Anmerkungen zu: „Von der Idee, konservativ zu sein“
Nach Bad Langensalza kamen wir eher zufällig. Die thüringische Kurstadt liegt am Rande des Nationalparks Hainich, einem UNESCO-Weltnaturerbe, in dem wir wandern und die Herbstfarben genießen wollten. Die Stadt hatte sich schön gemacht, eigens für sich und die Gäste herausgeputzt, die Falten geglättet und viel Farbe aufgelegt. Sie empfing uns ordentlich aufgeräumt, zum Verweilen einladend. Herumlungerndes Gesindel war nicht zu sehen, kein unangenehmer Geruch störte den ersten Eindruck und nur ganz wenige Gebäude zeigten Anzeichen des Verfalls. Wahrscheinlich war dort die Eigentumsfrage noch ungeklärt. All die anderen Häuser hatten auf Ihrer öffentlichen Seite zu Straße oder Plätzen hin ihre Individualität hervorgehoben, jedes sah in Farbe, Form und Fassadenschmuck anders aus als die Nachbarhäuser und dennoch war ein harmonischer, anheimelnder Gesamteindruck entstanden. „Acting in concert“, jene bekannte Wendung von Edmund Burke, trifft es wohl am besten, denn auch im Konzert hat jedes Instrument seine eigene unverwechselbare Stimme, die ihren Teil zum Gesamteindruck beiträgt. Zudem hatte sich der Kurort mit mehreren angelegten Parks und Gärten dem Wettbewerb gestellt und sich einen Namen als blühendste Stadt Europas gemacht. Es war eine Art von geschenktem Glück, selbstvergessen in die Wahrnehmung all der Schönheiten einzutauchen. ‚Interesseloses Wohlgefallen‘ hatte Kant das genannt.
Wer sich noch an den Anblick verwesender Verwahrlosung erinnert, den das ‚Paradies der Werktätigen‘ vor der unterbrochenen Revolution von 1989 bot, kann sich unser Erstaunen vorstellen. Neugierig geworden fragten wir den ein oder anderen Ladeninhaber, woher denn dieser aus dem üblichen Mittelmaß herausragende Eindruck käme. Sie berichteten von Ihrem Bürgermeister, der dreimal hintereinander gewählt worden war und viel für die Stadt und seine Bewohner getan hatte. Seine Parteizugehörigkeit war nebensächlich, es war ihre Stadt und ihr Bürgermeister. Vor allem, das sah man ihren Gesichtern mit den leuchtenden Augen an, hatte er ihnen nach all den Demütigungen, die sie im Sozialismus ertragen mussten, ihren Stolz und ihre Würde wiedergegeben. Sie dankten es ihm und machten aus einer planwirtschaftlich funktionalen Aufbewahrungsanstalt eine schöne Stadt.
Die Leidenschaft, sich zu zeigen heißt uns Vorübergehende, unsere Selbstbezogenheit zumindest kurzfristig aufzugeben. Geh nicht achtlos vorüber, lass dir Zeit, schau mich an. Aus dem Werben um Aufmerksamkeit, aus dem Anspruch, wahrgenommen werden zu wollen, entsteht ein freundschaftlicher, aber stets zwangloser Bezug zwischen dem, der sich zeigt und dem, der es sich zeigen lässt. Man wird an-, aber nicht festgehalten, könnte jederzeit weitergehen. Tritt in dem Moment der Besitzer des Hauses, dessen Schönheit man gerade bewundert, zufällig aus der Haustür und bemerkt den staunenden Blick, wie leicht könnte aus dieser Gelegenheit ein Gespräch zwischen dem Einheimischen und dem Fremden entstehen. In diesem Moment würde sich der schon bestehende Bezug quasi aus dem Nichts heraus in einen Zeit-Spiel-Raum zwischen dem Einheimischen und dem Fremden erweitern, der vieles ermöglicht, aber nichts erzwingt. Man könnte sich über das Objekt der Bewunderung unterhalten, der Einheimische könnte in die Rolle des Gastgebers wechseln und die Einladung, die das Haus schon ausgesprochen hat, an den ungebetenen Gast vertiefen, oder man geht nach ein paar ausgetauschten Sätzen im beiderseitigen Einvernehmen wieder freundlich auseinander, wodurch sich der spontan entstandene Zeitspielraum wieder auflösen, aber eine angenehme Erinnerung bleiben würde. Natürlich war auch in Bad Langensalza das Problem der Abwanderung der gut ausgebildeten jungen Leute nicht unbekannt, aber man kämpfte mit Mut, Beharrlichkeit und einem gemeinsamen Sinn für Schönheit dagegen an.
Zum Auftaktkonzert für das Rigaer Stadtfest im Jahr 2014, als Riga europäische Kulturhauptstadt war, hatte Lettland seinen bekanntesten Komponisten, den fast 80-jährigen Raimonds Pauls an den Flügel einer eigens für diese Darbietung errichteten Bühne im Stadtpark gesetzt und ihm neben dem Orchester zwei junge kräftige Stimmen an die Seite gestellt. Als Zuschauer und -Hörer saßen wir unter freiem Himmel auf Bänken und wunderten uns zunächst, warum sich etliche Einheimische, die durch ihre für einen Westeuropäer ungewohnten Gesichtszüge als solche erkennbar waren, während des Konzerts ganz spontan immer wieder zu uns umdrehten, bis wir den Anlass ihrer Neugier verstanden. Sie wollten wissen, ob auch uns Gästen ihre Darbietung gefällt und waren erst zufrieden, als wir ihnen durch Körperhaltung, Mimik und Applaus die Frage beantwortet hatten. Die erwartbare Trennung zwischen Bühne und Zuschauermenge verwirrten die Umschauenden durch einen weiteren Unterschied, der in dieser Form nur noch selten wahrnehmbar ist. Das Konzert war nicht nur die Darbietung einer Bühne, sondern zusätzlich die der Stadt und des Landes, wodurch der Unterschied zwischen gastgebenden Landsleuten und Gästen den zwischen Künstler und Publikum überlagerte. Das spontane und wohl kaum geplante oder gar zuvor verabredete Umschauen der Einheimischen strafte zudem jenen Satz Lügen, der gerne auf ästhetische Urteile angewandt wird und da lautet: „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“, ein Satz der den Eindruck erweckt, als ob die Erfahrung der Schönheit nur eine rein subjektive, aber keine Sache des Gemeinsinns sein könne. Tatsächlich kam es den Umschauenden gerade auf die Anerkennung durch uns Gäste an. Es ging ihnen mehr um die gemeinsame Erfahrung einer Gegenwärtigkeit, als um die Geltendmachung einer allgemeinen Wahrheit.
In den letzten Septembertagen des Jahres 1943 verdichteten sich im besetzten Dänemark die Gerüchte, dass die Nazis eine „Judenaktion“ planen und in einer Nacht und Nebel Aktion die hauptsächlich in Kopenhagen konzentrierten Juden aus ihren Häusern holen, in Sammellagern zusammentreiben, auf Schiffe verladen und in das Konzentrationslager Theresienstadt oder auch gleich in die Vernichtungslager deportieren würden. Dänemark sollte judenrein gemacht werden. Zwar wusste niemand Genaueres, aber die Warnungen kamen aus so vielen unterschiedlichen Quellen, dass der Druck auf die Juden stieg, angesichts der Gefahr selbst zu handeln, das Wichtigste zusammenzupacken, die eigene bekannte Bleibe zu verlassen, kurzfristig anderswo Unterschlupf zu suchen und dann nach einer Gelegenheit Ausschau zu halten, Dänemark an der Küste in Richtung Schweden zu verlassen, das bereitwillig angekündigt hatte, die dänischen jüdischen Flüchtlinge aufzunehmen. So gut wie alle dänischen Institutionen und Zusammenschlüsse, der König und die Parteien, die Kirchen, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände und zahlreiche andere Vereinigungen des Landes hatten durch entsprechende Protestnoten den Nazis signalisiert, dass sich die Dänen als geeinte Volksgemeinschaft verstehen und einen Angriff auf die Juden als Angriff auf ihre Art des Zusammenlebens wahrnehmen würden. Die dänischen Sicherheitsorgane hatten eigens die Anweisung erhalten, sich keinesfalls aktiv an der „Judenaktion“ zu beteiligen. Auch Küstenwache und Hafenpolizei schauten nicht nur einfach weg, sondern unterstützten in vielen Fällen die Flucht der Juden.
In den ersten Oktobertagen 1943 wurde Gilleleja, ein kleines 1700 Seelen Fischerdorf im Norden Dänemarks mit jüdischen Flüchtlingen regelrecht überflutet. Nur wenige gelangten unmittelbar nach der Ankunft am Hafen noch auf ein Fischerboot Richtung Schweden, die meisten wurden chaotisch irgendwie auf die Einwohnerhäuser verteilt. Man schätzt, dass etwa 500 Flüchtlinge in fast jedem Haus, auf jedem Speicher, hinter jeder Schuppenwand vor einer jederzeit möglichen Razzia der Gestapo versteckt wurden. Eine Gruppe von etwa 80 Personen wurde auf dem Dachboden der örtlichen Kirche versteckt. In einem kleinen Dorf, in dem jeder jeden kennt, ist die einzige Dorfkirche ein besonderer, ein heiliger gemeinsamer Raum. In ihm verbinden sich die Toten mit den Lebenden und den Ungeborenen. Die Neugeborenen werden ebenso hier getauft, wie die die Messe für die Toten hier gelesen wird. Die Einwohner waren davon ausgegangen, dass eine Kirche respektiert werden würde und wurden eines Besseren belehrt. In der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober weckte um drei Uhr früh Gestapo-Juhl den Totengräber und zwang ihn, die Kirche zu öffnen. Die Juden auf dem Dachboden wurden entdeckt und abtransportiert. Tags darauf trafen sich spontan im Haus des Mechanikers Peter Petersen zehn Bürger von Gilleleja und bildeten ein später sogenanntes „Judenkomitee“. Keiner von Ihnen hatte zuvor direkt etwas mit Politik zu tun oder trug administrative Verantwortung. Es waren ganz normale Bürger mit ganz normalen Berufen: Tischler, Lehrer, Lebensmittelhändler, Dorfarzt, Mechaniker. Sie teilten weder Gesinnung noch Ideologie. Erst recht waren sie keine Antifaschisten. Ihr Gemeinsames war lediglich, dass sie alle Einwohner desselben Dorfes waren. Bis auf einen hatte keiner bislang irgendwelche Erfahrungen mit illegalen Aktivitäten oder aktivem Widerstand, aber alle zehn, die aus unterschiedlichen Schichten und Milieus spontan zusammengekommen waren, hatten intuitiv verstanden, dass mit der gewaltsamen Stürmung Ihrer Dorfkirche das Gesetz ihres Dorfes auf dem Spiel stand. „Es liegen mehrere spätere Berichte über die Debatten dieser selbst ernannten Aktionsgruppe vor, und es ist wirklich erwähnenswert, was diese Männer antrieb: Für sie stand der Ruf von ganz Gilleleja auf dem Spiel, die Ehre ihres Gemeinderats und die aller Bürger“ schreibt Bo Lidegaard1. Die Gruppe der Zehn organisierte den Transfer der Juden aus dem Dorf in umliegende Sommerhäuser und kleine Höfe, die Verpflegung und Versorgung mit benötigter Kleidung und die Verteilung auf die Fischerboote, die sie in den nächsten Tagen nach Schweden in Sicherheit bringen sollten. In zahlreichen anderen dänischen Küstenorten waren spontan aus den bestehenden Dorfgemeinschaften vergleichbare Räte entstanden, die das Schicksal der dänischen Juden entscheidend beeinflussten und der Welt ein einzigartiges Beispiel gaben, das, so muss man bedauernd hinzufügen, noch kaum verstanden wurde. Für die handelnden Dänen wurde es eine prägende Erfahrung, die Gerda, die Frau des Rektors und Religionslehrers Bertelsen, im Rückblick so ausdrückte: “Es ist, als ob man zuvor nie verstanden habe, was Leben heißt.“2
Drei kleine, lokale Geschichten, in denen als handelndes Subjekt ein „Wir“ in Erscheinung tritt, dessen gemeinsames und hervorstechendes Merkmal seine Ortsgebundenheit ist. Land und Leute sind hier eine nachbarschaftliche Verbindung eingegangen, die man mit dem bei uns außer Gebrauch geratenen Wort „Landsleute“ bezeichnet. Kein Glaube an die gleiche Idee, kein Bund mit einem höchsten Wesen, sondern einer, dessen tragendes Element der gemeinsam bewohnte Raum ist. Diese orts- und erdgebundenen „Wirs“ haben etwas Äußeres gemeinsam, das von ihnen allen geteilt wird, keinem einzelnen gehört, zu dem sie aber gehören, das von der Generation davor geerbt und an die nächste weitervererbt wird und das von allen erfahren werden kann. Ob die Stadt schön oder hässlich, ob die Landschaft blühend oder verwüstet, ist kein bloß ‚subjektiver‘ Eindruck. Solche „Wirs“ bilden heute die große Ausnahme gegenüber den Massen an Entwurzelten, die wie heruntergefallenes Laub so haltlos geworden sind, dass die Blätter widerstandslos von jedem windigen Gerücht aufgewirbelt und vor sich hergetrieben werden können. Das Buch von Bo Lidegaard über die Rettung der dänischen Juden, das in der deutschen Übersetzung mit „Die Ausnahme“ betitelt ist, lautet im englischen Original „Countrymen“.
Wer etwas in Europa herumgereist ist, wird vielleicht bemerkt haben, dass man solchen Ausnahmen eher an der Peripherie, als im Zentrum begegnen kann, in den baltischen Republiken, den Visegradstaaten, auch im Süden Europas. In Sarajevo, einer Stadt, in der die Gefahr des Krieges noch ganz real ist, wurde mir vor Kurzem erzählt, lernen die Kinder auf den höheren Schulen als zweite Fremdsprache Deutsch und man lehrt sie, dass die kleinste Einheit der Gesellschaft die Familie sei, ein bemerkenswertes Paradox, erscheinen doch gerade Deutschland und Frankreich, der einst gerühmte ‚Motor‘ Europas, heute als die Länder, in denen der Zerstörungsgrad, die innere Zersetzung und Entwurzelung am weitesten fortgeschritten sind. Das Entsetzt-Sein in seiner doppelten Bedeutung ist zum Signum des ‚westlichen‘ Zeitgeistes geworden.
Drei Ausnahme-Geschichten, die uns darauf einstimmen, warum nicht nur Leser im Allgemeinen, sondern gerade wir Deutschen, wie Douglas Murray in seinem an uns adressierten Vorwort ausdrücklich betont, der Stimme von Roger Scruton und der konservativen Tradition, die er fortsetzt, Gehör schenken sollten, denn die Ausnahme ist, man denke an Carl Schmitt, ein guter Ort, um von dort aus die Regel zu verstehen. Auch Hannah Arendt wusste das besondere Verstehenspotenzial der Pariaposition zu nutzen. Roger Scruton ist für uns nicht nur irgendeine Stimme, eine Meinung im Stimmengewirr der prinzipiell gleichgültigen Meinungen, sondern eine herausragende Ausnahmestimme, die etwas für uns aufbewahrt hat, was durch den Normalfall zu verschwinden droht. Es kommt nicht auf die Menge, sondern gerade auf den an, der dem Wahn der Menge, mit sich identisch zu sein, widersteht. Die angelsächsische Tradition hat das besser verstanden, wie man an Filmen wie „Die zwölf Geschworenen“ oder „Quiz Show“ erfahren kann. Wenn die Europäer wieder dem Wahn verfallen, die Menschheit zu sein, bleiben die Engländer lieber die Engländer.3
Wer handelt und Worumwillen und was ermöglicht dieses Handeln? Schon die einfach scheinende Frage, was dieses „Wir“ ausmacht, das in diesen drei Geschichten handelnd hervortritt, öffnet uns einen Zugang zu einer Schlüsselerfahrung: nach den totalitären Einbrüchen des 20. Jahrhunderts stehen wir, was das Verstehen politischen Handelns anbelangt, gewissermaßen mit leeren Händen da. Wir können bestenfalls sagen, was es nicht ist. Dieses „Wir“ ist weder eine Klasse, noch eine soziologische Schicht, noch ein Milieu, dieses „Wir“ handelt weder interessengeleitet noch irrational. Kurz: wer mit den klassischen Kategorien der Politischen Philosophie und der, was die Begründungsontologien anbelangt, davon abgeleiteten Gesellschaftswissenschaften solche Erfahrungen verstehen möchte, kommt schnell an seine Grenzen.
Nachdem er im deutschen Diskursraum lange Zeit weitgehend ignoriert wurde, sind im Abstand von wenigen Monaten zwei von den zahlreichen Büchern, die der führende britische konservative Denker bereits veröffentlicht hat, in einer deutschen Übersetzung erschienen. Die „Bekenntnisse eines Häretikers“, übersetzt von Julia Bantzer, erschienen in der Edition Sonderwege und „Von der Idee konservativ zu sein“, übersetzt von Krisztina Koenen und erschienen im Finanzbuchverlag. Das etwas Gewichtigere scheint mir das Letztere zu sein. Roger Scruton unterscheidet darin zwei Sorten von Konservatismus, einen metaphysischen, den es als Glauben an heilige und erhaltenswerte Dinge immer gegeben habe und einen empirischen, der erst als Reaktion auf Schlüsselereignisse der europäischen Moderne entstanden sei und mit dem er sich vorzugsweise beschäftige. Die europäischen Schlüsselereignisse wiederum haben einen mehr englischen und einen mehr kontinentaleuropäischen Aspekt, weswegen wir uns als angesprochene Deutsche auf Letzteren beschränken, also auf die Französische Revolution und die englischen Antworten darauf.
Was heißt uns, Roger Scruton zu lesen? Warum ihn und warum jetzt? Hat es etwas mit der wachsenden Wahrnehmung der Gefährdung zu tun, der eine rechtsstaatliche Demokratie ausgesetzt ist, wenn die „Identitäten eher konfessionell als territorial definiert sind“?4 Eine Einsicht in das, was auf dem Spiel steht, die auch den dänischen klassischen Philologen Hartvig Frisch auszeichnete, der mit dem 1933 erschienenen Buch „Pest over Europa“ seinen Landsleuten ein Verständnis der Gefahr nahelegte, die von Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus der dänischen Demokratie drohte und damit maßgeblich zur dänischen „Ausnahme“ beitrug. Hat es etwas mit dem neuerlichen Wiederaufleben des revolutionären Mythos zu tun, für den Rechtsordnungen und Demokratie entbehrlich scheinen, wenn es um die revolutionäre Herstellung ganz neuer Wirklichkeiten, die Schöpfung des neuen Menschen geht? Hat es etwas damit zu tun, dass uns im Namen einer selbstgewissen Wahrheit ein Verhalten aufgezwungen werden soll, das keinen Freiheitsspielraum mehr zulassen kann und alles einer einzigen totalen Vorschrift unterwerfen will? Hat es etwas damit zu tun, dass gerade wir West-Deutschen uns immer noch im unverstandenen Erwartungshorizont der Französischen Revolution bewegen und versäumt haben, sie einzuklammern, zu beenden und unserem Land die Form zu geben, die ihm und seiner Geschichte angemessen ist?
Mit der Französischen Revolution wurde die politische Philosophie praktisch. Sie interpretierte nicht nur die Welt, sie änderte sie und verlieh mit der Revolution dem Jahrhundert der Aufklärung ihren krönenden Abschluss, so zumindest ein weit verbreitetes Selbstverständnis. Mit diesem Eindringen der Philosophie in die Politik wurde jedoch etwas sichtbar, was in der Zeit der machtfernen und von jeglicher politischer Verantwortung abgesonderten philosophischen Gesellschaften verdeckt blieb: die Herkunft der klassischen Philosophie aus einem radikalen Feindschaftsverhältnis zum Politischen. Der Jakobinismus etablierte ein ideologisches System identitärer Entsprechungen, in dem die Idee der Souveränität mit der Idee des Volkes und der einer ‚reinen Demokratie‘ in Eins konvergierten. Für Abweichungen, gar Unterschiede war in diesem System kein Platz, weshalb der Adel als Symbol des Unterschieds ihr erstes Opfer wurde. Die imaginäre Gemeinschaft der Gleichgesinnten geriet mit der geschichtlich gewachsenen Gemeinschaft der Landsleute in einen Konflikt, der nur gewaltsam, mithilfe des Terrors zu lösen war. Die Jakobiner „bedienten sich der Sprache des Notstands, versetzten das französische Volk in Alarmstimmung und sprachen von bevorstehender Vernichtung, wenn nicht sofort etwas geschähe. […] Im Katastrophenfall muss eine zentrale Macht ‚von oben‘ alle Entscheidungen treffen. Eine Notstandssituation kann nur gemeistert werden, wenn die Gesellschaft als Ganzes mobilisiert wird. Dann braucht es eine Befehlsstruktur, die das Volk unter dem Banner eines gemeinsamen Ziels vereint.“5 Damit verwüsteten die französischen Revolutionäre, die sich als Vorhut der Menschheit verstanden, das Politische und führten zwei Elemente in die Politik ein, die wir - wider alle Erfahrung - bis heute noch nicht wieder daraus heraus drängen konnten: die Herrschaft des Einen und den Vernichtungskrieg. Was Edmund Burke ein „geometrisches und arithmetisches Staatsexperiment“6 nannte, bedeutete in der Praxis, dass eine selbstgewisse und nicht weiter bezweifelbare Vernunftwahrheit nur planvoll von der Idee in die Wirklichkeit gesetzt werden konnte, wenn zuvor alles gewachsene und vorhandene Wirkliche planiert wurde. Vernunftwahrheiten, das unterscheidet sie von politischen Wahrheiten, kommen, sobald sie einmal begründet erscheinen, ohne jeden Bezug auf andere aus. Sie gelten unbedingt und benötigen weder Gegenseitigkeit, Autorisierung noch Aushandlung. Vor dem, was durch das urteilende Zusammenspiel entstanden und für wohntauglich befunden wurde, haben sie keinerlei Respekt. Gegenüber der Ver-Wirklichung scheint die Wirklichkeit entbehrlich. Durch den permanenten Gebrauch sprachlicher Wendungen, die um Verwirklichung gruppiert sind, insbesondere die aus der Flucht vor der Verantwortung motivierte Selbst-Verwirklichung, haben wir verlernt, die ungeheuerliche Anmaßung zu erfassen, die darin liegt, die aus dem Zusammenspiel von Millionen intelligibler Wesen gewachsene Wirklichkeit von einem einzigen Punkt aus für nichtig zu erklären.
Vernunftwahrheiten begründen einen sequenziellen Zwang: wenn zwei plus zwei vier ist, dann ist zwingend vier plus vier acht und nichts anderes. Aus der logischen Sequenz entsteht eine richtige Richtung und damit eine absolute Unterscheidung zwischen richtig und falsch. Bevor ein politisches ‚Wir‘ von Landsleuten überhaupt spontan entstehen könnte, ist es schon entlang einer unüberwindlichen Barrikade gespalten, die diejenigen auf der richtigen Seite von denen trennt, die auf der falschen Seite stehen. Wer auf einer solchen Schiene fährt, muss springen, um sich von diesem Zwang wieder zu befreien. Der feindselige Konflikt zwischen einem Geltungsanspruch von Vernunftwahrheiten und einem Wahrheitsgeschehen, das sich zwischen den um ihre gemeinsame Sache Beteiligten ereignet, kommt mit der französchen Revolution zum gewaltsamen Austrag. Werden solche Vernunftwahrheiten zur Legitimation scheinbar politischer Aktivitäten erhoben, erscheinen spontan entstandene Handlungsspielräume nur noch als auszuräumendes Hindernis, in der weiteren Radikalisierung als konterrevolutionär. Zum gemeinsamen Handeln ist aus dieser Perspektive kein Platz mehr übrig. Für die Herstellung des Neuen muss das Alte ausgelöscht werden, ein Entwurzelungs- und Entsetzungsvorgang, der bis heute anhält und mit der Illusion des „Alles muss anders werden“ die Morgenröte einer neuen Menschheit verbindet.
Zum anderen kann das Eine nur herrschen, wenn die Vielen keine Möglichkeiten bekommen, sich zusammenzuschließen und ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Lokale und ortsgebundene „Wirs“ müssen an der Einflussnahme gehindert werden. Entstehen dennoch Gruppen, die sich Herrschaftsanspruch und Gehorsamsgebot nicht fügen wollen, bleibt nur die gewaltsame Vernichtung. Roger Scruton erwähnt János Kádár, den ungarischen Innenminister unter dem Rákosi-Regime, der „5000 solcher Gemeinschaften nur innerhalb eines Jahres auflösen“ ließ: „Blasorchester, Chöre, Theatergruppen, die Organisation der Pfadfinder, Lesezirkel, Wandervereine, private Schulen, kirchliche Institutionen, Wohltätigkeitsvereine zur Unterstützung der Armen, Diskussionszirkel, Bibliotheken, Winzervereine, Jagd- und Fischereivereine.“7 Auch heute hat man den Eindruck, dass immer mehr Entscheidungen den lokalen Körperschaften entzogen und einem bürokratischen Zentrum übertragen werden, das weder politisch autorisiert noch legitimiert ist, eine besonders perfide Form totaler Herrschaft, die Hannah Arendt „Herrschaft des Niemand“ nannte, weil jeder zwischenmenschliche Bezug darin ausgelöscht wurde.
Verstanden zu haben, was durch dieses Verwüstungspotenzial einer Herrschaft des Einen auf dem Spiel steht, zeichnet die konservativen Antworten auf die großen Fortschrittsprojekte der Moderne aus, die entstehen, ‘sobald die Zukunft zum Herrscher über Gegenwart und Vergangenheit erklärt wird.“8 Dass auch über den Sinn von Wahrheit stets politisch gesprochen werden kann, heißt uns Roger Scruton in acht Kapiteln, die jeweils die Wahrheit einer bestimmten Ideologie in den Blick nehmen, ihr Sinngefängnis aufbrechen und sie wieder zum Thema eines freundschaftlichen Gesprächs machen, das, wie alle Gespräche, nie zu einem finalen Ende kommen kann, solange Menschen denken und immer wieder neue Menschen solche Gespräche suchen.
Schauen wir Roger Scruton bei dem ersten dieser Wahrheitskapitel genauer über die Schulter. „Wahrheit im Nationalismus“ bedeutet etwas anderes als „Wahrheit des Nationalismus“. Scruton schlägt einen großen Bogen von der Idee der Nation, wie sie von Sieyés exemplarisch ausgedrückt wurde bis zum Europa in Trümmern von 1945 und streng genommen müssten wir diesen Bogen noch mindestens bis zum Fall des Eisernen Vorhangs erweitern, der erst das ganze Ausmaß der Verwüstungen sichtbar machte, das die selbst ernannte „Avantgarde der Menschheit“ hinterlassen hatte. Wir haben es also wenigstens mit drei verschiedenen Bedeutungen von Wahrheit zu tun, derjenigen, auf die die Idee der Nation Anspruch erhebt, die Wahrheit der Leichenberge, die im Namen solcher ‚fiktiver Ideen‘ hinterlassen wurden und die alltägliche Wahrheit der Nation, die erfahrbar war, bevor sie durch die ‚Idee‘ der Nation an den Rand gedrängt wurde. Der Zusammenhang zwischen „fiktiven Ideen“ und wachsenden Leichenbergen ist auf den ersten Blick jedoch ebenso wenig ersichtlich, wie die spezielle Bedeutung der Französischen Revolution.
Was als Französische Revolution bekannt wurde, ist streng genommen weder Französisch noch eine Revolution im hergebrachten politischen Sinn. Ihr fehlt sowohl das „Wir“, wie Gebundenheit und Begrenzung an einen bestimmten Raum. Zum einen taucht bezeichnenderweise in der französischen Erklärung der Menschenrechte das ortsgebundene „Wir“, das im amerikanischen Pendant enthalten ist (‚we hold these truths…‘) nicht auf. Zum anderen will die Französische Revolution nicht eine in ihrem Land aus den Fugen geratene Ordnung wieder einrenken, sondern einen Neubeginn der Menschheit verwirklichen. Sie strebt, wie François Furet schreibt, gar keinen stabilen Zustand ihres Landes an, sondern markiert den Ursprung einer Bewegung, der ein imaginäres Versprechen in die Welt setzt, das von keinem Ereignis eingelöst werden kann.9 Die revolutionäre Idee der französischen Nation ist zugleich mehr und weniger als jede politische Nation; weniger, weil sie von vorn herein eine nationale Gruppe - den Adel - als Fremdkörper ausschließt, womit das Entstehenkönnen eines raumgebundenen „Wirs“ dauerhaft blockiert ist. Mehr, weil diese Idee der Nation immer schon über die erfahrbare Nation hinaus ist. Sie versteht sich als Vorreiternation, die im Namen der gesamten Menschheit spricht. Mit ihrer Vorstellung des Einen entsteht gleichursprünglich die Vorstellung des anderen, der nicht Gegner werden kann, sondern als absoluter Feind bekämpft werden muss. Die Angst vor der Verschwörung wird ein konstitutives Moment dieser ideologischen Identität der Nation. Das revolutionäre Bewusstsein war in den mal gelehrten, mal geheimen Gesellschaften vorbereitet worden, die befreit von jeglicher politischer Verantwortung Meinungen austauschten, ein politik- und machtferner Kontext mit Folgen. Die imaginäre Vorstellung der absoluten Macht entstand aus der tatsächlichen Erfahrung der Ohnmacht heraus, war also per se a-politisch. Sie bildete sich als Vorstellung, weil sie als Erfahrung fehlte. Die als Spiegel der imaginären Vorstellung einer absoluten Macht entstandene Idee des Volks enthält damit immer schon einen Bedeutungsüberschuss, der über jedes tatsächliche politische Volk hinausweist und nur die Französische Revolution zu etwas werden lässt, das als universalgeschichtliches Beispiel von etwas ganz Neuem fungieren kann. Keine andere Revolution kam in den Rang einer Mutterrevolution, die von Nachfolgern als Ursprung einer geschichtlich notwendigen, grenzenlosen Bewegung wahrgenommen wurde, deren Zweck es ist, alle Unterschiede zugunsten einer einzigen Welt, einer einzigen Menschheit auszulöschen. Mit der imaginären Vorstellung der absoluten Macht entstand zugleich die nicht weniger imaginäre Vorstellung von dem, was diese Macht bedroht, mit der Folge, dass sich diese Vorstellung von Macht nur im und durch den permanenten Krieg behaupten kann. Der absolute Feind ist für die absolute Macht konstitutiv.10
Nachdem Europa in Trümmern lag, schien der Schuldige schnell gefunden: die Nationalstaaten sollen es gewesen sein. Die bequeme Erklärung hatte zwei große Vorteile: man konnte mit dem Finger auf andere zeigen, war damit jeglicher eigener Verantwortung enthoben und, noch wichtiger, man konnte an der ‚one world‘ Fiktion der französischen Revolution festhalten. Der Anspruch auf Unterbrechung wurde geflissentlich überhört, man blieb ihm gewohnten Fahrwasser und ersetzte die Idee der Nation durch die Idee Europa. Die näher liegende Einsicht, dass eine stabile und gefestigte Nation einen totalitären Einbruch hätte verhindern können, wie man der dänischen Ausnahme entnehmen konnte, geriet fast überall in Vergessenheit, jedoch im angelsächsischen Sprachraum weniger als im ‚Westen‘. Von Leni Yahils in hebräisch verfasster Promotion von 1964 gibt es seit 1969 unter dem Titel „The Rescue of Danish Jewry - Test of a Democracy“ eine amerikanische Übersetzung, aber bis heute keine deutsche.
Roger Scruton bringt uns jene politische Bedeutung von Nation wieder, die zwar nicht immer als Begriff, aber als Erfahrung eines ortsgebundenen “Wir“ jahrhundertelang selbstverständlich war, bevor sie durch den philosophischen Übergriff und seine Folgen der Verdammung verfiel. „Für einfache Menschen, die im freien Zusammenschluss mit ihren Nachbarn leben, bedeutet „Nation“ einfach die historische Identität und die fortdauernde Loyalität, die sie in ihren Staaten eint. Sie ist der Erste-Person-Plural der Sesshaften.“11 Der historische Grundgehalt dieser Erfahrung ist die freie Stadt, das freie Land, das unterschiedet diese Erfahrung von der machtfernen Erfahrung jener philosophischen Gesellschaften, in denen sich im 18. Jahrhundert die revolutionäre Ideologie vorbereitet hat. Die Bindung des Raumes löste nicht nur die Bindung des Blutes oder des Glaubens ab, sie zivilisierte und befriedete, indem die Gewalt, die als Blutrache der Sippe oder Reinigungsleidenschaft der Rechtgläubigen die Nachbarn gegeneinander aufbrachte, in ein gemeinsames Recht überführt wurde, das als Gesetz des Raumes ein friedliches Zusammenleben stiftete, bewahrte und vor Gewalteinbrüchen freihielt. Das englische ‚common law‘ ist ja nicht nur ein fallbezogenes Recht, sondern zugleich ein Gewohnheitsrecht, das an das gemeinsame Bewohnen eines Raumes gebunden ist und sich gegenüber Herrschaftsvorschriften von außen zu behaupten wusste. Die zentrale Figur solcher friedlicher Räume ist der Nachbar, auf den man - nicht nur in Momenten der Gefahr - in vielerlei Hinsicht angewiesen ist. Man teilt mit ihm nicht nur den gemeinsamen Raum, sondern auch die Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten, die in Jahrhunderten entstanden sind, sich ohne große Brüche dem Wandel der Zeiten anpassen und mit jedem ‚normalen‘ Generationenkonflikt einen Anteil Neues zulassen, ohne das Alte in Bausch und Bogen verwerfen zu müssen, eine Normalität, die in der deutschen Nachkriegsgeschichte blockiert war. Das territoriale „Wir“ ist von anderer Art als das religiöse oder ethnische. Es ermöglicht dem Einheimischen, gegenüber dem Fremden die Kultur der Gastfreundschaft zu pflegen12. Das religiöse Wir dagegen teilt den Glauben und trennt den Raum, es unterscheidet den Gläubigen vom Ungläubigen, ein Bezug von Reinheit und Gefährdung, der nur entweder die völlige Absonderung von der Welt der anderen wie in den frühen Klöstern, oder Konversion, Unterwerfung, schlimmstenfalls Ausrottung zulässt. Nur in ganz wenigen Städten und meist auch nur für eine sehr begrenzte Zeit ist es gelungen, die Bindung des Raumes der des Glaubens überzuordnen und ein friedliches Zusammenleben zwischen den abrahamitischen Religionen zu ermöglichen, was uns lehrt, dass der Bluts- oder Glaubensbruder ein höchst fragiles Modell für ein politisches Zusammenleben ist, das jederzeit in Hass- und Gewaltausbrüchen wieder auseinanderfallen kann, eine Erfahrung, durch die auch Europa erst hindurch gehen musste, bevor es den Wert säkularer Rechtsvorstellungen zu schätzen lernte. Gegenüber der französischen Verkündigung der Brüderlichkeit ist demnach Skepsis angesagt, zumal die Muslim-Brüderschaft gegenwärtig den gefährlichsten Angriff auf die europäische Weise des Zusammenlebens darstellt. Man muss hier zwei Arten von Bindungen, zwei Bedeutungen von Religion unterscheiden: die Bindungen des Blutes und die der Gesinnung oder des Glaubens beruhen auf einem Element, das in allen Mitgliedern der Gemeinschaft gleich ist. Die Bindung des Raumes hingegen beruht auf einem Element, das nicht in ihnen ist, sondern zu dem sie alle einen Bezug haben. Aus dem gemeinsamen Bezug entsteht ein geteiltes Zwischen. Es handelt sich um verschiedene Formen der Vergemeinschaftung. Aus der einen entsteht die Masse, die man organisieren und mobilisieren muss, aus der anderen die Stadt, die am Schönheitswettbewerb teilnimmt.
Kehren wir zum Anfang zurück. Apokalyptische Stimmungen sind Krisensymptome. Sie beziehen ihr Überzeugungsmoment aus einer generellen Krise der politischen Ordnung, die sie beschwören, beschleunigen und gleichzeitig verhüllen, indem sie verhindern, dass die tatsächlichen Ursachen der Krise zum Thema einer politischen Auseinandersetzung werden können13. Als ‚theologisch-ideologische‘ Deutung der Ereignisse können sie sich nur dort in den Vordergrund schieben, wo die Fähigkeit oder Bereitschaft zur politischen Deutung der Ereignisse zu wenig verbreitet, unterentwickelt oder zu schwach ist. Das exzessive Befeuern solcher Stimmungen spielt einem politischen Personal in die Hände, das seine Autorität längst verspielt hat und sich auf demokratischem Wege nicht mehr an der Macht halten könnte. Werden solche apokalyptischen Stimmungen mit revolutionärem Pathos verknüpft, gerät die rechtsstaatlich verfasste Demokratie in existenzielle Gefahr, denn die Gewalt wird zum notwendigen Mittel der Verwirklichung verklärt.14 Wird Apokalyptik revolutionär, will sie die vorhandene Totalität vernichten und durch eine vollkommen neue Totalität ersetzen. Die Französische Revolution endete im Terror, Napoleon verwüstete halb Europa. Ihr direkter Nachfolger, die bolschewistische Revolution endete in noch weit größerem Terror und verwüstete für Jahrzehnte ganz Mittel- und Osteuropa. Für einen dritten Aufguss dieses revolutionären Mythos besteht keine Veranlassung. Statt sich vom Klimarettungswahn eine Scheinidentität suggerieren und von seiner apokalyptischen Fiktion mobilisieren zu lassen, würde es völlig genügen, die noch vorhandenen Bindungen zu pflegen und zu festigen, zusammen mit seinen Nachbarn seine eigene Stadt so herzurichten, in Ordnung zu halten und schön zu machen, dass sie von Fremden gerne besucht wird und von den Bewohnern als ihre Stadt in ihre Sorge genommen werden kann. In dem Kapitel „Bauen, was bleibt“ aus „Bekenntnisse eines Häretikers“ schildert Scruton die Vorstellungen des Architekten Léon Krier, der Städte nach der Regel baut, in einer Stadt für Bewohner müsse alles in zehn Minuten zu Fuß erreichbar sein. Sie wären eine lohnenswerte Anregung für eine drängende Wiedersesshaftwerdung, deren Sinn uns abhanden gekommen scheint.
Weitere Veröffentlichungen:
The European: Von der Idee, konservativ zu sein
TUMULT-Blog: Roger Scruton lesen
CATO - Magazin für neue Sachlichkeit - 01/202
1 Bo Lidegaard: Die Ausnahme, Oktober 1943: Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen, München 2013, S. 464, es ist für mich auch eines der besten Bücher, um den Unterschied zwischen Aktion/Aktivist und ‚acting in concert‘ zu verstehen. Aktion war die Sache der Nazis, acting in concert die der Dänen.
2 Aage Bertelsen: Oktober 43, München 1960, S. 107, er verbindet die Erfahrung seiner Frau mit einem Satz von Schiller: „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird Euch das Leben gewonnen sein.“
3 „Die Meinungen der Mehrheit können falsch sein, die Wünsche der Mehrheit können bösartig sein, die Stärke der Mehrheit kann gefährlich sein. Deshalb gibt es jemanden, der wichtiger ist als die Mehrheit, nämlich die Person, die anderer Meinung ist. Diese Person müssen wir schützen.“ Roger Scruton: Von der Idee, konservativ zu sein, S. 65
4 Roger Scruton: Von der Idee konservativ zu sein, München 2019, S. 41
5 Roger Scruton: Grüne Philosophie, München 2013, S. 89
6 „Soll unsere monarchische Verfassung mit allen Gesetzen und Tribunalen und allen alten Korporationen des Reiches vernichtet werden? Soll jeder Grenzstein im Königreich zugunsten eines geometrischen und arithmetischen Staatsexperiments von seiner Stelle weichen?“ in: Edmund Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution, Zürich 1986, S. 122
7 Roger Scruton: Von der Idee konservativ zu sein, München 2019, S. 191
8 ebd., siehe auch R. Scruton: Grüne Philosophie, S. 180: „Der radikale Egalitarier befindet sich gewöhnlich im Dauerclinch mit der Welt des „Gebens und Nehmens“, die ihn umgibt. Seine Zugehörigkeit bezieht sich nicht auf das Hier und Heute, auf die ererbte und unvollkommene soziale Ordnung aller, die sich eben irgendwie durchschlagen. Er ist Teil einer imaginären Gesellschaft von Gleichgesinnten, die sich - edel im Gemüt - um ein gerechtes, gemeinsames Ziel scharen. Wo sich der Konservative mit der Familie, der Gemeinde und der Nation identifiziert, fühlt der Radikale sich einer Bewegung (kursiv im Original, BB) zugehörig, die seinen ewigen Schmerz des Getrenntseins lindert und auflöst.“
9 vgl. François Furet: 1789 - Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft: „Der Kampf um die Demokratie und der Kampf um den Sozialismus (heute müssen wir den Kampf um den Globus hinzufügen, BB) sind zwei aufeinanderfolgende Konfigurationen, deren dynamisches Prinzip die Gleichheit ist, die wiederum in der Französischen Revolution ihren Ursprung hat. So entstand eine Vision, eine lineare Geschichte der Befreiung des Menschen.“. Berlin 1980, S. 12f
10 „Ebenso wie der Volkswille ist die Verschwörung ein Machtwahn; zusammen stellen sie die beiden Seiten dessen dar, was man die demokratische Fiktion der Macht nennen könnte.“ ebd. S. 68
11 Roger Scruton: Von der Idee, konservativ zu sein, S. 64
12 Um Missverständnissen vorzubeugen: Der ‚welcome refugees‘ Wahn hat nichts mit Gastfreundschaft zu tun. Es ist der verzweifelte Versuch, sich der Last der Geschichte auf bequemste Art zu entledigen. Gastfreundschaft basiert auf der Gegenseitigkeit, dem Anderen einen gewaltfreien Schutzraum für einen zeitweisen Aufenthalt gewähren zu können. vgl. auch Roger Scruton: Grüne Philosophie: „Stammesmitglieder betrachten sich als Familie. Mitglieder religiöser Gemeinschaften sehen einander als „die Gläubigen“ an. Menschen einer Nation sehen einander als Nachbarn. All diese Formen von Selbst-Identität wurzeln in Bindung und Zugehörigkeit. Doch nur beim Nationalgefühl spielt das Territorium eine zentrale Rolle. Damit liefert es der Gruppe von Fremden eine erste Person Plural und ermöglicht eine friedliche Koexistenz von Menschen, die untereinander keine familiären oder religiösen Bindungen haben.“ S. 248
13 Der Ursprung des apokalyptischen Geistes ist Israel. Das Volk Israel wurde mit all seinen Wurzeln aus der Erde gerissen und verkehrt herum nach oben aufgehängt. Dadurch entstand erst jener besondere Nicht-Ort, von dem aus die gesamte existierende Welt als das Falsche, das zu Vernichtende angesehen werden konnte. vgl. Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie
14 Die Gewalt kann nie mehr, als die Grenzen des politischen Raumes zu schützen. Wo die Gewalt in die Politik selbst eindringt, ist es um die Politik geschehen.“ Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1994, S. 20
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