘. Mon­tes­quieu unter­schei­det im Drit­ten Buch zwi­schen der Struk­tur und dem Prin­zip einer Regie­rung. ‚Ihre Natur macht sie zu dem, was sie ist, ihr Prin­zip bringt sie zum Han­deln. Das eine ist ihre beson­de­re Struk­tur, das ande­re sind die Lei­den­schaf­ten, die sie in Bewe­gung set­zen.‘ Vir­tu ist das Prin­zip der Repu­blik, Ehr­geiz das der Mon­ar­chie und Angst das der Des­po­tie. Die Repu­blik gibt der ‚vir­tu‘ nicht nur eine öffent­li­che Stät­te, einen Erschei­nungs­raum, son­dern zugleich eine Bedeu­tung für ihr in der Zeit sein, ihre Bestän­dig­keit. Mon­tes­quieu ver­weist auf Demo­sthe­nes Mühe, die es ihn kos­te­te, ‚Athen zum Erwa­chen zu brin­gen‘ und sein Schei­tern - ‚Athen wur­de besiegt und zwar für immer‘, was für den Zusam­men­hang unse­rer Vor­le­sung bedeu­tet: der Bezug zwi­schen Churchill’s vir­tu und unse­rer Schläf­rig­keit ist nicht nur eine Ange­le­gen­heit der indi­vi­du­el­len Per­so­nen, oder gar eine des ’sub­jek­ti­ven‘ Wil­lens, son­dern, und in einem viel grö­ße­ren Aus­maß, eine Sache des poli­ti­schen Gefü­ges. Als gute Demo­kra­ten kön­nen wir Chur­chill gar nicht ver­ste­hen, wir kom­men gar nicht erst an den Ort, von dem aus ein Gespräch mit ihm Sinn machen könnte.[46. einer der sel­te­nen Momen­te, in dem blitz­ar­tig ein hel­les Licht die­sen Zusam­men­hang erschei­nen lässt, stammt aus einem 1993 geführ­ten Gespräch zwi­schen dem Polen Adam Mich­nik und dem Deut­schen Jür­gen Haber­mas. Sre­bre­ni­ca ist für den Polen bereits am Hori­zont zu erah­nen. „Mich­nik: Ich beob­ach­te Jugo­sla­wi­en sehr auf­merk­sam, ich habe dort vie­le Freun­de. Mein Ein­druck ist, dass der Bal­kan Euro­pa prin­zi­pi­ell her­aus­ge­for­dert hat. Man sagt dort: Schluss mit Ausch­witz, mit dem demo­kra­ti­schen Euro­pa ist es vor­bei, nun kommt die Uto­pie der eth­nisch rei­nen Staa­ten. Das ist die erschre­ckends­te Bot­schaft, der ich in mei­nem Leben begeg­net bin. Das ist gefähr­li­cher als der Kom­mu­nis­mus. Und ich habe eine Fra­ge an Pro­fes­sor Haber­mas, der ein gro­ßer Ver­fech­ter der Idee der Auf­klä­rung ist: War­um ist die Idee eines Eth­nisch rei­nen Staa­tes so stark, war­um ist sie auf dem Sie­ges­zug? Krzem­in­ski: Aber viel­leicht erlei­det sie gera­de Schiff­bruch. Viel­leicht sind wir Zeu­gen ihres letz­ten, blu­ti­gen Par­oxys­mus und nicht der Ankün­di­gung einer tat­säch­li­chen Rück­kehr zu den Natio­nal­staa­ten. Haber­mas: Ich glau­be auch nicht, dass sie auf dem Sie­ges­zug ist. Als ich vor eini­gen Wochen in Zagreb war, hör­te ich von Freun­den, die ich in allen jugo­sla­wi­schen Län­dern habe: Am bes­ten wäre es, wenn die Ame­ri­ka­ner ein­mar­schier­ten und vier­zig Jah­re blie­ben, dann bekä­men wir eine eben­so sta­bi­le Demo­kra­tie wie die Bun­des­re­pu­blik.“ Mehr Demut, weni­ger Illu­sio­nen, Adam Mich­nik trifft Jür­gen Haber­mas, Zwei lin­ke Intel­lek­tu­el­le, ein Pole und ein Deut­scher reden über ver­lo­re­ne Träu­me, eige­ne Irrun­gen, ihre Natio­nen und die Kri­se der mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaft. Ein Streit­ge­spräch, mode­riert von Adam Krzem­in­ski, DIE ZEIT, 17. Dezem­ber 1993; Das Sel­be, das der Pole Adam Mich­nik im Super­la­tiv als das ‚erschre­ckends­te‘ sei­nes Lebens wahr­nimmt, berührt den Deut­schen Jür­gen Haber­mas gar nicht, es geht ihn nicht ein­mal etwas an.] Das Gespräch mit Chur­chill, zu dem Han­nah Are­ndt uns mit die­ser Vor­le­sung ein­lädt, steht also noch aus - es kommt uns noch zu. Das Auf­mer­ken aber auf das, was uns das Anneh­men ihrer Ein­la­dung ver­wehrt, ist genau jener Moment, der uns zu den­ken gibt und so erst auf den rech­ten Weg brin­gen könnte.

Es sind nicht weni­ge, die mei­nen, ein aus den Fän­gen pla­to­ni­scher Meta­phy­sik befrei­ter Sokra­tes kön­ne doch, gera­de sei­nes hart­nä­cki­gen Fra­gens und sei­ner Ergeb­nis­lo­sig­keit wegen, als ermu­ti­gen­des, star­kes Bei­spiel her­hal­ten. Bezo­gen auf eine Dekon­struk­ti­on der Meta­phy­sik mag das ange­hen, allein dies ist nicht Han­nah Are­ndts Ort, sonst hät­te sie ihren Text ja auch mit Sokra­tes und nicht mit Chur­chill ange­fan­gen. Um wenigs­tens etwas von der Dimen­si­on zu erah­nen, soll­ten wir davon aus­ge­hen, dass Ihr Anfang mit Chur­chill einen unaus­ge­spro­che­nen Bezug beinhal­tet zu Heid­eg­gers Hin­wen­dung zu den anfäng­li­chen Den­kern Anaxi­man­der, Par­men­i­des und Hera­klit. Im Hin­blick auf die Span­nung zwi­schen Phi­lo­so­phie und Poli­tik ste­hen Sokra­tes und Chur­chill zwar am glei­chen Ort, aber sie hal­ten sich nicht in der glei­chen Gegend auf. Chur­chills Hal­tung steht in einem Ver­hält­nis zur halt­ge­ben­den Quel­le des Wirk­li­chen, wäh­rend Sokra­tes mit dem logi­schen ‚Prin­zip‘ des Sat­zes vom Wider­spruch schon einen ande­ren, abge­son­der­ten Grund in das Selbst her­ein­zieht. Chur­chill und Sokra­tes sind ein­an­der nicht zuge­wandt, sie könn­ten, selbst wenn sie Zeit­ge­nos­sen wären, nicht ein­mal mit­ein­an­der reden - sie ste­hen Rücken an Rücken, wäh­rend der eine der Welt zuge­neigt ist, son­dert sich der ande­re, vom Gefähr­li­chen weg, schon ab.

In einem Straf­ge­richts­hof, so wur­de gesagt, wird jedoch das mora­li­sche Pro­blem beson­ders sicht­bar. Er ist ein­fach nicht der pas­sen­de Ort. Das Gewis­sen hin­ge­gen, das ja als inter­nes Tri­bu­nal, als Ersatz für ein öffent­li­ches Urteil her­hal­ten soll, funk­tio­niert nicht, und kann, wenn über­haupt, nur als Aus­nah­me-Maß für das Unter­schei­den von Recht und Unrecht her­an­ge­zo­gen wer­den. So blei­ben wir etwas rat­los zurück. Denn auch die öffent­li­che Mei­nung trägt, wie Han­nah Are­ndt an den drei Fäl­len gezeigt hat, die sich alle nach 1945 ereig­ne­ten, trotz aller Auf­re­gung, Skan­da­li­sie­rung und dem hys­te­ri­schem Geschrei am Ende nur noch zu mehr Ver­wir­rung bei.

Es gibt jedoch bei die­sen drei Fäl­len einer öffent­li­chen Empö­rung einen bis­lang wenig beach­te­ten, bemer­kens­wer­ten Unter­schied. Zwei kamen ja aus Euro­pa, einer aus Ame­ri­ka. Die öffent­li­che Mei­nung erweist sich in allen drei Fäl­len als ‚Tod einer jeden Mei­nung‘. Der ame­ri­ka­ni­sche Fall jedoch hat eine etwas ande­re, durch­aus beacht­li­che Vor­ge­schich­te. Wir erin­nern uns: der jun­ge Anwalt Richard N. Good­win, Ers­ter sei­nes Jahr­gangs unter den Absol­ven­ten der Har­vard Law School hat­te nach einer ein­jäh­ri­gen Assis­tenz­zeit beim Obers­tes Bun­des­rich­ter Frank­fur­ter eine Stel­le im Kon­gress-Son­der­aus­schuss für legis­la­ti­ve Auf­sicht ange­tre­ten, ein poli­ti­sches Gre­mi­um, für das es in unse­rer Demo­kra­tie kein Äqui­va­lent gibt. Die Tra­di­ti­on die­ses Aus­schus­ses reicht zurück bis in die Römi­sche Geschich­te, in den Rat der Zen­so­ren, der, wie Mon­tes­quieu noch schrei­ben konn­te, „die Sit­ten der Bür­ger kon­trol­liert und die unmit­tel­ba­re Dienst­auf­sicht über die ver­schie­de­nen Kör­per­schaf­ten des Staa­tes führt.“[47. Mon­tes­quieu: Vom Geist der Geset­ze, 11. Buch, 14 Kapi­tel, 2.]

Die­ser jun­ge Anwalt hat­te die Sache ins Rol­len gebracht, weil ihm eine klei­ne Zei­tungs­no­tiz auf­ge­fal­len war. „Ein paar Wochen nach Beginn mei­ner Arbeit in dem Aus­schuss las ich in der New York Times die Mel­dung, der vor­sit­zen­de Rich­ter habe die Ergeb­nis­se der Ankla­ge­ju­ry (in denen es um Fäl­le von Ver­brau­cher­be­trug, dar­un­ter auch die Quiz Show ging; E.v.m.) beschlag­nahmt. Es soll­te kei­ne Eröff­nungs­be­schlüs­se geben, kei­ne Ankla­gen wegen rechts­wid­ri­gen Ver­hal­tens und kei­ne Offen­le­gung der Beweis­mit­tel. Auf­ge­regt ging ich zu Lish­mann (Good­wins Vor­ge­setz­te; E.v.m.): „Da muss doch irgend­et­was dahin­ter ste­cken“, sag­te ich. ‚Wenn alles in Ord­nung ist, war­um es dann geheim hal­ten‘? - ‚Es lohnt sich, die Sache zu prü­fen‘ ant­wor­tet er.“[48. Quiz Show, Aus den Erin­ne­run­gen von Richard N. Good­win, Rein­bek bei Ham­burg, 1995, S. 76; Dass Gerichts­ak­ten der Öffent­lich­keit durch Ver­sie­ge­lung ent­zo­gen wer­den, emp­fand der Anwalt als eine Gefähr­dung. Er deck­te in mühe­vol­ler und hart­nä­cki­ger Klein­ar­beit den gan­zen Betrug auf und ist durch die­ses Ver­fah­ren auch John. F. Ken­ne­dy auf­ge­fal­len, der, vom Mut als einer der wich­tigs­ten poli­ti­schen Tugen­den über­zeugt, Robert N. Good­win dar­auf­hin in sein Team hol­te und zu einem sei­ner Reden­schrei­ber ernann­te. Good­win hat über die­se Betrugs­ge­schich­te spä­ter ein Buch geschrie­ben, (Remem­be­ring Ame­ri­ca: A Voice From the Six­ties ), das Grund­la­ge für das Dreh­buch zu einem Film von Robert Red­ford wur­de (Quiz-Show, 1993). Der Film von Robert Red­ford ist eine weit­aus bes­se­re Ein­füh­rung in das, wor­um es in unse­rer Are­ndt Vor­le­sung geht, als das, was man in hie­si­gen ein­schlä­gi­gen Quel­len bis­lang dazu lesen muss. Es gehört zu den wahr­nehm­ba­ren Unter­schie­den zwi­schen dem repu­bli­ka­ni­schen und dem demo­kra­ti­schen, dass es in Ame­ri­ka eine exem­pla­ri­sche Film­gat­tung gibt, die es min­des­tens in Deutsch­land so nicht gibt, und die in aller Kür­ze mit Film­ti­teln wie ‚Die zwölf Geschwo­re­nen‘, ‚Die Lin­coln Ver­schwö­rung‘ oder ‚Das per­fek­te Ver­bre­chen‘ mar­kiert wer­den kann. Es genügt, dass ein Ein­zi­ger öffent­lich ver­nehm­bar nicht mit­macht und dass die­se Geschich­te des einen Wider­stän­di­gen immer wie­der als Bei­spiel erzählt und im Gesche­hen wie­der­holt wird. Dazu Han­nah Are­ndt: „So tief ist kei­ne Ver­sen­kung, dass alle Spu­ren ver­nich­tet wer­den könn­ten, nichts Mensch­li­ches ist so voll­kom­men; dazu gibt es zu vie­le Men­schen in der Welt, um Ver­ges­sen end­gül­tig zu machen. Einer wird immer blei­ben, um die Geschich­te zu erzäh­len. … Denn die Leh­re sol­cher Geschich­ten ist ein­fach, ein jeder kann sie ver­ste­hen. Sie lau­tet, poli­tisch gespro­chen, dass unter den Bedin­gun­gen des Ter­rors die meis­ten Leu­te sich fügen, eini­ge aber nicht. So wie die Leh­re, die man aus den Län­dern im Umkreis der ‚End­lö­sung‘ zie­hen kann, lau­tet, dass es in der Tat in den meis­ten Län­dern ‚gesche­hen konn­te‘, aber dass es nicht über­all gesche­hen ist. Mensch­lich gespro­chen ist nicht mehr von­nö­ten, damit die­ser Pla­net ein Ort bleibt, wo Men­schen woh­nen kön­nen. “ Eich­mann, S. 278.] Es geht hier offen­kun­dig nicht um das Selbst, son­dern um irgend­ei­ne Ord­nung, etwas, von dem Unheil droht, wenn es aus den Fugen gerät.

Insti­tue­re - ein­rich­ten, wie­der recht machen, etwas wie­der ein­ren­ken: Wenn schon die Welt­weis­heit auf unse­ren Hän­den erstirbt, sofern wir ernst­haft die poli­ti­schen Ange­le­gen­hei­ten unse­rer Zeit wahr­neh­men wol­len, wie steht es mit dann mit der Welt­klug­heit, jenem ande­ren Ver­mö­gen, das im Ent­ste­hen der Span­nung zwi­schen Phi­lo­so­phie und Poli­tik in der Fra­ge um den Vor­rang des Höchs­ten sei­ner­zeit unter­lag? Wie sag­te doch Cato, auch einer jener Sprü­che, die für Han­nah Are­ndt eine her­aus­ra­gen­de Bedeu­tung hat­ten: Die sieg­rei­che Sache gefällt den Göt­tern, die unter­le­ge­ne aber gefällt Cato.

Im Buch ‚Über die Revo­lu­ti­on‘ greift Han­nah Are­ndt auf eine Kon­stel­la­ti­on zurück, in der sowohl, was die sei­ner­zeit betei­lig­ten Per­so­nen anbe­langt, als auch bezo­gen auf das, was die­se Per­so­nen, bewah­rend und erin­nernd mit zur Spra­che brin­gen konn­ten, sowie bezo­gen aus das, was dort auf dem Spiel stand, ein Aus­maß an Welt­klug­heit ver­sam­melt war, das seit­her nicht wie­der erreicht wor­den ist. Es heißt, John Adams hät­te Ver­fas­sun­gen gesam­melt wie ande­re Leu­te Brief­mar­ken. Aber auch hier bricht sie kei­ne Per­len her­aus, son­dern liest die fluch­be­la­de­ne Span­nung in die Zeit hin­ein: „Denn was an dem vor­re­vo-lutio­nä­ren poli­ti­schen Den­ken der Neu­zeit so außer­or­dent­lich auf­fal­lend ist, ist die allent-hal­ben zum Aus­druck kom­men­de Sor­ge um die Dau­er­haf­tig­keit und Sta­bi­li­tät eines reli­gi­ös eman­zi­pier­ten, rein welt­li­chen gesi­cher­ten Bezirks, zumal die­se Sor­ge in fla­gran­tem Wider­spruch zu dem all­ge­mei­nen Geist der Neu­zeit steht, wie er sich in den Wis­sen­schaf­ten, Küns­ten und selbst in der moder­nen Phi­lo­so­phie äußer­te. … Wenn also der Geist der Neu­zeit in allen rein „geis­ti­gen“ Belan­gen dar­an zu erken­nen ist, dass das Pro­zess­den­ken in ihnen herr­schend wird und alles in eine unab­seh­ba­re Bewe­gung des „Fort­schrei­tens“ reißt, so äußert sich der moder­ne poli­ti­sche Geist gera­de umge­kehrt in dem tie­fen Miss­trau­en gegen einen Gang der Welt, in dem Rei­che in stän­di­gem Wech­sel auf- und unter­ge­hen, also gegen einen Pro­zess, den alles vor­mo­der­ne poli­ti­sche Den­ken seit dem Beginn des Chris­ten­tums und dem Unter­gang des Römi­schen Rei­ches für unab­än­der­lich gehal­ten hatte.“[49. Über die Revo­lu­ti­on, S. 288.]

Seit Poly­bi­os gibt es ein lang­wäh­ren­des Gespräch unter sol­chen, die man am bes­ten als poli­ti­sche Schrift­stel­ler bezeich­nen kann, und in dem es dar­um geht, wie man am ehes­ten mit einer die Macht aus­ba­lan­cie­ren­den und gegen­sei­tig kon­trol­lie­ren­den ‚mixed con­s­ti-tuti­on‘ dem dau­ern­den Kreis­lauf von Ent­ste­hen und Ver­fall der Staats­for­men begeg­nen kann. Han­nah Arndt erin­nert an etwas, was ‚dem törich­ten anti­ame­ri­ka­ni­schen Geschrei­be bestimm­ter euro­päi­scher Lite­ra­ten­krei­se‘ ent­gan­gen ist, an die Dis­kus­si­on der grün­den­den Väter über die ins Auge fal­len­de Insta­bi­li­tät der Demo­kra­tien und die Gefah­ren der öffent­li­chen Mei­nung, denn eine Herr­schaft, die sich auf die öffent­li­che Mei­nung stützt, sei, so deren Auf­fas­sung, eine Art Tyran­nis, Demo­kra­tie eine Abart des Des­po­tis­mus. Die Herr­schaft einer öffent­li­chen Mei­nung wür­de jede ech­te Mei­nungs­bil­dung ersti­cken und wäre der ‚Tod einer jeden Mei­nung‘. Eine sol­che öffent­li­che Mei­nung war nicht nur der Tod des Sokra­tes, son­dern auch der Unter­gang der athe­ni­schen Polis. Der letz­te ver­zwei­fel­te Ver­such, nach der Ent­mach­tung des Areo­pag wie­der einen Rat ein­zu­rich­ten, kam zu spät.

Die grün­den­den Väter aber wer­den ihren Aris­to­te­les wohl gekannt haben, denn in poli­ti­schen Ange­le­gen­hei­ten hat die phro­ne­sis zwei Tei­le: einen urteilenden[50. Die in Mode gera­te­nen Ver­su­che, aus Kant’s Kri­tik der Urteils­kraft die ‚Grund­le­gung‘ einer neu­en Poli­ti­schen Phi­lo­so­phie her­aus zu destil­lie­ren, mögen ein inter­es­san­ter Zeit­ver­treib sein, allein, sie sprin­gen dann doch deut­lich zu kurz. Wer einen Weg aus dem Fluch her­aus­fin­den will, muss erst ein­mal in ihn hin­ein­kom­men. Die moder­nen Vari­an­ten: von Kant zu Hegel, von Hegel zu Kant und wie­der zurück, schei­nen mir da eher im Kreis zu lau­fen.] und einen bera­ten­den. Han­nah Are­ndt ver­merkt, dass im Unter­schied zur Ein­füh­rung des ’supre­me courts‘ als Hüter der Ver­fas­sung, die schon früh als ‚ein­zig­ar­ti­ger neu­er Bei­trag Ame­ri­kas zur Staats­wis­sen­schaft ver­stan­den wur­de, die ‚merk­wür­di­ge Ein­ma­lig­keit‘ des ame­ri­ka­ni­schen Senats ’nie­man­dem so recht auf­ge­fal­len‘ ist. Der Senat, „die Reprä­sen­ta­ti­on, d.h. die Begren­zung auf einen klei­nen, gewähl­ten Kreis von Bür­gern, soll­te vor allem einer Rei­ni­gung sowohl des Inter­es­ses wie der Mei­nungs­bil­dung die­nen, sie soll­te vor der ‚Ver­wir­rung der Men­ge‘ Schutz gewähren.“[51. Über die Revo­lu­ti­on, Mün­chen 1994, S. 291f.] Eine gerei­nig­te Mei­nung? Ist das nicht eine ganz unpas­sen­de Wort­ver­knüp­fung? Wir rei­ni­gen schmut­zi­ges Geschirr oder Fens­ter, aber eine Mei­nung? Sol­len wir etwa eine Mei­nung mit einem nas­sen Lap­pen abwa­schen? Man wird in dem Auf­mer­ken auf die­se stö­ren­de Unter­bre­chung in dem unge­wöhn­li­chen Wort ‚Rei­ni­gung‘ eine spä­te Ant­wort auf jene ‚Kathar­sis‘ her­aus hören, die von den Alten der Tra­gö­die, jener insti­tu­ier­ten, öffent­li­chen Aus­tra­gung des­sen, was gera­de auf dem Spiel steht, zuge­dacht war. [52. Wir brau­chen nicht mehr, son­dern weni­ger Demo­kra­tie. Der eine oder ande­re wird sich viel­leicht noch dar­an erin­nern, dass Horst See­ho­fer, nach­dem er mit einer völ­lig her­un­ter­ge­kom­me­nen und kor­rup­ten Mann­schaft erneut in Bay­ern die abso­lu­te Mehr­heit gewon­nen hat­te, uner­war­te­ter Wei­se plötz­lich auch der Idee von Ple­bis­zi­ten zuge­neigt war, der er zuvor eher ableh­nend gegen­über gestan­den hat­te. „Tech­nisch gespro­chen, ist die Alter­na­ti­ve zu einer gerei­nig­ten und reprä­sen­tier­ten Viel­falt von Mei­nun­gen das Ple­bis­zit, das in der Tat aufs genau­es­te der Herr­schaft der öffent­li­chen Mei­nung ent­spricht. Und genau wie die öffent­li­che Mei­nung in Wahr­heit der Tod aller Mei­nun­gen und Mei­nungs­bil­dung ist, so ist das Ple­bis­zit der Tod des Wahl­rechts, auf Grund des­sen die Bür­ger zum min­des­ten das Recht haben die Regie­rung zu wäh­len und sie zu kon­trol­lie­ren.“ Über die Revo­lu­ti­on, S. 294.]

Kazi­mierz Bran­dys, den ich ins­ge­heim mei­nen pol­ni­schen Opa nen­ne, nicht etwa, weil ich mit ihm ver­wandt oder ver­schwä­gert bin, son­dern nur, weil ich ger­ne einen sol­chen Opa gehabt hät­te. Wir aber hat­ten weder Opas, noch gar sol­che, die durch ihre Erzäh­lun­gen und die Dich­tung auch in dunk­ler Zeit die Erin­ne­run­gen an die Repu­blik hät­ten wach­hal­ten kön­nen. Wir hat­ten noch nie eine Repu­blik. Das ist bei den Polen anders. Kazi­mierz Bran­dys also hält sich Ende 1980 in Ber­lin auf. Er sieht mit den Augen und den Erin­ne­run­gen eines Polen auf uns. Er schreibt in sein ‚War­schau­er Tage­buch‘: „Der Spie­gel. Auf dem Titel­blatt ein sowje­ti­scher Pan­zer mit rotem Stern, der den mit aus­ge­brei­te­ten Flü­geln dalie­gen­den wei­ßen Adler nie­der­walzt. Die Nach­rich­ten wer­den immer bedroh­li­cher, vier­zig Pan­zer­di­vi­sio­nen. Bera­tung in Mos­kau. Kon­ter­re­vo­lu­ti­on in Polen. Alarm in der west­li­chen Pres­se. … Sie … die Deut­schen, die Fran­zo­sen, die Schwei­zer; bun­te Freß­py­ra­mi­den, hel­le, schim­mern­de Gän­ge der Super­märk­te, Dut­zen­de Sor­ten von Wurst, Kaf­fee, Scho­ko­la­de … Sie leben in einer Zivi­li­sa­ti­on, wir leben in einem Dra­ma. … Wir wer­den ein­an­der nie ver­ste­hen, sag­te ich, das wäre ein Dia­log zwi­schen den Über­sät­tig­ten und den Gefes­sel­ten. … Die Tages­schau des Fern­se­hens beginnt in Ber­lin fast täg­lich mit Nach­rich­ten über Polen . … Nicht nur Polen scheint der mons­trös wuchern­de Bauch des öst­li­chen Impe­ri­ums zu schlu­cken. Ganz West­eu­ro­pa liegt ver­klei­nert vor ihm, wie von Angst zusam­men­ge­schrumpft. Man muss sorg­fäl­tig zuhö­ren und lesen. Aus ihren Kom­men­ta­ren klingt ein ängst­li­ches Gefühl bio­lo­gi­scher Schwä­che, sie ken­nen ihre Müdig­keit, die Erschöp­fung einer alten Ras­se, die ihr eige­nes Blut scho­nen muss. Sie wol­len nicht ster­ben . … Ster­ben, wofür? Für das Vater­land, für einen Idee, um die Wür­de zu ver­tei­di­gen? Wes­sen Wür­de, was für eine Wür­de? Sie haben die Wirt­schafts­ge­mein­schaft und die Zivi­li­sa­ti­on. Man stirbt nicht für die Zivilisation.“[53. Bran­dys, War­schau­er Tage­buch, Die Mona­te davor 1978 - 1981, Frank­furt a. Main, 1984, S.232 - 236.]

Die Fähig­keit, Recht von Unrecht zu unter­schei­den heißt uns fra­gen, ob es recht so ist, wie es ist, heißt uns fra­gen, ob einem jeg­li­chen das zuteil wird, was ihm zukommt. Davon ist die Fra­ge, ob wir unse­ren nur eine Wei­le anhal­ten­den Auf­ent­halt wohn­lich ein­ge­rich­tet haben, nur ein Teil­aspekt. Das Wag­nis der Welt braucht Muti­ge. Mutig kann nur sein, wer auch Furcht hat. Erst mit dem los­las­sen­den Ver­las­sen des Bösen zieht es die dadurch wie­der Sterb­li­chen zum Gefähr­li­chen hin. Wo aber Gefahr ist, so wuss­te uns ein ande­rer zu sagen, der sich gut ver­stand mit den alten Dich­tern, wo aber Gefahr ist, ist das Ret­ten­de auch. Die Schla­fen­den aber brau­chen das Böse so nötig, wie die Erfah­rung der Frei­heit die Tra­gö­die braucht.

© Boris Bla­ha, Bre­men im Mai 2014