Zwischen Churchill und Senat
Eine Lektüre[1. Von den vielen Texten, die in eine Lektüre einfließen, will ich drei besonders hervorheben, die stets mitlesende Margaret Canovan, den Münchner Althistoriker Christian Meier und den Frankfurter Altphilologen Karl Reinhardt, der sowohl für Christian Meier als auch für Martin Heidegger eine inspirierende Quelle war. Wenn von all den vielen Texten, die meiner Aufmerksamkeit entgangen sind, auch welche sind, die hier hätten Beachtung finden sollen oder gar müssen, aber nicht fanden, ist dies allein mein Unvermögen. Was darüber hinaus die Widmung schon andeutet, ist der Dank an meinen Lehrer Zoltán Szankay - ohne ihn könnte ich so gar nicht lesen.] von Hannah Arendts 1965 gehaltener Vorlesung „Some Questions of Moral Philosophy“[2. Hannah Arendt: Über das Böse - Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, aus dem Nachlass herausgegeben von Jerome Kohn, aus dem Englischen übersetzt und mit editorischen Bemerkungen von Ursula Ludz, sowie einem Nachwort von Franziska Augstein, 2007, Piper Verlag, München; das unpassende Nachwort von Franziska Augstein strotzt nur so vor abstrusen Behauptungen. Eine kurze Kostprobe muss genügen: Hannah Arendt sei eine Kant-Kritikerin, weil Kant nach ihrem (H.A.) Gefühl zu deutsch sei. … Man möge doch bitte damit aufhören, Texte von Hannah Arendt, die einen gänzlich anderen Rang einnehmen, durch Beifügung solcher Machwerke zu missachten.] - gewidmet Zoltán Szankay zum 85sten
„Alle Moralität ist schlechterdings Sittengesetz
– eine Frage der »mores« – und nichts sonst.
Es hat mit dem Problem des Bösen überhaupt nichts zu tun.“
„Doch das Vertrackte an der Weisheit der Vergangenheit ist,
dass sie sozusagen auf unseren Händen stirbt, sobald wir sie ernsthaft
auf die zentralen politischen Erfahrungen unserer eigenen Zeit anzuwenden suchen.“
Mitte des Jahres 2013 ist hierzulande Berthold Beitz gestorben. Seine Familie setzte an den Anfang der Todesanzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Motto von Perikles, an dem sich, so hört man von solchen, die ihn lange kannten, schon der junge Berthold Beitz orientiert haben soll.
„Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit. Das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut.“
Auch über Berthold Beitz könnten wir, wenn wir nur einen Sinn dafür hätten, etwas sagen, was Hannah Arendt vor fast 50 Jahren über Winston Churchill sagte. Er würde uns wie eine Figur aus einem anderen Jahrhundert erscheinen.
Hannah Arendt beginnt ihre 1965 unter dem Titel ‚Some Questions of Moral Philosophy‘ gehaltene Vorlesung mit einer Erinnerung und einem Urteil. Sie erinnert an Winston Spencer Churchill, der Anfang des Jahres 1965 in London verstorben war und sie hebt ihn unter den Sterblichen als den größten Staatsmann unseres bisherigen Jahrhunderts hervor. Mit der Erinnerung bewahrt sie für uns das Andenken an den gerade erst verstorbenen Churchill. Mit dem Hervorheben nimmt sie Churchill aus dem Gleich-Gültigen heraus und lässt ihm den Rang zuteil werden, der ihm zukommt. Sie erweitert dieses zunächst ganz ‚subjektiv‘ erscheinende Urteil durch den Hinweis auf eine mit anderen geteilte Einschätzung, die sich nur auf Winston Churchill bezieht. „Man hat ihn eine aus dem 18. in das 20. Jahrhundert verschlagene Gestalt genannt, so als hätten die Tugenden der Vergangenheit sich unseres Schicksals in seiner verzweifelsten Krise angenommen.“ Mit dem Erinnern und dem Hervorheben bringt Hannah Arendt uns Churchill näher - können wir uns aber auf diese Nähe überhaupt schon einlassen?
Ist es nicht erstaunlich, dass in den meisten Kommentaren und Rezensionen zu diesem Text die schlichte Tatsache, dass Hannah Arendt gerade diese Vorlesung mit Winston Churchill beginnt - ganz unachtsam - einfach übergangen wird, als handele es sich bei diesem Anfang um eine Beiläufigkeit, etwas eher Nebensächliches, das vom eigentlichen Thema bloß ablenken würde?
Weil solche Leser immer schon über den Text hinaus sind, werde ich demgegenüber ein wenig bei diesem Anfang verweilen. Und ich werde bei dem Hinhören auf Hannah Arendts Text auch darauf achten, ob der ausgesprochen eigenmächtige deutsche Titel ‚Über das Böse‘ überhaupt gerechtfertigt werden kann. Geht es in dieser Vorlesung überhaupt um das Böse? Ist nicht vielmehr ein inzwischen schon verzweifeltes Festklammern an dem Bösen mehr zu- als aufschließend, etwas, womit wir uns - immer noch - ängstlich Absondern von dem, ‚was wirklich auf dem Spiel steht‘?
Sofern es nämlich um das Böse ginge, gibt es diejenigen, die sich wegen Arendts ‚Hanswurst‘ vor lauter Empörung gar nicht wieder einkriegen. Mit religiösem, gelegentlich gar fanatischem Eifer wollen sie in einer gewissen Habgier, koste es, was es wolle, ihre Dämonen und Teufel wieder haben. Es ist ein ganz eigenartiger Ton in den Anwürfen, die von dieser Seite an Hannah Arendt gerichtet werden. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es der Ton von Kindern ist, denen Hannah Arendt ihr Lieblingsspielzeug weggenommen hat.[3. vgl. Claude Lanzmann in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 26.05.2013.: „Es war ein schmutziger Prozess. Hannah Arendt, die ihn von weitem verfolgte, hat viel Schwachsinn über ihn geschrieben. Die Banalität des Bösen ist vor allem die Banalität der Schlussfolgerungen von Frau Arendt. Eichmann war kein blasser Bürokrat, sondern ein Teufel, ein fanatischer Antisemit, gewalttätig, korrupt.“ Man beachte den bemerkenswerten Versprecher: Claude Lanzmann, der 1962 keinerlei Interesse an dem Prozess in Jerusalem hatte und im Unterschied zu Hannah Arendt nicht über den Vorzug der Erfahrung des Wirklichen verfügt, bezichtigt H.A., ihn nur ‚von weitem‘ verfolgt zu haben.] Derweil geht es diesen Empörten gar nicht in erster Linie um das Individuum Adolf Eichmann, um genau jene einzelne Person, die erst dann zum Vorschein kommt, wenn man sie auf einem öffentlichen Schauplatz erscheinen lässt, und, zusammen mit anderen, darum ringt, ein angemessenes Urteil über sie zu fällen. Vom Bösen aus gesehen ist Eichmann eine Inkarnation, erst und, gemessen an den derzeitigen politischen Konstellationen, nur im öffentlichen Erscheinungsraum einer Gerichtsverhandlung, wird Adolf Eichmann dagegen ein exemplarisches, einzelnes und sterbliches Leben, das gezeigt, besprochen und beurteilt werden kann. Diese Empörten klammern sich an eine bestimmte Vorstellung des Bösen, etwas, das sie wie einen Paravent vor sich hin, zwischen sich und die Möglichkeit eines Einbruchs der Wirklichkeit stellen können, und dem gegenüber (dem Paravent) es ihnen erleichtert wird, nicht nur gut, sondern überhaupt sein zu können. Es geht ihnen, wie Hannah Arendt an anderer Stelle[4. vgl. Ich will verstehen, S. 84: „Ich würde behaupten, dass in der Vorstellung des Gut-sein-Wollens tatsächlich mein eigenes Selbst für mich von Wichtigkeit ist. In dem Augenblick, in dem ich politisch handle, bin ich nicht an mir interessiert, sondern an der Welt.“, sowie die Eintragung vom Februar 1966 im Denktagebuch: „Die Schwierigkeit der Selbstliebe bei Augustin in De Trinitate, Von den Dreien , „amans“ - „amatum“ - „amor“, fallen Eins und Zwei in Eines zusammen. Er zieht daraus die richtige Konsequenz, dass nur die Liebe geliebt wird - und sieht nicht, wie abscheulich das ist. Die Sentimentalität der Selbstliebe: das Sich-berauschen an Gefühlen statt an Gegenständen. Und auf dieser Sentimentalität beruht unsere ganze Moral! Inklusive der Möglichkeit des Altruismus.“, S. 648; es ist in diesem Zusammenhang auch durchaus bemerkenswert, dass im Unterschied zu jenen, die im Hochmut des selbstgefälligen Gut- und Anders Seins ihre Nase hoch tragen, diejenigen, die ihre Nase tatsächlich in den Dreck stecken, längst verstanden haben, dass das „Böse“ kein metaphysisch-ontologisches Wesensmerkmal einer zu entlarvenden Täterperson ist, dass es längst nicht mehr darum geht, was in der Person ist, sondern vielmehr um das, was sich als „mores“ zwischen den Personen etabliert. vgl. z.B. Christopher Browning: „Hannah Arendt schildert (…) Eichmann als „banalen Bürokraten“, als Rädchen im bürokratischen Getriebe. Zwar ist Eichmann sicherlich nicht das beste Beispiel für einen „banalen Bürokraten“, dennoch ist dieser Begriff zum Verständnis vieler Holocaust-Täter hilfreich. Hilberg und andere haben deutlich dokumentiert, in welchem Maße normale Bürokraten den Holocaust dadurch ermöglichten, dass sie Funktionen, die für den planmäßigen Massenmord unerlässlich waren, genauso routinemäßig ausübten wie ihre übrigen beruflichen Pflichten.“, Ganz normale Männer, S. 319.] bemerkt hat, mehr um sich selbst, als um die Welt, weswegen sie, sofern politisch etwas auf dem Spiel steht, gar keine Rolle spielen.[5. vgl. auch ihre Ausführungen zu Machiavelli‘s „vielfach missverstandenen Lehre, dass es in der Politik darum gehe, zu lernen „nicht gut zu sein“, nämlich nicht im Sinne christlicher Moralvorstellungen zu handeln.“ Über die Revolution, S. 43; diejenigen, die Hannah Arendt ein romantisches Festhalten an antiken Idealen unterstellen, denen in der gesellschaftlichen Moderne keine Bedeutung mehr beikäme, seien auf die kleine Geschichte hingewiesen, die Bo Lidegaard in seinem Buch ‚Die Ausnahme‘ erzählt. Die Dänen, darauf hatte schon Hannah Arendt nach der bahnbrechenden Studie von Leni Yahil im Eichmannbuch hingewiesen, bilden, was die Indifferenz, bzw. aktive Unterstützung der Vernichtung der europäischen Juden anbelangt, in Europa neben den Bulgaren die große Ausnahme. Einer der verantwortlichen Faktoren für diese Ausnahme ist die Tatsache, dass die Dänen in der Person Hartvig Frisch (Professor der Philosophie der Antike) schon in den 30ger Jahren jemanden wie Ernst Nolte hatten, dort allerdings ohne den entpolitisierenden Historikerstreit. Frisch hatte in dem Buch ‚Pest over Europe‘ anstelle des religiös/ideologischen den politischen Streit in den Vordergrund gestellt und darauf insistiert, dass es nicht um den Konflikt rechts/links ginge und schon gar nicht darum, in einer Volksfront mit dem Kommunismus gegen den Nazismus vorzugehen, sondern um eine ganz andere Frontstellung: die drei totalitären Systeme auf der einen Seite, zu diesen rechnete er Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus und die Sorge um eine rechtsstaatliche, demokratische Welt auf der anderen Seite. Das Buch, so Lidegaard, hatte entscheidenden Einfluss auf die dänische Regierungspolitik und sorgte dafür, dass frühzeitig in Dänemark die Verteidigung des Demokratisch-Politischen mit dem Patriotisch-Nationalen verknüpft wurde und vor allem von Seiten der Regierung vehement darauf geachtet wurde, dass totalitäre Ideologien in der politischen Öffentlichkeit keine Chance haben. In Dänemark, seit April 1940 von den Deutschen besetzt , fand Anfang Oktober 1943 die Judenaktion statt, in der Dänemark judenrein gemacht werden sollte. Die Dänen wurden frühzeitig gewarnt, viele dänische Juden konnten daher rechtzeitig fliehen. Etliche Juden waren in einem kleinen Fischerdorf von ca. 1700 Einwohnern im Norden Dänemarks gelandet und auf verschiedene Unterkünfte verteilt worden, unter anderem auch in der Kirche. Nachdem die Gestapo den geheiligten Zufluchtsort ‚Kirche‘ gestürmt und die dort gefundenen Juden deportiert hatte, bildete sich spontan im Dorf Gilleleje ein sogenanntes ‚Judenkomitee‘ aus zehn Bürgern. Lassen wir Bo Lidegaard erzählen: „Es liegen mehrere spätere Berichte über die Debatten dieser selbst ernannten Aktionsgruppe vor, und es ist wirklich erwähnenswert, was diese Männer antrieb: Für sie stand der Ruf von ganz Gilleleje auf dem Spiel, die Ehre ihres Gemeinderats und die aller Bürger. ‚In diesen Tagen wird in diesem Ort Geschichte geschrieben werden‘ erklärte der Schulrat an diesem Morgen und die Gruppe nickte, unisono überzeugt, dazu ausersehen worden zu sein, sich zu erheben und ihren Teil zu dem Kampf beizutragen, der bislang so fern von ihrem Dorf stattgefunden hatte. Es gab auch nicht die geringste Unstimmigkeit hinsichtlich der Aufgabe, die ihnen nun zufiel: die Juden, die von der Gestapo in der vergangenen Nacht nicht aufgespürt worden waren, mussten gerettet werden, koste es, was es wolle. Zuerst einmal musste man sie aus dem Dorf fortbringen, dann genügend Nahrung für jeden organisieren und schließlich für systematisch organisierte Transfers nach Schweden sorgen. … All das musste binnen Stunden geschehen, trotz der Ungewissheit, was die Gestapo als Nächstes plante. Tatsächlich scheinen die an dieser Verschwörung beteiligten Männer keinen Gedanken an das Schicksal verschwendet zu haben, das ihnen selbst drohte (Hervorh. von mir, B.B.), falls ihre Absicht aufflog. Sie haben darauf gebaut, dass kein Mitglied ihrer Gemeinde sie verraten würde – weder sie noch die Hunderte von Juden, die sich noch immer auf fast jedes Haus und jeden Stall verteilt versteckten. … Diese Männer waren weder jung noch politisch besonders engagiert, und schon gar nicht zählten sie zur politischen Extreme. … Sie waren, einer wie der andere, Lokalpatrioten und anerkannte Mitglieder ihrer kleinen Gemeinde … Keiner dieser Männer hatte je zuvor die Bühne der Geschichte betreten, und keiner von ihnen sollte jemals wieder auf ihr stehen. Sie wurden einzig und allein von der Überzeugung geleitet, dass die Lage sofortiges Handeln erforderte, und dass niemand besser in der Lage war als sie selbst, die Verantwortung zu übernehmen für das, was nun nötig war. … Mit einem Mal erschien es ihnen zwingend, das Heft in die Hand zu nehmen und der Welt zu demonstrieren, dass Gilleleje nicht bereit war, Mitschuld an einem Verbrechen zu tragen, sondern mit aller Macht versuchen wollte, dem Unrecht Einhalt zu gebieten. … Es gab keine Möglichkeit, einfach wegzusehen und so zu tun, als wisse man von nichts. Niemand war so taub, dass er das Klopfen an der Tür und das Flehen um Hilfe nicht hören konnte. Wenn denn all das, woran die christlichen Bürger von Gilleleje glaubten, all das, was ihnen von ihrem Pastor in der Kirche gepredigt wurde, auch nur den geringsten Sinn haben sollte, dann war dies der Moment, in dem sie sich vereint erheben mussten. Täten sie es nicht, dann stünde nicht nur der Ruf ihres Dorfes auf dem Spiel, sondern auch die gesamte Gesellschaftsordnung, die jene zehn Männer auf ihre jeweils eigene Weise repräsentierten, und die Demokratie, auf die sie eingeschworen waren, und der Respekt für jeden einzelnen Menschen, auf dem diese Demokratie beruhte.“ Bo Lidegaard, Die Ausnahme, Oktober 1943: Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen, München, 2013, S. 464 f; Die dänischen Bürger des Dorfes Gilleleje hatten verstanden, dass mit der Erstürmung des ‚heiligen‘ Schutzraumes der Kirche die gesamte Ordnung ihres Dorfes auf dem Spiel stand, sie haben den Schutzraum aus der christlichen Eingrenzung befreit, das Geschehen der ‚Schutzflehenden‘ politisch wiederholt und gemeinsam die Frage beantwortet: Was sollen wir mit Ihnen machen. Hannah Arendt hatte im Eichmannbuch die Geschichte des dänischen Widerstandes allen Studenten der politischen Wissenschaft als Pflichtlektüre empfohlen - es ist bezeichnend, dass das Buch von Hartvig Frisch bis heute nicht einmal als englische Übersetzung vorliegt, von einer deutschen gar nicht zu reden.]
Aber auch die anderen, Hannah Arendt gegenüber durchaus wohlgesonnenen, kommen irgendwie von Eichmann, ob nun als Inkarnation oder Banalität des Bösen, nicht los. Einer gängigen Einschätzung nach, soll Arendt so erschüttert von den Reaktionen auf ihr Eichmannbuch gewesen sein, dass die Vorlesung so etwas wie eine daraus erwachsene notwendige Selbstverständigung sein soll. Geht es bei Hannah Arendt um das Selbst? Es liegt wohl an dieser seltsamen Einschätzung, dass die Übersetzerin und Herausgeberin, Frau Ursula Ludz, einer dieser ‚Piperschen Propagandaideen‘ erlegen ist und der Eigenmächtigkeit des deutschen Titels ‚Über das Böse‘ zugestimmt hat. Lassen Sie uns also besser auf den Text, als auf den Verleger hören. Von welcher Erschütterung spricht denn die Quelle?
Hannah Arendt beginnt 1965 ihre Vorlesung mit Winston Churchill. Sie hebt ihn für Ihre Gegenwart als den größten Staatsmann hervor, größer als andere Staatsmänner des zwanzigsten Jahrhunderts. Kennedy wurde zwei Jahre zuvor umgebracht, Roosevelt, Wilson, Ghandi oder ganz andere könnten ja durchaus auch Anspruch auf diesen Titel geltend machen. In gewisser Weise kann man auch Stalin und Hitler Größe, sofern man Größe auf den Einfluss auf andere oder die Höhe des Leichenberges bezieht, nicht ganz absprechen. Aber diese Namen werden nicht genannt. Hannah Arendt beginnt mit Churchill.[6. Man möge mir die Penetranz, mit der ich auf diesem Punkt herumreite, verzeihen. Es ist eigentlich nicht meine Art. Es ist mehr eine Reaktion auf die Erfahrung, dass so viele vor diesem Anfang davonlaufen. Man möchte ein Seil nehmen, sie einfangen und wieder zurück binden.] Warum Churchill? Was ist das Exemplarische an Churchill, weswegen sie ausgerechnet eine Vorlesung über Moralphilosophie mit ihm beginnt, denn zu den namhaften Moralphilosophen würde man Churchill ja nicht unbedingt zurechnen. Auch aus der Hinsicht derer, die Gut-sein-wollen, lässt sich Winston Churchill schwerlich als leuchtendes Vorbild moralischer Erhabenheit hinstellen, man denke nur an seine etwas dubiose Rolle in der Auseinandersetzung um den Untergang des Passagierdampfers RMS Lusitania. Was also macht seine Größe hier aus?
Da gibt es einmal die Größe, ‚die nie endende Bemühung, der Beste von allen zu sein‘, als Rangordnung in der Galerie der Großen, als Unterschied in der Größe im Hinblick auf ein bestimmtes Ideal von Größe überhaupt, jene ‚zeitlose Höhe des menschlichen Geistes‘, die Arendt auch erwähnt. Etwas despektierlich könnte man es als Perspektive einer musealen Zurschaustellung bezeichnen. Aber das ist hier nicht der entscheidende Punkt, den Hannah Arendt unserer Achtsamkeit nahe bringen will. Nicht nur größer als, sondern der Größte: Über einen zweiten Superlativ stellt ihr Text den ‚größten Staatsmann, den unser Jahrhundert bisher hatte‘ mit der ‚verzweifelsten Krise‘ in einen ganz außergewöhnlichen Bezug, eine Konstellation, die eine machiavell‘sche Stimme hervorruft, eine Stimme, die man, hört man nicht achtsam genug hin, leicht überhören kann, die jedoch gerade an diesem Anfang die alles entscheidende Stimme ist.
Fortuna hat es zufällig doch noch gut mit uns gemeint, und uns in unserem Schicksal der verzweifelsten Krise einen geschickt, dessen Virtuosität (virtu) mittlerweile so selten geworden ist, dass man den Eindruck hat, er sei von einem anderen Jahrhundert eigens deshalb zu uns verschlagen worden, um uns in unserer Zeit höchster Gefährdung als Gefährte beizustehen. Es geht nicht um die Größe[7. vgl. zu ‚Größe‘ Arendts Ausführungen in ‚Natur und Geschichte‘ in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, Übungen im politischen Denken I, München, Zürich, 1994, S. 60ff.] des Staatsmannes allein und auch nicht nur um die größte Krise, die wir dann irgendwie ökonomisch, historisch, rational wegerklären können, indem wir sie in einen geschichtlichen Gesamtzusammenhang einsortieren, sondern um dieses Verhältnis als Verhältnis, als ein ganz besonderes Verhältnis, an dem ganz kurz etwas aufblitzt, das nicht vergangen, aber, vor allem im westlichen Kontinentaleuropa, weitgehend verschwunden ist. „Virtu“ ist nie ohne „fortuna“ und „fortuna“ gibt es nicht ohne „virtu“, wer „fortuna“ hat, dem spielt die Welt ihre Bälle als Chancen zu, damit er sie auffange und mit ihnen jongliere; wer „virtu“ hat, dem hat sich die Welt in der „fortuna“ geöffnet und biete ihm ihre Chancen an, schreibt Hannah Arendt in ‚Was ist Autorität‘. Bälle der Welt kann aber nur auffangen, wer ihr zugeneigt ist, wer wenigstens ein Fenster zur Straße offen hat und, besser noch, wer sich ohne Gestell mit offenen Händen in einer auch von den anderen mit gehaltenen Welt aufhalten kann.
Die Größe Churchills bemisst sich in einer Hinsicht in dem Abstand, dem Rangunterschied, den er zu dem einnimmt, was Arendt ‚Zeitgeist‘ nennt, denn im Unterschied zu diesem, der sich in ‚Klischees, gängigen Redewendungen, konventionellen, standardisierten Kodices vor der Wirklichkeit schützt, kann Churchill sich den Tatsachen in einer widerstehenden Weise konfrontieren, in einer Weise konfrontieren, die Zoltán Szankay uns mit einem Wort von Ernesto Laclau verdeutlicht hat. „To understand social reality, then, is not to understand what society is, but what prevents it from being.“
Arendt zitiert eine Stelle aus Churchills ‚My early Life‘, 1930 herausgekommen: „Kaum etwas von den Dingen, den eingerichteten oder schon lange bestehenden, von denen man mir beibrachte, sie für dauerhaft und lebensnotwendig zu halten, hat überdauert. Nahezu alles, von dem sowohl ich, als auch diejenigen, die es mich so anzusehen lehrten, sicher waren, dass es unmöglich geschehen kann, hat sich dennoch ereignet.“[8. vgl. Arendt, Über das Böse, S. 10. „Scarcely anything, material or established, which I was brought up to believe was permanent and vital, has lasted. Everything I was sure, or was taught to be sure, was impossible, has happened.“ Das von der Herausgeberin nicht nachgewiesene Zitat lautet in der deutschen Übersetzung von Dagobert von Mikusch: „Kaum irgend etwas in geistiger oder materieller Beziehung, das als feststehend, unverrückbar und unverlierbar anzusehen mir beigebracht wurde, hat standgehalten. Alles das ist eingetreten, was mir als schlechthin unmöglich erschien oder was ich für unmöglich zu halten gelehrt wurde.“ Meine Frühen Jahre, Zürich, 1965, S. 128; siehe auch die Eintragung im Denktagebuch , S. 638.] (Übersetzung von mir, B.B.) Die Wahrnehmung als solche, dass nichts mehr so ist, wie es einst gewesen, ist nicht das Exemplarische an Churchill, auch andere aufmerksame Geister der Zeit registrierten durchaus die epochalen Erschütterungen.[9. vgl. Pfeil ins Blaue, S. 141: „Um 1922 wurde mein Vater der Kompagnon eines alten Wiener Textilimporteurs. Nach meines Vaters Gewohnheit, Geschäfte auf ‚amerikanische‘ Art zu tätigen, wurde kein geschriebener Vertrag ausgefertigt und alles auf gegenseitigem Vertrauen aufgebaut. Doch dies waren die Jahre der österreichischen Inflation, als achtbare Hausfrauen sich prostituierten, um ihre Familien über Wasser zu halten und achtbare Häuser Devisenspekulationen betrieben. Aus diesem Hexensabbat, der den zentraleuropäischen Mittelstand für immer an Leib und Seele zerstörte, erwuchsen die Dämpfe der totalitären Ideologien; es war der Anfang vom Ende im Donau-Becken und östlich des Rheins. Kein Wunder, dass Herr W., Spross mehrerer Generationen von angesehenen Kaufleuten, den Hexenbesen bestieg und meinen arglosen Vater betrog.“ Man beachte auch die Spur des gegenseitigen Versprechens, die sich in der Formulierung ‚Geschäfte auf amerikanische Art‘ erhalten hat. Koestler schreibt dies bereits aus der Rückschau. Im Moment des Gegenwärtigen, flüchtete er wie viele andere in die Ideologie als verdeckende Illusion. Vgl. auch die beeindruckende Schilderung von Sebastian Haffner über den Zusammenbruch der altehrwürdigen Institution des Berliner Kammergerichts in „Geschichte eines Deutschen, Die Erinnerungen 1914 – 1933, Stuttgart-München, 2001, S. 148ff, insb. S. 181: „Es war nicht nur das Kammergericht, von dem ich damals Abschied zu nehmen hatte. »Abschied« war die Parole geworden – durchgehend, radikal und ausnahmslos. Die Welt, in der ich gelebt hatte, löste sich auf, verschwand, wurde unsichtbar, täglich und selbstverständlich, in aller Lautlosigkeit.“ Im ‚Lautlosen‘ hören wir gerade das, was wir nicht hören - man spricht nicht darüber, auch Haffner geht, bedrückt und niedergeschlagen, nur mit sich selbst im stillen Zwiegespräch, nach Hause.] Churchill aber flüchtet nicht und hält dem Blick in das Abgründige - mit lachendem Mut - stand. Churchill hatte frühzeitig etwas wahrgenommen, was einige Jahre später Zygmunt Baumann so ausdrückte: „Der Holocaust war kein Bild an der Wand, sondern ein Fenster, durch das Dinge sichtbar wurden, die normalerweise unentdeckt bleiben. Und was zum Vorschein kam, geht nicht nur die Urheber, die Opfer und die Zeugen des Verbrechens etwas an, sondern ist von größter Bedeutung für alle, die heute leben und auch in Zukunft leben wollen. Der Blick durch dieses Fenster verstörte mich zutiefst, aber je bedrückter ich wurde, desto mehr wuchs in mir die Überzeugung, dass es äußerst gefährlich ist, diesen Blick nicht zu tun.“[10. Baumann, Zygmunt: Dialektik der Ordnung, S. 8.] Es ist daher nur konsequent, dass eine Erwähnung Churchills in ‚Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft‘ ihn mit der einzigen echten politischen Neugründung des zwanzigsten Jahrhunderts in Verbindung bringt. Denn anders als der Kontinent wusste ‚England Verdienst und Glück zu verketten.[11. vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 357; in der Wendung ‚Verkettung von Verdienst und Glück‘, hört man Goethes Version von Machiavellis ‚virtu und fortuna‘.] Haben wir Kontinentalen also unsere politische Lektion überhaupt schon gelernt?
Arendt beginnt ihre Vorlesung mit Churchill, weil der Einbruch von etwas Realem in die Erfahrung einen Zeugen und Berichterstatter benötigt, einen, der dem Einbruch standhält und, verstehend, was auf dem Spiel steht, diese Erfahrung als Wirklichkeit in die Welt der Sterblichen durch sein Sagen was ist, überträgt. Das Wirkliche ist erst wirklich durch dieses übertragende ‚es den anderen berichten‘. Arendt unterscheidet den ‚politischen‘ Berichterstatter sowohl vom ‚philosophischen Wahrheitssager‘ als auch vom ‚religiösen Offenbarungsverkünder‘ und sie unterscheidet darüber hinaus Wirklichkeit von Realität, denn zur gemeinsam mit anderen geteilten Realität kann der Wirklichkeitsübertrag des Boten erst werden, wenn wir mit anderen auf ihn hören und ihn als gemeinsame Realität anerkennen.[12. vgl. „Denn die Wirklichkeit, in der wir leben, bedarf, wenn ihr Einfluss auf uns den Augenblick der lebendigen Erfahrung überdauern soll, der Sprache, sie bedarf der Rede und des Mitteilens, der Kommunikation mit anderen, um als Realität bestehen zu bleiben.“, Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus, In der Gegenwart, München, 2012, S. 98.]Was aber diese uns zugesprochene Wirklichkeit uns bedeutet, das ist eine ganz andere, ausgesprochen strittige Frage. Churchill’s Sagen was ist, ist für uns die Quelle der schockhaften Erfahrung, dass zweitausendfünfhundert Jahre Moralphilosophie über Nacht nackt dastehen, dass Moral nichts anders ist als mores, etwas wie Tischsitten, die jederzeit und ohne Mühe durch andere Sitten ersetzt werden können. Was wir bislang ganz selbstverständlich als haltgebende Orientierung unseres Handelns angenommen haben, ist über Nacht anders geworden und Churchill ist diese Quelle in einem ganz präzisen, gegenwärtigen und wahrhaftigen Sinne. Churchills exemplarische Größe, seine hervorragende Virtuosität als Bote dieser Erfahrung ist der Dreh- und Angelpunkt der Vorlesung, was es um so denkwürdiger macht, dass man seiner nicht einmal erwähnt. Ohne ihn macht nämlich die ganze Vorlesung gar keinen Sinn.[13. Wie ungewöhnlich das bloße Sagen dessen, was ist, inzwischen geworden ist, zeigt sich auch noch an einer anderen verlegerischen Fehlentscheidung. Timothy Garton Ash nannte seine erzählenden Berichte aus den Zentren Mitteleuropas in der Zeit der politischen Aufbrüche ‚History of the Present‘, woraus, erheblich verschlimmbessert, im Deutschen, ‚Zeit der Freiheit‘ gemacht wurde. Ganz bewusst gegen die gängige Vorstellung der Historikerzunft, mit Geschichte könne man erst anfangen, wenn alles längst vergangen ist und Staub in den Archiven angesetzt hat, verweist Timothy Garton Ash in seiner Einleitung auf den hochgelehrten Ideengeschichtler Reinhart Koselleck, der bemerkt hat, das es von Thukydides bis weit ins 18. Jahrhundert hinein ‚gerade der Augenzeuge oder besser noch der an den Ereignissen unmittelbar Beteiligte war, der sich besonders als Geschichtsschreiber qualifizierte‘.] Hatte nicht gerade Hannah Arendt uns immer wieder auf die hervorragende Bedeutung des Anfangs aufmerksam gemacht? Was bedeutet es, das man gerade hier, an dieser Stelle, diesen Anfang so konsequent missachtet? Steckt vielleicht gar mehr dahinter? Hannah Arendt beginnt mit Winston Churchill, „um auf die auch hier (Hervorh. von mir, B.B.) dahinter oder darunter liegenden Erfahrungen aufmerksam zu machen.“[14. Über das Böse, S. 10.] Das hier darunterliegende ist aber etwas gänzlich anderes, als das cartesische, seiner Selbst-Gewissheit nachstellende Subjekt.
Aus Churchills Erfahrung hören wir, das macht jenen Aspekt der Größe aus, die als Tugenden der Vergangenheit hier kurz aufblitzen, eine Sorge um die Stabilität und Dauerhaftigkeit der Welt, eine Sorge, die in vorrevolutionären Zeiten, wie Hannah Arendt in ‚Über die Revolution‘ breiter ausführt, noch weit verbreitet war, eine Sorge, welche maßgebend die politischen Anstrengungen der Gründerväter der Amerikanischen Republik angeleitet hat, eine Sorge, die hingegen in Kontinentaleuropa nach der Französischen Revolution hinter einem Fortschrittsdenken verschwand, das sich immer weiter von der Gegenwart entfernte und seine Heils-Hoffnungen auf illusionäre Zukunften verschob.
Wir sind noch nicht sehr weit im Text fortgeschritten. Wenden wir uns noch einmal zurück an den Teil vor dem Anfang und rekapitulieren den Titel, den Hannah Arendt für diese Vorlesung festgelegt hat: Some Questions of Moral Philosophy. Das entscheidende Wörtchen ist hier „of“, denn durch dieses ‚of‘ entsteht eine gewisse Spannung zwischen dem Originaltitel der Vorlesung und der Tatsache, dass diese Vorlesung mit Winston Churchill’s Erfahrung beginnt, eine Spannung zwischen der Sorge um die Stabilität und Dauerhaftigkeit der Welt auf der einen und den Fragen und Problemen, mit denen sich die Moral-Philosophie beschäftigt, auf der anderen Seite. All das leichtfertige Gerede über Rohfassung, Unsystematik und dergleichen, ist hier ganz fehl am Platze und nur dem geschuldet, dass man den roten Faden nicht findet, weil man schon den Anfang verfehlt hat. Die Spannung zwischen Titel und Anfang der Vorlesung markiert präzise jenen Ort, von dem her sich die Texte Hannah Arendts entfalten, jene bis an ‚Feindseligkeit grenzende Spannung zwischen Philosophie und Politik‘, die wie ein Fluch auf der abendländischen Geschichte lastet.[15. vgl. Über die Revolution, Fußnote 1 zum 6. Kapitel, S. 395. Man kann solche und ähnliche Zitate nicht oft genug jenen Ignoranten vorhalten, die gedankenlos Hannah Arendt in eine scheinbar ungebrochene Tradition ‚politischer Philosophie‘ einreihen wollen. Hannah Arendt ist dagegen sehr deutlich: Die politische Philosophie beginnt nach Sokrates Tod mit Platon und Aristoteles und sie findet, trotz aller mehr oder weniger verzweifelter Umkehrungen mit Marx ihr definitives Ende. Alle Pfade, die mit den Mitteln dieser Tradition politisch beschritten worden sind, haben im Terror oder der Tyrannei geendet.„Es muss etwas fundamental Falsches in aller politischen Philosophie stecken.“ (Denktagebuch, I, S. 253).]
Churchills Bericht teilt uns schon 1930 mit, dass alles, was wir seit mehr als zweitausendfünfhundert Jahren ganz selbstverständlich über Moral zu wissen glaubten, ‚ohne Vorwarnung über Nacht‘ zusammengebrochen ist. Während wir uns seit fast ewigen Zeiten fest darauf verlassen haben, das uns die göttliche Stimme des Gewissens oder die universelle Stimme der Vernunft in verzweifelten Krisen schon sagen werden, was wir tun sollen, fällt das erhabene und scheinbar festgefügte Gebäude der Moralphilosophie urplötzlich in sich zusammen, Moral steht gänzlich ohne philosophische Kleider ganz nackt da und erweist sich in Momenten besonderer Sichtbarkeit in aller Öffentlichkeit als das, was es vor der Philosophie war, eben nichts weiter als ‚mores‘. Der ganze philosophische Aufputz, die ganze Erhabenheit ist plötzlich verschwunden, Moral besteht nur aus ein paar Gebräuchen und Konventionen, die jederzeit und beliebig änderbar sind[16. Gegen die auch in der Arendt Gemeinde noch weitverbreitete Meinung, dass gerade bei den Tätern ein völliger Zusammenbruch der Moral stattgefunden hätte, greift Harald Welzer – vierzig Jahre später - Hannah Arendts Einsicht von der Grundlosigkeit der ‚mores‘ auf und schreibt, wenn auch mit zitternder Feder, über den Massenmörder und Kommandanten von Sobibor und Treblinka, Franz Stangl: „ … hat er nichts anderes getan, als sich einerseits im Rahmen zeitgenössischer normativer Standards, wissenschaftlicher Lehrmeinungen, militärischer Pflichtauffassungen und kanonisierter Ehrendefinitionen zu verhalten und andererseits sich ebenso zeitgenössischer Definitionen von moralischem Verhalten zu versichern.“ Täter, Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, S. 30.]. Die plötzlich neue Sichtbarkeit ermöglicht eine Rückschau, zu Churchills Größe gesellt sich nun auch Nietzsche, dessen ‚bleibende Größe darin liegt, dass er zu zeigen wagte, wie schäbig und bedeutungslos Moral geworden war‘.[17. Über das Böse, S. 13.] Doch man muss hier präzise sein: zusammengebrochen ist nicht die Moral, wie nicht wenige immer noch meinen und sich damit der Illusion hingeben, man hätte davor eine gesicherte gehabt und könne auch danach wieder eine auf Gewissheiten gegründete bekommen. Zusammengebrochen ist die Moral-Philosophie und die Moral-Theologie, also jene Vorstellungen, die versprachen, man könne mit außerweltlichen Maßstäben Welt haltbar und stabil machen. Zusammengebrochen ist ‚nur‘ die verdeckende Hülle, die die Philosophie um die Politik herum gestellt hat. Viel zu lange waren wir mit Blindheit geschlagen und sind erst jetzt aus einem langen Traum erwacht: Heute, das macht unsere gegenwärtige, ganz besondere Konstellation aus, können wir bemerken, dass die politische Fragwürdigkeit der ‚mores‘ urplötzlich wieder in seiner vollen Sichtbarkeit erscheint. Könnten wir dann nicht einfach die ganze Moralphilosophie zum Fenster hinaus schmeißen? Nicht ganz, zuvor sollten wir die Spannung öffentlich auf die Bühne bringen und den Unterschied sicht-, und in einer Weise beredbar machen, dass gemeinsam darüber geurteilt werden kann.
Hannah Arendt lädt uns mit dieser Vorlesung ein, das bislang aufgeschobene Gespräch mit Winston Churchill anzufangen. Die Einschätzung Churchills als einer Figur aus dem 18. Jahrhundert, die es nur zufällig in unser Jahrhundert verschlagen hat, hat neben dem zeitlichen mehr noch einen räumlichen Aspekt. Wir und Churchill halten uns nicht am selben Ort auf. Um zu einem sinnvollen Gespräch mit ihm zu kommen, müssen wir erst in Bewegung geraten und einen Zugang zu dem Ort finden, an dem Churchill noch oder schon ist. Um in Bewegung zu geraten, bedarf es einiger vorbereitender Übungen, von denen die erste das Aufwachen ist. Wer schläft, bewegt sich gewöhnlich nicht von der Stelle. An mehreren Stellen der Vorlesung spricht Hannah Arendt von dem moralischen Problem, das lange im Schlummer gelegen hat. Über diese Konstellation: das schlafende Problem, das plötzlich in die Sichtbarkeit geraten ist, die Schlafenden, die die plötzliche Sichtbarkeit noch nicht wahrhaben und lieber ihren Traum fortsetzen wollen, sowie die vereinzelten, bereits aufgewachten Herausragenden, deren virtu es fortuna ermöglicht, die neue Sichtbarkeit in die Wirklichkeit zu tragen und die mehr oder weniger verzweifelt versuchen, die Schlafenden aufzuwecken, stellt Hannah Arendt im Rahmen der Spannung zwischen Philosophie und Politik eine besondere Beziehung her zwischen dem moralischen ‚Problem‘ damals und heute, Churchill im zwanzigsten Jahrhundert und Sokrates zu Beginn des Entstehens der Spannung.
Es sei kurz daran erinnert, dass Churchill eine Sammlung seiner Reden, in denen er unablässig und mit geradezu bewundernswerter Hartnäckigkeit, zum Teil politisch fast vollständig isoliert seit 1932 im englischen Unterhaus gegen die ‚moralischen‘ Illusionen seiner Landsleute und vor allem seines Premierministers vor der drohenden Gefahr für die Daseinsordnung Großbritanniens warnte, für den amerikanischen Markt ‚While England slept‘ betitelt hat, Roosevelt hatte das Buch auf seinem Nachttisch liegen und John F. Kennedy, der sich ausführlich mit diesem Buch und den darin enthaltenen politischen Erfahrungen beschäftigt hat, nannte seine 1940 veröffentlichte Master Thesis „Why England slept“. Anders als auf dem Kontinent hat das Aufwachende dort schon gewisse Kreise gezogen.
In Arendts Vorlesung geht es weder um das Böse, noch um die Täter, sondern um die viel unheimlichere Tatsache, dass all die vielen ganz gewöhnlichen Leute, die nicht aus Überzeugung handelten, die keine Nazis waren, die sich im ’normalen‘ bürgerlichen Sinne, erst recht im streng juristischen Sinne, an keinen strafbaren Handlungen beteiligten, dass sich diejenigen, die man gerne die ’schweigende Mehrheit‘ nennt, ebenso gut an die Nazi-Moral anpassen konnten, wie an die ‚Rückkehr zur Normalität-Moral‘ nach 1945. Zugespitzter: Das eigentliche moralische Problem wird nicht durch die Täter hervorgerufen, sondern durch die Nicht-Täter, und vielleicht sollte man an dieser Stelle besser sagen, die Nicht-Handelnden und Nicht-Urteilenden. Das eigentlich denkwürdige Phänomen ist, das eine Gesellschaft problemlos von der einen Moral in die andere wechselt und, nachdem die Nazi-Moral nicht mehr allgemein anerkannt war, auch genauso problemlos wieder zu einer liberalen, toleranten, an universellen Menschenrechten orientierten Moral zurück-kehren kann. Es wird gewöhnlich übersehen, dass Hannah Arendt hier von einem zweimaligen totalen Zusammenbruch einer moralischen Ordnung spricht, vor 1945 und von 1945 bis heute. Die sogenannte „Rückkehr zur Normalität“ ist, politisch gesprochen, ein höchst gefährliches Weiterschlafen.[18. Nichts demonstriert dies deutlicher, als die nur mit hohem Tabuisierungsaufwand zu verdrängende Tatsache, dass vor unser aller Augen 1995 der erste Völkermord nach Auschwitz geschehen konnte, und von all jenen, die ansonsten bei jeder Aktion gegen rechts ihre gute Gesinnung zur Schau tragen, keiner zu sehen und keiner zu hören war. Die für mich beeindruckendsten Texte dieser anhaltenden Indifferenz hat Susan Sontag verfasst: „Warten auf Godot in Sarajewo“ und „Hier und Da“, beides in: Worauf es ankommt, Frankfurt a. Main, 2007.]
Was bedeutet es, dass die Moral plötzlich, und zwar zweimal,‘ ohne Hüllen‘ dasteht? Bezogen auf den Vorlesungstitel ‚Some Questions of Moral Philosophy‘ heißt dies nichts anderes, als dass die Moral jetzt wieder alleine dasteht, ohne die Philosophie, denn diese, die mit dem Beginn der politischen Philosophie lange Zeit den alleinigen Anspruch erhoben hatte, der Moral den Maßstab vorzugeben, hat, um im Bild zu bleiben, die Hosen herunter gelassen. Die Moral hat sich wieder von der Philosophie getrennt. Das Band, das entstanden ist, als die Philosophie und die Theologie sich von der Welt und den Menschen absonderten und mit un-menschlichen und un-weltlichen Maßstäben aus der Wüste wieder zurückkehrten, um von nun an das Richtmaß der selbstverständlichen Gewissheit vorzugeben, dieses Band ist zerrissen. Die ‚mores‘ treiben richtungslos den Launen und Zufällen der Zeit ausgesetzt hin und her. Mores ohne Maßstäbe werden maßlos, Menschen, die sich in einer solchen Wüste aufhalten, werden haltlos. Etwas ist völlig aus den Fugen geraten.Ohne Philosophie als maßgebendes Element sind wir in den Fragen des verfassten Daseins wieder an den Anfang zurückgeworfen. ‚Some Questions of Moral Philosophie‘ heißt auch, dass uns die ohnmächtig gewordene Philosophie die Fragen der Moral wieder vor die Füße geschmissen hat und wir das Politische, das Philosophische und den Bezug dazwischen erneut zu fassen haben. Ohne die schützende und verdeckende Hülle der Philosophie steht das Problem nach zweitausendfünfhundert Jahren hier und jetzt wieder in aller Öffentlichkeit nackt und sichtbar da. Sichtbar allerdings nicht für jeden, sondern nur für den, der sich neigt. Wir sind damit, jetzt und heute, in einer ganz besonderen Situation.
Goldunbestechlich hab ich dieses Tribunal,
Unschuldvertretend, zornesschnell, den Schlafenden
Zur immerwachen Hut des Landes eingesetzt
Aischylos, Eumeniden
Von den ‚Dingen die nicht überdauert haben‘, sagt Hannah Arendt, wendet sie sich in dieser Vorlesung nur den moralischen zu. Sie qualifiziert die moralischen als jene Fragen, durch die wir in die Lage versetzt werden, Recht von Unrecht zu unterscheiden, Andere und uns selbst zu beurteilen. Wir sagen ja auch: ‚etwas ist recht so‘ und meinen damit etwas ist so, wie es, ordentlich gefügt, sein soll. Die für unser heutiges Ohr vertauschte Reihenfolge[19. Die vertauschte Reihenfolge verweist als Umkehrung auf genau jene sokratische ‚paradoxe Lösung‘, mit der das Selbst erfunden wird, und die Übereinstimmung mit sich Selbst in den Vorrang gegenüber der Übereinstimmung mit anderen gesetzt wird. vgl. Über Das Böse, S. 70.] ist bedeutsam: erst um Andere, dann uns selbst. Damit wird der Aspekt der Neigung in den Vorrang gerückt. Recht von Unrecht zu unterscheiden, wenn es um mich selbst geht, kann ich auch im einsamen und stummen Zwiegespräch mit mir selbst, jederzeit und an jedem beliebigen Ort. Recht von Unrecht unterscheiden und darüber zu urteilen, sofern es um die Anderen oder gar um ganz bestimmte Andere geht, kann ich dagegen nur, wenn ich mich den Anderen zuneige, wenn ich für die Anderen vernehmbar spreche und wenn es für dieses Sprechen einen gesetzten öffentlichen Raum gibt, der solche Sprech-Orte und Sprech-Bezüge haltend eingerichtet, instituiert hat.
Der Horror in seinem sprachlosen Entsetzen, hat die Wahrnehmung des Problems noch behindert, es wacht aus dem Schlummer erst auf, wenn die Menschen allmählich die Sprache wiederfinden und anfangen, mit- und übereinander zu sprechen. Hannah Arendt lenkt daher unsere Aufmerksamkeit auf die Gerichtsverhandlungen der Kriegsverbrecherprozesse, die, nebenbei bemerkt, maßgebend von den Amerikanern initiiert wurden. Stalin wollte, so wird kolportiert, mindestens 50.000 Nazis einfach umbringen und damit das totalitäre Modell der Säuberung auf Deutschland übertragen, Großbritannien präferierte zunächst eine ’napoleonische‘ Lösung und änderte erst später seine Meinung.
Die Hinwendung zu einer Gerichtsverhandlung erscheint auf den ersten Blick wie eine ‚unsystematische‘ Abweichung, denn es sollte doch nur um die moralischen und gerade nicht um die juristischen Dinge gehen. Auf die durchaus diskussionswürdige (mangelhafte) juristische Aufarbeitung wollte Hannah Arendt ja explizit gar nicht näher eingehen. Diese Hinwendung ist indes ebenso wenig beiläufig, wie der Anfang mit Churchill zufällig ist, hat sich doch in einer Gerichtsverhandlung, fast unbeschadet von den Verwüstungen rund herum, ein Ort erhalten, an dem all das zum Vorschein kommt, worauf es, politisch gesprochen, beim Urteilen ankommt. Die hohe Bedeutsamkeit dieser letzten übrig gebliebenen Oase eines öffentlichen Urteilens zeigt sich auch an einer Bemerkung Hitlers, die Hannah Arendt hier erwähnt: ‚Hitler erhoffe sich den Tag, an dem es in Deutschland für eine Schande gehalten würde, ein Jurist zu sein.‘ Auch wenn es ganz banal klingen mag: In einer Gerichtsverhandlung wird vernehmbar, im Unterschied zu lautlos mit sich selbst, gesprochen, das sprachlose Entsetzen löst sich zugunsten eines geordneten, gesetzten Diskurses von Anklage, Verteidigung und Urteilsspruch auf. Und es geht vor allem nicht um mich selbst, sondern um ein Urteil über Andere, immer um einen oder mehrere ganz bestimmte Personen, dies verbindet, wie an mehreren Stellen betont wird, ein moralisches Urteil mit einem juristischen. Am Ende einer Gerichtsverhandlung, tertium datur, wird öffentlich im Namen des Gemeinwesens geurteilt.[20. Roland Beier bringt es fertig, in seinem gesamten Essay über das Urteilen bei Hannah Arendt an keiner einzigen Stelle mit der Gerichtsverhandlung den letzten übrig gebliebenen Ort eines öffentlichen Urteils zu erwähnen. So ruiniert er noch die letzte der Oasen, um eine Formulierung aus dem Denktagebuch aufzugreifen: „Durch die Flucht aus der Politik verschleppen wir die Wüste überall hin – Religion, Philosophie, Kunst. Wir ruinieren die Oasen.“ (Denktagebuch I, S. 524). Als ob es Hannah Arendt jemals darum gegangen wäre, eine abschließende philosophische Systematik der Geistesvermögen vorzulegen.] Je höher die politische Bedeutung des Gerichts, desto seltener urteilt nur einer, sondern meistens mehrere, und diese auch nicht als Herr Meier und Frau Schulze sondern als ein ‚Wir‘ im Namen von. Und als Strafgericht geht es nicht darum, Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern um den politischen Körper als solchen, an dem etwas wieder ins Lot gebracht werden muss, was aus den Fugen geraten ist. „Es geht um das Gesetz selbst und nicht um den Kläger.“[21. vgl. Eichmann in Jerusalem, S. 310.]
Mores - Sitten, Brauch - einen neuen Brauch anfangen: In einem Zitat am Ende des Eichmannbuches stellt Hannah Arendt mit dem amerikanischen Chefankläger Robert H. Jackson eine weitere exemplarische Person an die Seite Churchills, die es, was den Rang der politischen Größe nach anbelangt, durchaus mit ihm aufnehmen kann. Jackson ist nämlich einer, der bereits mit Churchills ‚dahinter oder darunter liegender Erfahrung‘ im Gespräch ist, er antwortet. Weil das Zitat für den denkerischen Fortgang der Vorlesung von herausragender Bedeutung ist, zitieren wie es hier in voller Länge. Zunächst zitiert sie Jackson, um ihn dann zu kommentieren: „Das Völkerrecht ist, wie Richter[22. Der scheinbare Widerspruch zwischen Richter und Chefankläger Jackson rührt daher, dass Jackson vor seiner Betrauung mit dem Aufbau eines Gerichtshofes Richter am amerikanischen Supreme Court war, jener neben dem Senat herausragendsten Neugründung der amerikanischen ‚constitutio liberatas‘ und von dieser Position für seine Tätigkeit in Nürnberg lediglich beurlaubt wurde, seinen Titel „Justice“ aber behalten hat. In Nürnberg selbst saß Jackson nicht mit auf der Richterbank, sondern fungierte als Chefankläger.] Jackson in Nürnberg betonte, „aus zwischenstaatlichen Verträgen und Übereinkünften erwachsen und aus der Anerkennung bestimmter Bräuche. Und jeder Brauch ist einmal aus einer bestimmten Handlung entsprungen … Auch wir haben das Recht, Bräuche zu stiften und Übereinkünfte zu treffen, die dann ihrerseits wieder zu Quellen eines neuen und mächtigeren Völkerrechts werden.“ Was Richter Jackson in diesen Ausführungen zu den Nürnberger Prozessen zu sagen versäumte, ist, dass damit auf Grund des erst in seiner Entstehung begriffenen Völkerrechts gewöhnlichen Richtern die Aufgabe aufgebürdet wird, ohne die Hilfe positiver Gesetze oder über die Grenzen des gesetzten Rechts hinaus Recht zu sprechen. Der Richter, der gewohnt ist, die bestehenden Gesetze einfach anzuwenden, gerät damit in eine missliche Lage, und es ist nur zu wahrscheinlich, dass er einwenden wird, es sei nicht an ihm, den Gesetzgeber zu spielen - was Jackson in der Tat von ihm verlangt hat.“
Um die Größe Jacksons und die Bedeutung der damit einhergehenden amerikanischen Rückkehr eines republikanischen Moments angemessen beurteilen zu können, kommen wir um eine wenigstens kurze Vorgeschichte und eine Erweiterung des Kontextes nicht ganz herum. Zunächst zur Vorgeschichte: Die meisten Rechtssysteme kennen den Begriff des Hausfriedensbruchs. Wer in unserem eigenen Haus das Gastrecht verletzt und den Hausfrieden bedroht, dem weisen wir die Tür und geht er nicht von selbst, lassen wir ihn holen. Im allgemeinen jedoch wird in einem privaten Haus die Frage, was Recht und Unrecht ist, nicht von allen Beteiligten gleichberechtigt, entschieden. Anders dagegen schon beim Landfriedensbruch als Bedrohung bestimmter öffentlicher Räume, der sich ursprünglich von dem mittelalterlichen ‚constitutio pacis‘ herleitet, und auf vertraglichen Vereinbarungen beruht, dass die Machtträger zur Regelung ihrer Angelegenheiten auf den Einsatz von Gewalt verzichten. Erst im Zuge einer Souveränisierung der politischen Ordnungen in bestimmten europäischen Räumen verschiebt sich die Bedeutung vom Landfriedensbruch in Richtung einer von oben als Disziplinierungsinstrument freiheitssinniger Bürger genutzten Strafmaßnahme. Die politischen Versuche, den Weltfrieden durch vertragliche Vereinbarungen dauerhaft zu halten, gibt es seit dem Dreißigjährigen Krieg. Bislang hatten sich allerdings, vor allem nicht die „Souveräne“ an das gehalten, was Hannah Arendt als das einzige moralische, weil gewissermaßen vor-politische Phänomen charakterisiert hat: das Vermögen, anderen ein Versprechen zu geben und es auch zu halten, woraus dann das politische Phänomen par excellence entstehen kann - der Vertrag, weswegen genau an dieser Stelle das Zusammenprallen eines nach Europa zurückgekehrten republikanischen Moments mit der kontinentaleuropäischen Tradition der Souveränität geradezu der springende Punkt des Nürnberger Prozesses ist.[23. vgl. „Es ist angeführt worden, dass sich das Völkerrecht auf Handlungen souveräner Staaten bezieht und keine Bestrafung von Einzelpersonen vorsieht; und weiter, dass dort, wo die fragliche Handlung ein Staatsakt ist, jene Personen, die sie ausführen, keine eigene Verantwortung tragen, sondern durch den Lehrsatz von der Souveränität des Staates geschützt seien. Nach der Meinung des Gerichtshofes müssen diese beiden Einwände zurückgewiesen werden. Das das Völkerrecht Einzelpersonen so gut wie den Staaten Pflichten und Verbindlichkeiten auferlegt, ist längst anerkannt worden … Verbrechen gegen das Völkerrecht werden von Menschen und nicht von abstrakten Wesen begangen, und nur durch Bestrafung jener Einzelpersonen, die solche Verbrechen begehen, kann den Bestimmungen des Völkerrechts Geltung verschafft werden. … Diejenigen, die solche Handlungen begangen haben, können sich nicht hinter ihrer Amtsstellung verstecken, um in ordentlichen Gerichtsverfahren der Bestrafung zu entgehen.“ Auszug aus der Urteilsbegründung des Nürnberger Prozesses, zit. nach: Klaus Kastner, Die Völker klagen an, Der Nürnberger Prozess 1945 - 1946, S. 147.]
Gegenüber der für unsere Ohren vertrauter klingenden klassischen moralischen Frage Kants „Was soll ich tun“ hört man an der Ausgangsfrage Robert H. Jacksons „Was sollen wir mit Ihnen machen“[24. zitiert nach: „Der Nürnberger Prozess. Die Anklagereden des Hauptanklagevertreters der Vereinigten Staaten von Amerika Robert H. Jackson, Vorwort des Herausgebers Ingo Müller. S. XIX, Weinheim 1995.] zwei auffällige Verschiebungen heraus. Zum einen verschiebt sich der Ort der Frage vom Ich zum Wir, das wir verweist in diesem konkreten Zusammenhang auf jene Gruppe von Menschen, die sich in London getroffen haben, um das ‚Londoner Statut‘ auszuarbeiten und zu verabschieden. Zum zweiten verweist das ‚mit ihnen‘ auf einen Ort, der es immer schon mit Anderen, in diesem Fall mit den Taten von ganz konkreten Anderen zu tun hat, und der in dem „Was soll ich tun“ gerade nicht anklingt, sondern nur im Begriff des Gesetzes implizit mitschwingt. Während der Jerusalemer Prozess schon daran scheitert, dass er auf das vollkommen neuartige Verbrechen gegen die Menschheit, gegen die Pluralität von Menschsein als solchem, weder eine politische noch eine juristische Antwort findet, zeigt der Nürnberger Prozess zunächst das Dilemma zwischen einer politischen Antwort und der Gewohnheit der Richter, sich lieber an das Bekannte zu halten. Dieses Dilemma löst sich später auf, als nach dem ersten Völkermord nach Auschwitz und dem Zwischenspiel eines Internationales Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag am 1. Juli 2002 ein ständiger Internationaler Strafgerichtshof als dauerhafte Einrichtung seine Arbeit aufnimmt. Es wird wohl kein Zufall sein, dass die vertragliche Grundlage dieses Internationalen Straf-gerichtshofes das Rom-Statut ist, haben uns doch vor allem die Römer mit dem ‚pacta sunt servanda‘ die ‚Heiligkeit der Verträge‘ überliefert.
Bezogen auf die Ausgangsfrage, wie und wo wir öffentlich urteilen, wie wir vor allem über Andere urteilen, und Recht von Unrecht unterscheiden, wird die Hinwendung zu einer Gerichtsverhandlung aus der Sache heraus unvermeidbar, weil sich nur noch dort eine Tradition des öffentlichen Urteilens erhalten hat und auch nur noch dort der öffentliche Raum der Verhandlung ein eingerichteter Raum ist. Der Beiklang von ‚einer Richtung‘ ist hier irreführend. Es geht gerade nicht um das ‚eine‘, noch um ‚eine Richtung‘, sondern um ein durch eine rechte Ordnung ermöglichendes und gleichzeitig haltendes, institutiertes Sprechen für nicht einen, sondern eine Pluralität von Menschen, um gesetzte Orte, von denen aus zu anderen und über andere gesprochen werden kann. Denn erstens wird üblicherweise in einem Gericht gesprochen und nicht Gewalt angewendet. Zweitens: Es gibt mehrere Orte, von denen aus in mehreren Richtungen in geordnet, gefügter Weise ‚von wo aus‘ ‚zu etwas hin‘ ‚über etwas‘ gesprochen werden kann. Die gesetzten Orte im Gerichtsraum errichten einen stabilen und dauerhaften Bezug, der, ist es nicht ganz erstaunlich, schon so lange hält, wie es Geschichte gibt. Im Unterschied zu den nicht denkenden Objektivierungswissenschaften wie Soziologie und Psychologie, die jegliche individuelle Verantwortung hinweg eskamotieren, indem sie es zur Funktion einer determinierenden Gesellschaft oder Geschichte machen, ist „die Rechtsprechung eine höchst unmoderne, um nicht zu sagen: veraltete Institution.“[25. vgl. Eichmann in Jerusalem, S. 18.]
Wie wird dort das moralische Problem sichtbar? Arendt fokussiert den Blick auf eine ganz bestimmte Personengruppe, weder geht es um die Täter, deren Taten so monströs sind, dass sie auch jeglichen juristischen Rahmen sprengen, noch geht es um gewöhnliche Verbrecher, die nach ganz gewöhnlichen Regeln beurteilt werden können. Auch die ‚Sadisten und Perversen‘ sind in diesem Zusammenhang nicht von Interesse. Das Problem wird erst dann sichtbar, wenn genau die Personen vor Gericht stehen, die nichts weiter getan haben, als den an sie gesetzten Erwartungen zu entsprechen, jene, die einfach nur funktionierten und im Rahmen ihrer Arbeit ihre Pflicht erfüllt haben. An diesen Personen wird sichtbar, dass ein Gericht nicht der rechte Ort ist, um über sie zu urteilen. Hannah Arendt weist eigens darauf hin, ‚dass es kaum einen Berufsstand gibt, in dem Sie Menschen finden, die moralischen Normen, ja selbst der Norm der Gerechtigkeit, mit so viel Vorsicht und Misstrauen begegnen wie den der Juristen.‘
Die Personen, die das Gericht ausmachen, urteilen ‚im Namen des Volkes‘ in juristischen Angelegenheiten. Wer und mehr noch wo wird demgegenüber öffentlich ‚im Namen von‘ in moralischen Angelegenheiten geurteilt? Etwa in der modernen Öffentlichkeit?
Kontrastierend zu der ‚veralteten‘ Institution des Gerichts berichtet uns Hannah Arendt drei unterschiedliche Fälle, deren gemeinsamer Nenner eine auffällige Spannung zwischen der öffentlichen Meinung und den öffentlichen Urteilen Einzelner ist. Zwei Fälle stammen aus dem europäischen Kontext, einer aus dem amerikanischen. Alle drei Fälle rufen einen Sturm der Entrüstung hervor und erregen zum Teil bis heute die öffentliche Meinung. Hochhuths Anklage gegen Papst Pius XII, Hannah Arendts Urteil über Adolf Eichmann und Hans Morgenthaus Urteil über den Literaturprofessor van Doren.[26. Hans Morgenthau hatte in einem Artikel im New York Times Magazin im November 1959 das Verhalten des jungen Literatur Professors Van Doren getadelt, der sich für Geld einer auf Quote und Werbeeinnahmen hin orientieren Quiz-Show verkauft hatte. Die Quiz-Show war ein Betrug, weil die Fragen, sowie das gesamte procedere vorab abgesprochen waren und nur gegenüber den Zuschauern der Anschein eines offenen Wettbewerbs erweckt worden war. Ein junger Anwalt, Richard N. Goodwin hatte die Sache aufgedeckt und als Skandal öffentlich gemacht. Hans Morgenthau nannte das Verhalten des Professors ein dreifaches Unrecht: „das es Unrecht war, aus Geldgründen zu betrügen, zweimal Unrecht, dies in geistigen Dingen, und dreimal, es als akademischer Lehrer zu tun.“ Über Das Böse. S, 24; Hannah Arendt vermerkt, dass die ‚heißeste Empörung‘ nicht etwa den betrügenden Literaturprofessor traf, sondern ausgerechnet jenen Hans Morgenthau, der sich als Einzelner darüber ein Urteil erlaubt hatte. „Aus den zahlreichen Briefen, die auf den Artikel antworteten, wurde sehr deutlich, dass die Öffentlichkeit, einschließlich vieler Studenten, überwiegend der Meinung war, nur eine Person sei eindeutig zu tadeln: der Mann, der urteilte - nicht der Mann, der Unrecht getan hatte, nicht eine Institution, nicht die Gesellschaft im allgemeinen oder die Massenmedien im besonderen.“ Über Das Böse S. 25.]In allen drei Fällen steht die Leidenschaftlichkeit der Debatte in seltsamen Kontrast zu dem Problem der ‚mores‘. ‚Während man moralische Fragen leidenschaftlich debattierte, wich man ihnen gleichzeitig aus und vermied sie mit gleichem Eifer‘, denn die einzigen, die in diesen drei Debatten am Ende schuldig gesprochen wurden, waren ausgerechnet jene, die sich ein öffentliches Urteil über eine konkrete individuelle Person erlaubt haben. Am Ende wurden nicht die getadelt, die Unrecht getan hatten, sondern diejenigen, die urteilten. Arendt macht dieses auf den ersten Blick paradoxe Phänomen am Unterschied zwischen dem allgemeinen und dem Besonderen fest. Während man die Fragen des Guten und des Bösen im allgemeinen mit großer Leidenschaft debattiert, verstummt die Debatte ganz plötzlich in dem Moment, in dem wir über eine ganz bestimmte Person aus unserer Mitte ein Urteil fällen sollen und die seltenen Exemplare, sie sich ein solches Urteil leisten, werden zum Störfaktor, der zum Schweigen gebracht werden muss. ‚Rechtliche und moralische Fragen sind keineswegs gleichzusetzen, aber es ist ihnen gemeinsam, dass sie es mit Personen zu tun haben‘. Während es aber, der Tradition sei Dank, noch einen eingerichteten öffentlichen Raum für Urteile in juristischen Angelegenheiten gibt, gibt es nicht nur gar keinen vergleichbar instituierten Raum für solche in moralischen Angelegenheiten, selbst Urteile Einzelner können kaum mehr ausgesprochen werden, ohne sofort heftigsten Gegenwind zu erzeugen. Erst von hier aus macht die Rede des schlummernden Problems einen Sinn.
Wenn die selbstverständlichen Gewissheiten der Moral-Philosophie den Veränderungen der ‚mores‘ keinerlei Maß geben, keinerlei Einhalt gebieten können, wer wacht dann über die Sitten, über Recht und Unrecht? Was machen wir mit solchen, die nicht gegen das Gesetz, aber gegen Sitte und Anstand verstoßen, was mit denen, die die Stabilität des Gemeinwesens bedrohen, was mit denen, die ihre Macht missbrauchen, was mit denen, die Maß und Mitte längst nicht mehr beachten, den maßlos Korrupten? Sie für fünf Jahre in die Verbannung schicken? Ihnen erst das Vermögen und dann die Staatsbürgerrechte entziehen? Wer soll darüber urteilen und nach welchen Maßstäben? Schon diese Fragen erscheinen gänzlich fern wie aus einer ganz anderen Zeit. Haben wir nicht längst vergessen, dem Sinn von Sitte überhaupt nur nachzufragen? Schon das Wort selbst ist fast gänzlich außer Gebrauch geraten und wenn überhaupt, nur noch in Randbezirken hörbar, wie der Polizeiabteilung oder der Anstandsregel, der älteren Dame im Bus den Sitzplatz freizugeben. Das Problem aber der haltlos umher treibenden ‚mores‘ ist ganz gegenwärtig und tagtäglich unheilvoller sichtbar. Wir stehen, wenn wir mit den Mitteln der Tradition die gegenwärtigen politischen Erfahrungen verstehen wollen, mit leeren Händen da und müssen uns fragen: woher nehmen wir einen Maßstab für ‚mores‘, wenn ihn uns die Moral-Philosophie nicht liefern kann? Hat Moral überhaupt etwas mit ‚mores‘ zu tun?
Es sei nur hier kurz angemerkt, dass schon die ersten Eintragungen im Denktagebuch Hannah Arendts auf eine intensive Beschäftigung mit dem griechischen Sinn von ’nomos‘ hinweisen.
Das Gewissen weiß nichts von Recht und Unrecht. Es
ist keineswegs eine Fähigkeit des Urteilens oder des
Recht-von-Unrecht Unterscheidens. Was für eine Verwirrung!
Die sokratische Antwort funktioniert nicht - sie hat noch nie wirklich funktioniert, schreibt Hannah Arendt im August 1954 an ihre Freundin Mary McCarthy.[27. vgl. Hannah Arendt / Mary McCarthy: Im Vertrauen, Briefwechsel 1949 -1975, München 1995, S. 74.] Die Kant’sche Antwort auch nicht - können wir hinzufügen, jedenfalls nicht die aus der Moralphilosophie Kants. Nicht nur hat uns das Gewissen nicht vor den Totalitarismen geschützt, weil die meisten Menschen, die ihre Pflicht getan haben, nur eines hatten, das ihnen riet, sich so zu verhalten wie alle anderen rings um sie herum. Auch die heute wieder verbreitete Schläfrigkeit, ein Grundkonsens lauterer Gesinnung könne politisch Gefährdendes verhüten, ist seit Srebrenica reine Illusion. Die wenigen Ausnahmen, deren innere Stimme des Gewissens sie von Verbrechen abhielt, ‚die nie daran gezweifelt haben, dass Verbrechen, auch wenn sie von der Regierung legalisiert waren, Verbrechen blieben‘, waren zwar moralisch gesehen in diesen Ausnahmezeiten die einzigen zuverlässigen Menschen, kamen aber, politisch gesprochen, über ein verantwortungsloses ‚Ich kann nicht‘ nicht hinaus, weil, wie Hannah Arendt betont: ‚ihr Maßstab ist das Selbst und nicht die Welt‘.[28. Über das Böse, S. 53.] Arendts Antwort ist daher schon 1954 sehr viel radikaler. Es hat noch nie funktioniert: das Gewissen als Antwort ist schon Teil des Fluches. Das scheinbar ewige Dilemma zwischen Moral und Politik ist nur ein Dilemma innerhalb dieser fluchbeladenen Spannung, oder kürzer: das Dilemma ist der Fluch.
Woher kommt also die so lange selbstverständliche Vorstellung, jeder von uns hätte ganz unabhängig von den Gesetzen des Landes, in dem er lebt und auch ganz unabhängig von all seinen Mitmenschen eine quasi von Geburt an vorhandene Stimme des Gewissens, die ihm, wenn es darauf ankommt, ganz ohne jeglichen anderen und ganz ohne jegliches Beispiel sagt, was Recht und was Unrecht ist und warum funktioniert diese Antwort nicht? Hannah Arendt zieht zwei entscheidende Einsichten Machiavelli’s heran und zeigt uns damit, warum ‚Machiavelli so wichtig für die Moralphilosophie‘[29. Über das Böse, S. 55; beide Einsichten spielen schon beim Anfang der Vorlesung mit Churchill eine Rolle, war doch der politische Gegenspieler Churchills, Neville Chamberlain, vor lauter Fixierung auf die Vorstellung von sich selbst, als gefeierter Friedensstifter in die Geschichte einzugehen, taub und blind gegenüber dem, was sich längst um ihn herum hätte wahrnehmen lassen. Es ist nicht ganz abwegig, an dieser Stelle auch an die provokante Formulierung Heiner Geißlers zu erinnern, dass der Pazifismus der zwanziger Jahre Auschwitz erst möglich gemacht hat, und man kann anfügen, dass das Gut-Sein-Wollen der neunziger Jahre Srebrenica erst möglich gemacht hat.] ist. Zum einen jener Unterschied zwischen der ‚Sorge um sich selbst‘ und der ‚Sorge um die Welt‘, sowie seine, meistens missverstandene, Einsicht, dass es in der Politik darum gehe, nicht gut zu sein.
Was wie ein Fluch auf der abendländischen Geschichte lastet, es lastet ganz besonders auf der Geschlechterfolge derjenigen, die Kant die Denker von Gewerbe nennt. Doch wie bei allen großen Denkern, erscheint die Spannung zwischen Philosophie und Politik dem Kantschen Text nicht äußerlich. Hannah Arendt wandert nicht einfach so durch die Philosophiegeschichte und bricht sich mal hier, mal da die interessanten Stücke heraus, die sie dann zu einer neuen politischen Philosophie zusammen verwurschtelt. Was für ein Irrtum! Hannah Arendt liest den Fluch in die Texte hinein und kann so erst auch im Text Kants jene unterschiedlichen Sinnbereiche frei und gegensinnig auseinanderlegen, die wie hier, in Hinsicht auf die moralischen Angelegenheiten diese Spannung austragen. Damit bringt sie das ‚polemische‘ dieser Auseinandersetzung erst wieder für uns auf die Bühne. Denn die Frage, was Kant uns bedeutet, ist längst nicht entschieden. Es kommt, sofern nach dem Sinn gefragt wird, darauf an, ihn wieder zu einer umkämpften Figur zu machen. Dort nämlich, wo sich mit den anderen auseinandergesetzt wird, erweist sich die praktische Vernunft Kants als unpraktisch: sie hat keinerlei Fenster. Auch seine Moralphilosophie ist ein lautloses Gespräch mit sich selbst, ihr weltloses Maß die Selbst-Achtung, ihre vom Verständnis der Sterblichen her frevelhafte Hybris ein ganz unchristlicher Stolz. Während es in der Kritik der reinen Vernunft einen nicht einholbaren ‚Rest‘ gibt, kehrt die praktische Vernunft die theologisch-metaphysische Figur des ab-soluten Souveräns um und ist sich selbst ihr eigener, unbedingter Gesetzgeber. Jegliche Neigung, jegliche Angewiesenheit auf andere, jeder mögliche Bund mit anderen muss zwingend außen vor bleiben, weil sie die Freiheit dieses absoluten Selbst nur beeinträchtigen würde. Weil aus dieser unaffizierbaren Autistik[30. vgl. „Mit der gedanklichen Folgerichtigkeit, die das Kennzeichen eines großen Philosophen ist, stellt Kant deshalb die Pflichten, die der Mensch sich selbst gegenüber hat, vor diejenigen, die er gegenüber Andern hat - was wirklich sehr überraschend ist, weil es in einem bemerkenswerten Widerspruch zu dem steht, war wir üblicherweise unter moralischem Verhalten verstehen. Es geht bestimmt nicht um die Sorge für den Anderen, sondern um die Sorge für das Selbst, nicht um Demut, sondern um menschliche Würde, ja menschlichen Stolz. Maßstab ist weder die auf irgendeinen Nachbarn gerichtete Liebe noch die Selbst-Liebe, sondern die Selbstachtung.“ Über das Böse, S. 35, Diejenigen, die auch heute noch eisern daran festhalten, sich selbst ein Sittengesetz zu geben, die Autonomen, sind daher nur noch ein höchst abschreckendes Beispiel. Sie lassen völlig vergessen, dass Autonomie einst gar nichts mit einem Individuum oder einem Subjekt zu tun hatte, sondern in einem ausgezeichneten Bezug zur Polis stand, die sich darin eine eigene, von anderen unterschiedene Stätte geben konnte.] gar nichts mehr aus dem Selbst auf die Anderen hin wieder heraus führt, bleibt am Ende nur das reine Postulat des guten Willens. Die Kantsche Moral erweist sich als bindungslos, als ein Modell der Wüste, ein abgesondertes Sich-Selbst-Gefallen, dessen Selbst-Missverständnis an der Mehrdeutigkeit des Begriffs ‚Gesetz‘ haftet, den Kant, dem Zeitgeist entsprechend, als Vorschrift versteht, die Verpflichtung und Gehorsam einfordert. Dieses Gewissen weiß nur sich selbst, weswegen Hannah Arendt darauf hinweist, dass ‚in allen Sprachen ursprünglich mit ‚Gewissen‘ nicht eine Fähigkeit des Urteilens in Bezug auf Recht und Unrecht gemeint ist, „sondern das, was wir heute ‚Bewusstsein‘ nennen, das heißt die Fähigkeit, mit deren Hilfe wir uns selbst kennen und wahrnehmen.“[31. Über Das Böse, S. 49; Sokrates kennt noch keine ‚Stimme des Gewissens‘. Er kennt nur das Zwei-in-Einem, das stille Gespräch mit sich selbst, um mit sich ins Lot zu kommen. Erst die christliche Metaphysik ’schafft das Gewissen aus der Welt‘, macht aus dem Zweiten die Stimme Gottes, die in jedem Menschen, weil von ihm hergestellt, mit ihm sprechen und ihm vorschreiben soll und aus dem Zwei-in-Einem wieder Einen, der dieser ‚fremden‘ Stimme gehorchen soll. Die Aufklärung, als vollsäkularisierte Metaphysik macht daraus die universelle Stimme der Vernunft, die in jedem Menschen vorhanden sein soll und Marx, der sie Sache vom Kopf auf die Füße stellt, macht daraus die Stimme des ‚objektiven‘ Inter-esses. Erst Freud, dessen Heidegger Nähe Hannah Arendt leider nicht wahrgenommen hat, wird die andere Stimme wieder da heraus hören, wo sie immer schon gewesen sein wird. Das heutige ’schlechte Gewissen‘ ist mehr ein Versagen, die nachträgliche Empfindung, dass man zu einem Geschehenen etwas hätte sagen sollen, es aber nicht gesagt hat, worin zumindest schon die Spur des Anspruches enthalten ist, der von draußen angeklopft hat, aber nicht hereingelassen wurde. vgl. die Eintragungen im Denktagebuch, S. 88, 137, 794 und 818.]
Etwas ist völlig aus den Fugen geraten im Athen der zwanziger Jahre.[32. „Für alle Verträge galt, was Thukydides auch für die Innenpolitik festgestellt hatte: Man hielt sich daran, solange es einem passte. Verlässlichkeit war kaum mehr gegeben, Verantwortung ein leerer Begriff. Jeder suchte seinen Vorteil ohne Rücksicht auf bestehende Regeln. Formen des Eides, des Vertrages, des Bündnisses waren nur noch leere Hülsen.“ Christian Meier, Athen, Ein Neubeginn der Weltgeschichte, S. 598, Berlin 1993.] In dieser Situation kann das, was wie ein Fluch auf der gesamten abendländischen Geschichte lastet, keine Kleinigkeit sein. Schon ein Fluch, der ’nur‘ auf einem Geschlecht wie dem der Atriden lastet, hat seine Quelle in einer anfänglichen frevelhaften Tat, in der jegliches Maß, jegliche Mitte verlassen wurde. Hier aber ist von einer Spannung zwischen Philosophie und Politik die Rede. Es gehört zu dem Anhaltenden dieser Spannung, dass Hannah Arendt entweder mal hier, mal da völlig gedankenlos irgendwo zugeordnet wird, einerlei ob nun als Philosophin oder politische Theoretikerin, oder noch schlimmer unter dem Titel einer ‚politischen Philosophin‘ einfach eine Mischform erzeugt wird, in der jegliche Spannung, gar eine langwährende, fluchbeladene dann völlig verstellt ist. Man wird wohl oder übel die Spannung erst austragen und erfahrend, also ‚durch Leiden lernend‘ aushalten müssen, bevor man überhaupt an so etwas wie eine Versöhnung, in der die Beteiligten der Spannung verwandelt wieder zurück zu dem kommen, was ihnen zukommt, denken kann. Sollten wir daher nicht nur von einer, sondern wenigstens von zwei anfänglichen frevelhaften Taten ausgehen? Und welche könnten das gewesen sein? Und was daran könnte das frevelhafte, das jeglichem Maß so maßlos Hohnsprechende gewesen sein, das, so scheint es, erst heute an den völlig aus den Fugen geratenen ‚mores‘ wieder in die Sichtbarkeit geraten ist.[33. „Jeder ‚politischen Philosophie‘ muss ein Verständnis über das Verhältnis von Philosophie und Politik vorausgehen. Es könnte sein, dass ‚politische Philosophie‘ eine Contradictio in adjecto ist.“ (Denktagebuch II, S. 683).]
Mitten zwischen dieser Spannung, an dem Ort jenes Abgrundes, die den Alten bedeutend war, steht Sokrates, der aus philosophischer Hinsicht, Anfang der Moral-Philosophie. Anhand der Metaphern (Hebamme, Stechfliege und Zitterrochen), die ihm auch von andern zugesprochen werden, wird sichtbar, dass er noch für etwas steht, das die Beteiligten der Spannung mehr oder weniger gewaltsam aus der Sichtbarkeit entfernen wollen. Gar im Unterschied zu Kant erscheint Sokrates hier als noch ganz anders umkämpfte Figur, schon alleine deswegen, weil Kant nicht wegen Verderbnis der Jugend angeklagt und zum Trinken des Schierlingsbechers aufgefordert wurde. Das Drama um Sokrates legt sich in zwei Extreme auseinander, wovon beide ihn aus jener Mitte, in der er sich gewöhnlich aufhält, entfernen wollen, die Absonderer, die ihn von den anderen wegziehen wollen, sowie die Verurteiler, die ihn vollständig entfernen.
Theoros heisst dann derjenige, der etwas in seinem Anblick ansieht,
der sich ansieht , was es zu sehen gibt. Theoros ist der Festbesucher,
der auf den grossen Spielen und Festen als Zuschauer anwesend ist.
Martin Heidegger, Platon: Sophistes
Man wird die Einzigartigkeit des Arendtschen Beitrags zum Politischen nur verstehen, wenn man Heideggers und Arendts Zugang zum Anfänglichen, als etwas unausgesprochenen agonales wahrnimmt, dem es, einem jeglichen auf seine Weise, um ein Herauskommen aus dem Fluch ankommt, der in der anhaltenden feindlichen Spannung zwischen Philosophie und Politik liegt. Vielleicht kann man die Formulierung wagen, dass es in den Arendtschen Texten darum geht, die feindliche Spannung, in der es um Sieg oder Niederlage geht, wieder in einen tragischen Konflikt zu verschieben, denn zur Tragödie gehört, wie wir erfahren könnten, das Wunder der Verwandlung der Konfliktenden, sowie, tertium datur, ein gemeinsinniger Chor als öffentliche Zurschaustellung einer gereinigten Meinung. Dies ist eine der Stellen, an denen wir die sonst sehr geschätzte Begleitung Margaret Canovans verlassen müssen. In Ihrem Verständnis des griechischen logos, in dem harmonisch vereint sein soll, was die Spannung zwischen Philosophie und Politik später gewaltsam auseinanderreißt, wäre für Heraklit zu wenig Platz. Hier geht es mehr darum, die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen zwei verschiedenen Weisen von gespannter Austragung, einer gewaltsamen, feindlichen und einer politischen, tragischen, zu lenken.
Während der Rückzug in die Einsamkeit des Denkens in der Weise des Nachdenkens über etwas, was zuvor den Sinnen gegenwärtig war, in diesem Zug auf das bezogen bleibt, wovon es sich zurückzieht, also zum Beispiel eine erfahrende Wahrnehmung wie die Churchills als etwas dem Nachdenken Bedeutendes in diesen Rückzug mitnimmt, sich dadurch von ihm in jenen Anspruch nehmen lässt, aus dem ein vernehmbarer und vielleicht sogar besonnener Spruch wieder zu den anderen zurück kommen kann, dem eine gewisse Klugheit anzumerken ist, die sich Autorität verschaffen kann, verflüchtigen sich in der Absonderung der platonischen ‚Dialoge‘ Sinn, Leben und die anderen. Was Dialog genannt wird, entfaltet sich tatsächlich in einer monologischen Konstellation, in der die anderen Stimmen der führenden ersten bloß sekundieren, aber keinen zweiten, gar mit dem ersten in Konflikt stehenden Sinnbereich mehr repräsentieren können.[34. Zum Bedeutungsumfang des Monologischen vgl. Karl Reinhardt: Sophokles, Frankfurt a. Main , 1976, noch etwas handfester drückt es Klaus Heinrich aus, der auf das lehreiche Beispiel Prantls und dessen Abscheu vor der Sokratischen Methode in den Platonischen Dialogen verweist: „Prantl missversteht das ‚Widerliche‘ der Stellen, ‚wo die Antwortenden bloß wie jene chinesischen Figürchen nickend Ja sagen‘, als die Verzerrung eines ‚wissenschaftlichen Zwiegesprächs‘, aber sein Abscheu trifft den entscheidenden Punkt: die ‚Superiorität‘ des ‚Wissenden‘, der den Unwissenden einführt in das Mysterium.“ Versuch über die Schwierigkeit, nein zu sagen, Frankfurt a. Main, 1985, S. 173.] Indem die sophia aus dem logos heraus in den nur noch mit geistigem Auge sehenden Vorrang des Höchsten gerückt wird, rückt die ihrer jeweiligen Situation umsichtige phronesis in einen niederen Rang. Beides wird aus dem Rang herausgerückt, der ihm für eine schöne Weile vor dem Verfall der Polis zukam. Im Wege dieser Absonderung werden die Abgesonderten zu Besonderen, der Ort, an dem sie sich aufhalten, ein den anderen weit entfernter, die ‚Insel der Seligen fast eine Wüste‘. Mit der Hoch-Achtung für dieses auserwählte Selbst entsteht zugleich die Verachtung der anderen, die jetzt nur noch als die Vielen erscheinen, die doppelköpfige, blöde Menge. Der immerseienden idea wird eine eigens dafür erfundene unsterbliche Seele gegenübergestellt, versteift verharrend im gegenseitigen Anblick, dem Tode näher als dem Leben. Hannah Arendt verweist auf die paradoxen Behauptungen, die Sokrates im Gorgias Dialog aufstellt und erwähnt beiläufig, dass uns der Sinn dafür verloren gegangen ist. Während das Gemeinsame der Metaphern, die für Sokrates stehen, ein jeweiliger Bezug ist: eine Hebamme ohne Bezug zu einer werdenden Mutter macht ebenso wenig Sinn, wie eine Stechfliege ohne Bezug auf das, was sie sticht, man denke nur an die Apologie, wo ganz Athen gestochen werden soll. Dagegen erscheint schon das Ausgangsparadox eigentümlich bezuglos. Aus der Frage: Ist es besser Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun, kann schwerlich heraus gefragt werden: in welchem Zustand ist denn unser Gemeinwesen gerade jetzt, was ist denn aus den Fugen? In welcher Situation befinden wir uns denn? Durch den fragenden Zusatz ‚besser für wen oder was‘ wird ersichtlich, dass es um das Selbst geht und nicht um die Welt. Das eigentümlich Sinnlose wird noch deutlicher an dem Paradox, ‚das sie bei Platon immer wieder erwähnt finden werden‘:[35. Über das Böse, S. 71.] einem Verbrechen, das sowohl den Augen der anderen als auch den Göttern gänzlich verborgen bleibt, also nirgendwo jemals jemandes Sinnen gegeben ist. Als im sogenannten ‚Dialog‘ jeglicher Versuch einer redenden Überzeugung fehlschlägt, kommt wie das Häschen aus dem Hut ein platonischer Mythos, ein ‚Märchen für alte Weiber‘ wie Hannah Arendt ironisch kommentiert. Am Ende des Dialoges ist jeder Gesprächsfaden gerissen - die Freunde des Demos und die Freunde der Philosophie stehen sich gegenseitig unverstehbar als Feinde gegenüber. Wozu noch öffentlich versammelt versammelnd auseinanderlegen, was die Versammelten angeht?
Das Abgesonderte verkapselt sich in einen eigenen, in sich selbst stehenden, ständigen Sinnbereich und macht die Fenster zu. Wir sollten anfangen, solches Monologische als die Urkatastrophe der abendländischen Geschichte wahrzunehmen. Am Ende zeigt sich: was die Etymologie nahelegt, verweigert die Lektüre. Der Moralphilosophie geht es gar nicht um Moral, sondern um das Selbst. Das Ge-Wissen gibt sich selbst das Wissen von sich, ebenso wie die Ge-Sinnung sich selbst den Sinn von sich gibt, weswegen beides politisch immer so jämmerlich daherkommt, wenn tatsächlich etwas auf dem Spiel steht.[36. „Die wilhelminische Gesellschaft ist in ihrer politischen Naivität in mancher Hinsicht vergleichbar mit bestimmten Gruppierungen der heutigen bundesdeutschen Gesellschaft, die nicht bereit sind, sich den Paradoxien der Politik zu stellen. Man hält die Reinheit der Gesinnung, die Aufrichtigkeit, die Gutherzigkeit der Absichten teilweise wieder für den Schlüssel zum richtigen politischen Handeln und ist nicht bereit, vom Ende her zu denken. Man kann den Ersten Weltkrieg als Verkettung von Fehleinschätzungen, Missgriffen, Illusionen und gutgemeinten Irrtümern denken. Das meine ich mit Kompendium: ein Lehr- und Warnstück gegen eine Politik, die glaubt, durch Aufrichtigkeit und Gutherzigkeit werde schon alles gut werden.“ Herfried Münkler, Zeitraffer eines Jahrhunderts, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.01.2014.] Zu den mores aber, die im Bereich des Zwischen[37. „Alles, was beschlossen wird, wird zwischen Menschen beschlossen und gilt, solange dies Zwischen gilt. Unabhängig von diesem Zwischen gibt es nicht Recht und Unrecht. Sobald es schwindet, verschwinden mit ihm die Maßstäbe im buchstäblichsten Sinne. Es gibt kein Gewissen, das diesen Schwund, gleichsam im leeren Raum überleben könnte.“ (Denktagebuch I, S. 180).] sich abspielen, hat die Moralphilosophie ebenso wenig zu sagen, wie die Gesinnung, die sich selbst schon von vornherein jeglichen Sinn für das Gefährliche zustellt.
Das Böse und das Gefährliche sind nämlich nicht von der gleichen Art. Das Gefährliche ist vor allem nicht ständig, es kommt, häufig unerwartet und überraschend, plötzlich hervor und vergeht auch wieder, es ist nicht im Modus des Gestells vorstellbar. Es ist von innerhalb des Hergestellten gesehen, eher so etwas wie ein Fenster nach draußen. Zudem ruft das Gefährliche unmittelbar in das Gegenwärtige hinein, es zieht, sobald es in die Wahrnehmung kommt, aus dem Schlaf heraus. Man muss urplötzlich hellwach sein, das Gefährliche ruft nach dem ganzen Menschen. Erst im hereinziehenden Bezug zum Gefährlichen zeigt sich, wer einer ist, hier zählt nicht das Wollen, sondern nur das Können und das Glück. Das Gefährliche erscheint als besonderer Moment, ein ‚big point‘, wie man im Tennis sagt. Die Folgen eines verschlafenen ‚big points‘ können lange Geschichten haben.
An zwei Stellen der Vorlesung erwähnt Hannah Arendt aus dem Matthäus-Evangelium einen Spruch von Jesus von Nazareth, dem Urbild aller Gut-Sein-Wollender, wo dieser recht unverblümt und ganz unchristlich der reinen Gewalt das Wort redet, „dass ein Mühlstein an seinen Hals gehänget werde, und er ersäuft würde im Meer“. Hannah Arendt lenkt unsere Aufmerksamkeit auf eine Stelle im Evangelium, die, so könnte man sagen, der Zuschließung des Sinnes widersteht. Es bleibt da, an einer ganz kleinen Ecke, etwas offen. Hier zeigt sich, wie Hannah Arendt in ‚Über die Revolution‘[38. Über die Revolution, S. 105 ff.] detaillierter ausführt: Am Grunde der Konfrontation des Guten und des Bösen arbeitet eine aus dem logos abgetrennte Logik der Vernichtung, der reinen, sprachlosen Gewalt. In diesem Konflikt ist ’nichts Tragisches‘, er steht außerhalb des Politischen. Die tragische Dimension öffnet sich erst wieder, wenn in der Figur der ‚virtu‘ die Sorge um den Erhalt des Zwischen - dazwischentretend - in den Vorrang tritt. Für den Unterschied dieser beiden Stellen im Text ist, wie schon in der gesamten Vorlesung, der Unterschied Machiavelli’s zwischen der ‚Sorge um sich Selbst‘ und der ‚Sorge um die Welt‘ die aufhellende Hinsicht. Wird an der ersten Stelle eigens darauf hingewiesen: ’notieren Sie bitte, daß [es heißt], es wäre ‚ihm‘ für ihn, besser gewesen“[39. Über das Böse, S. 98.], so heißt es an der zweiten Stelle, an der sie Jesus‘ Mordwunsch noch einmal zitiert: ‚Kriterium ist nicht mehr das Selbst, … nein, der Täter ist jemand, der die Weltordnung als solche verletzt‘. Fast unmerklich verschiebt und öffnet sich die Moral, die seit Sokrates und Jesus mit dem Selbst fest verklammert schien, wieder auf ihre anfängliche Herkunft hin - jene ‚mores‘, die, wenn sie aus den Fugen geraten, durch Absonderung nicht wieder eingerichtet werden können. „Doch was hier zweifellos betont wird, ist der Schaden, der der Gemeinschaft zugefügt wird, ist die für alle bestehende Gefahr.(Hervorh. von mir, B.B.)“[40. Über das Böse, S. 122.] Zwischen dem Tod des Sokrates und dem was Jesus hier ‚wie Unkraut‘ vernichten will, waltet ein noch ziemlich geheimnisvoller Bezug. Politisch gesprochen macht weder die Rede vom Bösen, noch das entlarvende Zeigen auf einen solchen Sinn - hier geht es, wenn es um das Verstehen dessen geht, was auf dem Spiel steht, stets um das Gefährliche, weswegen ja auch nicht das Gut-Sein, sondern der Mut die politischste Tugend genannt wird. „Die Welt sauber halten! nicht die Menschen ändern.“[41. Denktagebuch II, S. 618.]
Die Straße nach Auschwitz wurde durch Hass gebaut,
aber mit Teilnahmslosigkeit gepflastert.
Ian Kershaw
Indifferenz stellt, moralisch und politisch
gesprochen die größte Gefahr dar
Harald Welzer, 1958 geboren, berichtet in seinem Buch über die Täter von einer kleinen Übung, die er in einem Universitätsseminar mit seinen Studenten nach der Lektüre der Pionierarbeit von Christopher Browning über die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 durchführte. Der Kommandeur dieses Bataillons, Major Trapp hatte, nachdem er den versammelten Männern ihren bevorstehenden Einsatz als Erschießungskommando erstmalig verkündete, ganz offen den Männern die Möglichkeit eingeräumt, nicht mitzumachen: ‚Wer von den Älteren sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle, möge vortreten.‘[42. Browning, Christopher: Ganz normale Männer, S. 88; mehrfach wird in der Literatur, die als ‚Täterforschung‘ klassifiziert wird, erwähnt, dass bislang kein einziger nachweisbarer Fall bekannt geworden ist, dass jemand, der sich dem Mordbefehl verweigert hat, ernsthafte persönliche Schwierigkeiten dadurch bekommen hätte. Der sogenannte Befehlsnotstand ist offenbar eine reine Legende.] Zunächst trat einer hervor, dann noch zehn oder zwölf, von vielleicht 350 bis 400 Männern. Die Studenten sollten in einem gemeinsamen Brainstorming die Faktoren auflisten, die aus der Sicht der Akteure dafür sprachen, nicht oder doch hervorzutreten, um sich der geplanten Mordaktion zu entziehen. In einem Pro und Contra Schema wurde die Tafel beschreiben; die linke Hälfte mit den Gründen für das Nicht-Hervortreten füllte sich schnell, die rechte enthielt am Ende nur drei Einträge: eine universalistische Ethik, eine christliche Moral und so etwas wie eine antizipierte Empathie mit den Opfern.[43. Welzer, Harald: Täter, S. 117.] Das Beachtenswerte und zugleich Beunruhigende an dieser Aufzählung der Einträge auf der rechten Seite ist das, was darin nicht vorkommt. Die eigentlich nahe liegendste Antwort, dass man nicht in einer Welt wohnen möchte, in der es ganz normal ist, dass jederzeit die Nachbarsfamilie aus ihrem Haus geholt werden kann, in der es ganz normal ist, dass, wer bettlägerig ist und nicht gehen kann, gleich erschossen wird, während die anderen kurz darauf im naheliegenden Wald einfach so umgebracht werden. Genau diese Antwort fehlt, denn auch in diesen drei Einträgen geht es mehr um das Selbst, als um die Welt, was nichts anderes heißt als: es würde wieder geschehen, es wird wieder geschehen und es ist schon wieder geschehen.
Bezogen auf die nationalsozialistischen Täter bemerken Robert H. Jackson und Hannah Arendt, unabhängig voneinander, den gleichen Punkt. So formuliert Jackson in seiner Dritten Anklagerede: „Nirgendwo finden wir ein Beispiel, dass einer der Angeklagten gegen die übrigen aufstand und sagte: diese Sache ist nicht richtig, und ich werde nicht weiter mitmachen. Wo sie voneinander abwichen, bezogen sich die Differenzen auf die Methode oder auf Streitigkeiten der Oberaufsicht, aber immer innerhalb des Rahmens des gemeinsamen Plans.“[44. Der Nürnberger Prozess, Die Anklagereden des Hauptanklagevertreters der Vereinigten Staaten von Amerika Robert H. Jackson, Hg. von Ingo Müller, S. 133.] Und auch Hannah Arendt bemerkt: „So wie Eichmann die Dinge darstellte, hat kein Faktor so wirksam zur Beruhigung seines Gewissens beigetragen, wie die schlichte Tatsache, dass er weit und breit niemanden, absolut niemanden entdecken konnte, der wirklich gegen die ‚Endlösung‘ gewesen wäre. Mit einer einzigen Ausnahme, die er mehrfach erwähnte und die einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben muss: nämlich Dr. Kastner, dem er in Ungarn begegnete.“[45. Eichmann, S. 152.]
Wir sehen - von der Moralphilosophie her kommen wir nicht in ein Gespräch mit Churchill. Richter Jackson aber kam mit ihm in ein Gespräch und leistete mit der Einrichtung einer Stätte für das öffentliche Urteilen einen gewichtigen politischen Beitrag als ‚Wieder-ins-Lot Bringer‘. Anders als wir aber kam Richter Jackson aus der Neuen Welt, die auch gerade deshalb eine Neue Welt wurde, weil sie im Unterschied zur alten Welt aus der Kontinuität der sich in Kontinentaleuropa als ‚gefährlichste Form des Absoluten‘ aufspreizenden nationalen Souveränitätsidee heraussprang und keine Revolution, eine innerhalb des monologischen bloße Umkehrung der Idee der Souveränität war, sondern, wie der Brauch, der inzwischen zu einem ständigen Internationalen Strafgerichtshof wurde, ein Neuanfang. Wir wollen damit auch auf einen bestimmten Punkt hinweisen, der leicht übersehen werden kann. Wir meinen ja heute in einer globalisierten Welt, wir könnten uns jederzeit mit jedem über alles unterhalten und vergessen dabei ein ganz prinzipielles Element, das in der Moderne erst in der Freudschen Erfahrung wieder zum Vorschein gekommen ist. Was und wie etwas in die Erscheinung kommen kann, ist nicht ganz losgelöst von der Art und Weise, wie etwas miteinander in Bezug gesetzt wird. Freud nannte diesen Bezug ’setting‘. Hannah Arendt, deren Vorurteil an dieser Stelle eine Wahrnehmung Freuds verhindert hat, findet diesen ‚prinzipiellen‘ Zusammenhang bei Montesquieu und dessen politischem Verständnis von ‚Gesetz‘ als ‚rapport‘. Montesquieu unterscheidet im Dritten Buch zwischen der Struktur und dem Prinzip einer Regierung. ‚Ihre Natur macht sie zu dem, was sie ist, ihr Prinzip bringt sie zum Handeln. Das eine ist ihre besondere Struktur, das andere sind die Leidenschaften, die sie in Bewegung setzen.‘ Virtu ist das Prinzip der Republik, Ehrgeiz das der Monarchie und Angst das der Despotie. Die Republik gibt der ‚virtu‘ nicht nur eine öffentliche Stätte, einen Erscheinungsraum, sondern zugleich eine Bedeutung für ihr in der Zeit sein, ihre Beständigkeit. Montesquieu verweist auf Demosthenes Mühe, die es ihn kostete, ‚Athen zum Erwachen zu bringen‘ und sein Scheitern - ‚Athen wurde besiegt und zwar für immer‘, was für den Zusammenhang unserer Vorlesung bedeutet: der Bezug zwischen Churchill’s virtu und unserer Schläfrigkeit ist nicht nur eine Angelegenheit der individuellen Personen, oder gar eine des ’subjektiven‘ Willens, sondern, und in einem viel größeren Ausmaß, eine Sache des politischen Gefüges. Als gute Demokraten können wir Churchill gar nicht verstehen, wir kommen gar nicht erst an den Ort, von dem aus ein Gespräch mit ihm Sinn machen könnte.[46. einer der seltenen Momente, in dem blitzartig ein helles Licht diesen Zusammenhang erscheinen lässt, stammt aus einem 1993 geführten Gespräch zwischen dem Polen Adam Michnik und dem Deutschen Jürgen Habermas. Srebrenica ist für den Polen bereits am Horizont zu erahnen. „Michnik: Ich beobachte Jugoslawien sehr aufmerksam, ich habe dort viele Freunde. Mein Eindruck ist, dass der Balkan Europa prinzipiell herausgefordert hat. Man sagt dort: Schluss mit Auschwitz, mit dem demokratischen Europa ist es vorbei, nun kommt die Utopie der ethnisch reinen Staaten. Das ist die erschreckendste Botschaft, der ich in meinem Leben begegnet bin. Das ist gefährlicher als der Kommunismus. Und ich habe eine Frage an Professor Habermas, der ein großer Verfechter der Idee der Aufklärung ist: Warum ist die Idee eines Ethnisch reinen Staates so stark, warum ist sie auf dem Siegeszug? Krzeminski: Aber vielleicht erleidet sie gerade Schiffbruch. Vielleicht sind wir Zeugen ihres letzten, blutigen Paroxysmus und nicht der Ankündigung einer tatsächlichen Rückkehr zu den Nationalstaaten. Habermas: Ich glaube auch nicht, dass sie auf dem Siegeszug ist. Als ich vor einigen Wochen in Zagreb war, hörte ich von Freunden, die ich in allen jugoslawischen Ländern habe: Am besten wäre es, wenn die Amerikaner einmarschierten und vierzig Jahre blieben, dann bekämen wir eine ebenso stabile Demokratie wie die Bundesrepublik.“ Mehr Demut, weniger Illusionen, Adam Michnik trifft Jürgen Habermas, Zwei linke Intellektuelle, ein Pole und ein Deutscher reden über verlorene Träume, eigene Irrungen, ihre Nationen und die Krise der multikulturellen Gesellschaft. Ein Streitgespräch, moderiert von Adam Krzeminski, DIE ZEIT, 17. Dezember 1993; Das Selbe, das der Pole Adam Michnik im Superlativ als das ‚erschreckendste‘ seines Lebens wahrnimmt, berührt den Deutschen Jürgen Habermas gar nicht, es geht ihn nicht einmal etwas an.] Das Gespräch mit Churchill, zu dem Hannah Arendt uns mit dieser Vorlesung einlädt, steht also noch aus - es kommt uns noch zu. Das Aufmerken aber auf das, was uns das Annehmen ihrer Einladung verwehrt, ist genau jener Moment, der uns zu denken gibt und so erst auf den rechten Weg bringen könnte.
Es sind nicht wenige, die meinen, ein aus den Fängen platonischer Metaphysik befreiter Sokrates könne doch, gerade seines hartnäckigen Fragens und seiner Ergebnislosigkeit wegen, als ermutigendes, starkes Beispiel herhalten. Bezogen auf eine Dekonstruktion der Metaphysik mag das angehen, allein dies ist nicht Hannah Arendts Ort, sonst hätte sie ihren Text ja auch mit Sokrates und nicht mit Churchill angefangen. Um wenigstens etwas von der Dimension zu erahnen, sollten wir davon ausgehen, dass Ihr Anfang mit Churchill einen unausgesprochenen Bezug beinhaltet zu Heideggers Hinwendung zu den anfänglichen Denkern Anaximander, Parmenides und Heraklit. Im Hinblick auf die Spannung zwischen Philosophie und Politik stehen Sokrates und Churchill zwar am gleichen Ort, aber sie halten sich nicht in der gleichen Gegend auf. Churchills Haltung steht in einem Verhältnis zur haltgebenden Quelle des Wirklichen, während Sokrates mit dem logischen ‚Prinzip‘ des Satzes vom Widerspruch schon einen anderen, abgesonderten Grund in das Selbst hereinzieht. Churchill und Sokrates sind einander nicht zugewandt, sie könnten, selbst wenn sie Zeitgenossen wären, nicht einmal miteinander reden - sie stehen Rücken an Rücken, während der eine der Welt zugeneigt ist, sondert sich der andere, vom Gefährlichen weg, schon ab.
In einem Strafgerichtshof, so wurde gesagt, wird jedoch das moralische Problem besonders sichtbar. Er ist einfach nicht der passende Ort. Das Gewissen hingegen, das ja als internes Tribunal, als Ersatz für ein öffentliches Urteil herhalten soll, funktioniert nicht, und kann, wenn überhaupt, nur als Ausnahme-Maß für das Unterscheiden von Recht und Unrecht herangezogen werden. So bleiben wir etwas ratlos zurück. Denn auch die öffentliche Meinung trägt, wie Hannah Arendt an den drei Fällen gezeigt hat, die sich alle nach 1945 ereigneten, trotz aller Aufregung, Skandalisierung und dem hysterischem Geschrei am Ende nur noch zu mehr Verwirrung bei.
Es gibt jedoch bei diesen drei Fällen einer öffentlichen Empörung einen bislang wenig beachteten, bemerkenswerten Unterschied. Zwei kamen ja aus Europa, einer aus Amerika. Die öffentliche Meinung erweist sich in allen drei Fällen als ‚Tod einer jeden Meinung‘. Der amerikanische Fall jedoch hat eine etwas andere, durchaus beachtliche Vorgeschichte. Wir erinnern uns: der junge Anwalt Richard N. Goodwin, Erster seines Jahrgangs unter den Absolventen der Harvard Law School hatte nach einer einjährigen Assistenzzeit beim Oberstes Bundesrichter Frankfurter eine Stelle im Kongress-Sonderausschuss für legislative Aufsicht angetreten, ein politisches Gremium, für das es in unserer Demokratie kein Äquivalent gibt. Die Tradition dieses Ausschusses reicht zurück bis in die Römische Geschichte, in den Rat der Zensoren, der, wie Montesquieu noch schreiben konnte, „die Sitten der Bürger kontrolliert und die unmittelbare Dienstaufsicht über die verschiedenen Körperschaften des Staates führt.“[47. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, 11. Buch, 14 Kapitel, 2.]
Dieser junge Anwalt hatte die Sache ins Rollen gebracht, weil ihm eine kleine Zeitungsnotiz aufgefallen war. „Ein paar Wochen nach Beginn meiner Arbeit in dem Ausschuss las ich in der New York Times die Meldung, der vorsitzende Richter habe die Ergebnisse der Anklagejury (in denen es um Fälle von Verbraucherbetrug, darunter auch die Quiz Show ging; E.v.m.) beschlagnahmt. Es sollte keine Eröffnungsbeschlüsse geben, keine Anklagen wegen rechtswidrigen Verhaltens und keine Offenlegung der Beweismittel. Aufgeregt ging ich zu Lishmann (Goodwins Vorgesetzte; E.v.m.): „Da muss doch irgendetwas dahinter stecken“, sagte ich. ‚Wenn alles in Ordnung ist, warum es dann geheim halten‘? - ‚Es lohnt sich, die Sache zu prüfen‘ antwortet er.“[48. Quiz Show, Aus den Erinnerungen von Richard N. Goodwin, Reinbek bei Hamburg, 1995, S. 76; Dass Gerichtsakten der Öffentlichkeit durch Versiegelung entzogen werden, empfand der Anwalt als eine Gefährdung. Er deckte in mühevoller und hartnäckiger Kleinarbeit den ganzen Betrug auf und ist durch dieses Verfahren auch John. F. Kennedy aufgefallen, der, vom Mut als einer der wichtigsten politischen Tugenden überzeugt, Robert N. Goodwin daraufhin in sein Team holte und zu einem seiner Redenschreiber ernannte. Goodwin hat über diese Betrugsgeschichte später ein Buch geschrieben, (Remembering America: A Voice From the Sixties ), das Grundlage für das Drehbuch zu einem Film von Robert Redford wurde (Quiz-Show, 1993). Der Film von Robert Redford ist eine weitaus bessere Einführung in das, worum es in unserer Arendt Vorlesung geht, als das, was man in hiesigen einschlägigen Quellen bislang dazu lesen muss. Es gehört zu den wahrnehmbaren Unterschieden zwischen dem republikanischen und dem demokratischen, dass es in Amerika eine exemplarische Filmgattung gibt, die es mindestens in Deutschland so nicht gibt, und die in aller Kürze mit Filmtiteln wie ‚Die zwölf Geschworenen‘, ‚Die Lincoln Verschwörung‘ oder ‚Das perfekte Verbrechen‘ markiert werden kann. Es genügt, dass ein Einziger öffentlich vernehmbar nicht mitmacht und dass diese Geschichte des einen Widerständigen immer wieder als Beispiel erzählt und im Geschehen wiederholt wird. Dazu Hannah Arendt: „So tief ist keine Versenkung, dass alle Spuren vernichtet werden könnten, nichts Menschliches ist so vollkommen; dazu gibt es zu viele Menschen in der Welt, um Vergessen endgültig zu machen. Einer wird immer bleiben, um die Geschichte zu erzählen. … Denn die Lehre solcher Geschichten ist einfach, ein jeder kann sie verstehen. Sie lautet, politisch gesprochen, dass unter den Bedingungen des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht. So wie die Lehre, die man aus den Ländern im Umkreis der ‚Endlösung‘ ziehen kann, lautet, dass es in der Tat in den meisten Ländern ‚geschehen konnte‘, aber dass es nicht überall geschehen ist. Menschlich gesprochen ist nicht mehr vonnöten, damit dieser Planet ein Ort bleibt, wo Menschen wohnen können. “ Eichmann, S. 278.] Es geht hier offenkundig nicht um das Selbst, sondern um irgendeine Ordnung, etwas, von dem Unheil droht, wenn es aus den Fugen gerät.
Instituere - einrichten, wieder recht machen, etwas wieder einrenken: Wenn schon die Weltweisheit auf unseren Händen erstirbt, sofern wir ernsthaft die politischen Angelegenheiten unserer Zeit wahrnehmen wollen, wie steht es mit dann mit der Weltklugheit, jenem anderen Vermögen, das im Entstehen der Spannung zwischen Philosophie und Politik in der Frage um den Vorrang des Höchsten seinerzeit unterlag? Wie sagte doch Cato, auch einer jener Sprüche, die für Hannah Arendt eine herausragende Bedeutung hatten: Die siegreiche Sache gefällt den Göttern, die unterlegene aber gefällt Cato.
Im Buch ‚Über die Revolution‘ greift Hannah Arendt auf eine Konstellation zurück, in der sowohl, was die seinerzeit beteiligten Personen anbelangt, als auch bezogen auf das, was diese Personen, bewahrend und erinnernd mit zur Sprache bringen konnten, sowie bezogen aus das, was dort auf dem Spiel stand, ein Ausmaß an Weltklugheit versammelt war, das seither nicht wieder erreicht worden ist. Es heißt, John Adams hätte Verfassungen gesammelt wie andere Leute Briefmarken. Aber auch hier bricht sie keine Perlen heraus, sondern liest die fluchbeladene Spannung in die Zeit hinein: „Denn was an dem vorrevo-lutionären politischen Denken der Neuzeit so außerordentlich auffallend ist, ist die allent-halben zum Ausdruck kommende Sorge um die Dauerhaftigkeit und Stabilität eines religiös emanzipierten, rein weltlichen gesicherten Bezirks, zumal diese Sorge in flagrantem Widerspruch zu dem allgemeinen Geist der Neuzeit steht, wie er sich in den Wissenschaften, Künsten und selbst in der modernen Philosophie äußerte. … Wenn also der Geist der Neuzeit in allen rein „geistigen“ Belangen daran zu erkennen ist, dass das Prozessdenken in ihnen herrschend wird und alles in eine unabsehbare Bewegung des „Fortschreitens“ reißt, so äußert sich der moderne politische Geist gerade umgekehrt in dem tiefen Misstrauen gegen einen Gang der Welt, in dem Reiche in ständigem Wechsel auf- und untergehen, also gegen einen Prozess, den alles vormoderne politische Denken seit dem Beginn des Christentums und dem Untergang des Römischen Reiches für unabänderlich gehalten hatte.“[49. Über die Revolution, S. 288.]
Seit Polybios gibt es ein langwährendes Gespräch unter solchen, die man am besten als politische Schriftsteller bezeichnen kann, und in dem es darum geht, wie man am ehesten mit einer die Macht ausbalancierenden und gegenseitig kontrollierenden ‚mixed consti-tution‘ dem dauernden Kreislauf von Entstehen und Verfall der Staatsformen begegnen kann. Hannah Arndt erinnert an etwas, was ‚dem törichten antiamerikanischen Geschreibe bestimmter europäischer Literatenkreise‘ entgangen ist, an die Diskussion der gründenden Väter über die ins Auge fallende Instabilität der Demokratien und die Gefahren der öffentlichen Meinung, denn eine Herrschaft, die sich auf die öffentliche Meinung stützt, sei, so deren Auffassung, eine Art Tyrannis, Demokratie eine Abart des Despotismus. Die Herrschaft einer öffentlichen Meinung würde jede echte Meinungsbildung ersticken und wäre der ‚Tod einer jeden Meinung‘. Eine solche öffentliche Meinung war nicht nur der Tod des Sokrates, sondern auch der Untergang der athenischen Polis. Der letzte verzweifelte Versuch, nach der Entmachtung des Areopag wieder einen Rat einzurichten, kam zu spät.
Die gründenden Väter aber werden ihren Aristoteles wohl gekannt haben, denn in politischen Angelegenheiten hat die phronesis zwei Teile: einen urteilenden[50. Die in Mode geratenen Versuche, aus Kant’s Kritik der Urteilskraft die ‚Grundlegung‘ einer neuen Politischen Philosophie heraus zu destillieren, mögen ein interessanter Zeitvertreib sein, allein, sie springen dann doch deutlich zu kurz. Wer einen Weg aus dem Fluch herausfinden will, muss erst einmal in ihn hineinkommen. Die modernen Varianten: von Kant zu Hegel, von Hegel zu Kant und wieder zurück, scheinen mir da eher im Kreis zu laufen.] und einen beratenden. Hannah Arendt vermerkt, dass im Unterschied zur Einführung des ’supreme courts‘ als Hüter der Verfassung, die schon früh als ‚einzigartiger neuer Beitrag Amerikas zur Staatswissenschaft verstanden wurde, die ‚merkwürdige Einmaligkeit‘ des amerikanischen Senats ’niemandem so recht aufgefallen‘ ist. Der Senat, „die Repräsentation, d.h. die Begrenzung auf einen kleinen, gewählten Kreis von Bürgern, sollte vor allem einer Reinigung sowohl des Interesses wie der Meinungsbildung dienen, sie sollte vor der ‚Verwirrung der Menge‘ Schutz gewähren.“[51. Über die Revolution, München 1994, S. 291f.] Eine gereinigte Meinung? Ist das nicht eine ganz unpassende Wortverknüpfung? Wir reinigen schmutziges Geschirr oder Fenster, aber eine Meinung? Sollen wir etwa eine Meinung mit einem nassen Lappen abwaschen? Man wird in dem Aufmerken auf diese störende Unterbrechung in dem ungewöhnlichen Wort ‚Reinigung‘ eine späte Antwort auf jene ‚Katharsis‘ heraus hören, die von den Alten der Tragödie, jener instituierten, öffentlichen Austragung dessen, was gerade auf dem Spiel steht, zugedacht war. [52. Wir brauchen nicht mehr, sondern weniger Demokratie. Der eine oder andere wird sich vielleicht noch daran erinnern, dass Horst Seehofer, nachdem er mit einer völlig heruntergekommenen und korrupten Mannschaft erneut in Bayern die absolute Mehrheit gewonnen hatte, unerwarteter Weise plötzlich auch der Idee von Plebisziten zugeneigt war, der er zuvor eher ablehnend gegenüber gestanden hatte. „Technisch gesprochen, ist die Alternative zu einer gereinigten und repräsentierten Vielfalt von Meinungen das Plebiszit, das in der Tat aufs genaueste der Herrschaft der öffentlichen Meinung entspricht. Und genau wie die öffentliche Meinung in Wahrheit der Tod aller Meinungen und Meinungsbildung ist, so ist das Plebiszit der Tod des Wahlrechts, auf Grund dessen die Bürger zum mindesten das Recht haben die Regierung zu wählen und sie zu kontrollieren.“ Über die Revolution, S. 294.]
Kazimierz Brandys, den ich insgeheim meinen polnischen Opa nenne, nicht etwa, weil ich mit ihm verwandt oder verschwägert bin, sondern nur, weil ich gerne einen solchen Opa gehabt hätte. Wir aber hatten weder Opas, noch gar solche, die durch ihre Erzählungen und die Dichtung auch in dunkler Zeit die Erinnerungen an die Republik hätten wachhalten können. Wir hatten noch nie eine Republik. Das ist bei den Polen anders. Kazimierz Brandys also hält sich Ende 1980 in Berlin auf. Er sieht mit den Augen und den Erinnerungen eines Polen auf uns. Er schreibt in sein ‚Warschauer Tagebuch‘: „Der Spiegel. Auf dem Titelblatt ein sowjetischer Panzer mit rotem Stern, der den mit ausgebreiteten Flügeln daliegenden weißen Adler niederwalzt. Die Nachrichten werden immer bedrohlicher, vierzig Panzerdivisionen. Beratung in Moskau. Konterrevolution in Polen. Alarm in der westlichen Presse. … Sie … die Deutschen, die Franzosen, die Schweizer; bunte Freßpyramiden, helle, schimmernde Gänge der Supermärkte, Dutzende Sorten von Wurst, Kaffee, Schokolade … Sie leben in einer Zivilisation, wir leben in einem Drama. … Wir werden einander nie verstehen, sagte ich, das wäre ein Dialog zwischen den Übersättigten und den Gefesselten. … Die Tagesschau des Fernsehens beginnt in Berlin fast täglich mit Nachrichten über Polen . … Nicht nur Polen scheint der monströs wuchernde Bauch des östlichen Imperiums zu schlucken. Ganz Westeuropa liegt verkleinert vor ihm, wie von Angst zusammengeschrumpft. Man muss sorgfältig zuhören und lesen. Aus ihren Kommentaren klingt ein ängstliches Gefühl biologischer Schwäche, sie kennen ihre Müdigkeit, die Erschöpfung einer alten Rasse, die ihr eigenes Blut schonen muss. Sie wollen nicht sterben . … Sterben, wofür? Für das Vaterland, für einen Idee, um die Würde zu verteidigen? Wessen Würde, was für eine Würde? Sie haben die Wirtschaftsgemeinschaft und die Zivilisation. Man stirbt nicht für die Zivilisation.“[53. Brandys, Warschauer Tagebuch, Die Monate davor 1978 - 1981, Frankfurt a. Main, 1984, S.232 - 236.]
Die Fähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden heißt uns fragen, ob es recht so ist, wie es ist, heißt uns fragen, ob einem jeglichen das zuteil wird, was ihm zukommt. Davon ist die Frage, ob wir unseren nur eine Weile anhaltenden Aufenthalt wohnlich eingerichtet haben, nur ein Teilaspekt. Das Wagnis der Welt braucht Mutige. Mutig kann nur sein, wer auch Furcht hat. Erst mit dem loslassenden Verlassen des Bösen zieht es die dadurch wieder Sterblichen zum Gefährlichen hin. Wo aber Gefahr ist, so wusste uns ein anderer zu sagen, der sich gut verstand mit den alten Dichtern, wo aber Gefahr ist, ist das Rettende auch. Die Schlafenden aber brauchen das Böse so nötig, wie die Erfahrung der Freiheit die Tragödie braucht.
© Boris Blaha, Bremen im Mai 2014
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