Bremen und der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken
Was hier auf dem Spiel steht, ist die faktische Wirklichkeit selbst,
und dies ist in der Tat ein politisches Problem allererster Ordnung.
Hannah Arendt
In wenigen Tagen wird wieder im Rathaus der Stadt Bremen der ‚Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken‘ verliehen, aus Bremer Mitteln kommt die eine Hälfte des Preisgeldes, die andere Hälfte stammt von der Heinrich-Böll-Stiftung. Geehrt werden in diesem Jahr Personen, die in politischen Ordnungen leben müssen, in denen das organisierte politische Lügen zum Alltag gehört. Doch so weit weg brauchen wir gar nicht zu schauen. Während gewöhnlich bei Preisen, die nach berühmten Personen benannt sind, gefragt wird, ob diejenigen, die den Preis erhalten, sich auch des großen Namens würdig erweisen, wollen wir hier die Frage ein wenig anders stellen: Sind denn die Preisverleiher würdig genug, sich mit dem Namen Hannah Arendts zu schmücken? Statt von Bremen aus Hannah Arendt zu lesen, werden wir hier von Hannah Arendt aus auf Bremen blicken, liefert doch die Preisverleihung Anlass genug, zu fragen, von welcher tatsächlichen Relevanz Überlegungen von Hannah Arendt für die politischen Angelegenheiten sind. Aus aktuellem Anlass muss man nämlich Sorge haben, dass es in dieser schönen Stadt um die ‚faktische Wirklichkeit‘ nicht gut bestellt ist. Längst hat sich auch in Bremen das organisierte politische Lügen einen festen Platz im Repertoire politischen Handelns erobert, was es rechtfertigen mag, eine Frage Hannah Arendts aus einem Essay von 1964 mit dem Titel ‚Wahrheit und Politik‘ wieder aufzugreifen, die Frage nämlich, welchen Gefährdungen die Tatsachenwahrheit im politischen Bereich ausgesetzt ist und in welcher Weise die ‚Würde dieses Bereichs‘ dadurch bedroht ist. Der Essay ist Teil des Sammelbandes ‚Zwischen Vergangenheit und Zukunft - Übungen im politischen Denken I‘.
Bremen hat, wie andere Städte auch, gerade ein großes Problem mit der schieren Anzahl von Flüchtlingen, was unter anderem der großen Gleichgültigkeit geschuldet ist, mit der wir die Ausbrüche von Gewalt in unserer näheren und weiteren Umgebung achtlos geschehen lassen. Nun sind Flüchtlinge nicht gleich Flüchtlinge, es gibt Unterschiede, einige kommen aus Kriegsgebieten, haben eine wahre Odyssee hinter sich und sind gerade noch mit dem Leben davon gekommen, andere suchen einfach nur ein besseres Leben, und wieder andere suchen etwas ganz anderes. Bei der Gruppe der im schönsten Amtsdeutsch genannten ‚unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge‘ verschärft sich das Problem, weil sie bislang nicht nach einem bestimmten Schlüssel auf die einzelnen Bundesländer verteilt werden, sondern da ‚in Obhut genommen‘ werden müssen, wo sie aufgegriffen werden. Auch unter diesen gibt es erhebliche Unterschiede, was ihre Herkunft, ihre Fluchtgründe, ihre Fluchtmotivation und die Art und Weise anbelangt, wie sie hierher kommen. Das alles wäre nicht der Rede wert und hätte vor allem auch wenig mit Hannah Arendt zu tun, aber unglücklicherweise gibt es unter diesen minderjährigen Flüchtlingen eine spezielle Teilgruppe von wenigen Personen, die in kurzer Zeit ein beachtliches Straftatenkonto aufgetürmt haben, und die man deshalb nach allgemein geteilter Einschätzung als ‚Intensivtäter‘ einstufen muss. Damit verkompliziert sich die Angelegenheit, denn nun ist, allein schon juristisch gesehen, nicht nur das Jugendhilfe- und das Ausländerrecht, sondern zusätzlich auch noch das Strafrecht mit all den für sein Urteilen bedeutsamen Rechtsgüterabwägungen im Spiel. Da es sich auch um Gewalttaten handelt, bei einer Messerstecherei bereits ein Mensch zu Tode gekommen ist, spielen neben dem Schutz eines Flüchtlings auch andere Rechtsgüter wie körperliche Unversehrtheit oder die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung eine gewisse Rolle. Ausschließlich um diese kleine Gruppe geht es. Hier nun fängt die Geschichte an, interessant zu werden und eine gewissermaßen Arendt’sche Note zu bekommen, denn die Personen dieser speziellen Gruppe sind sowohl Flüchtlinge, als auch Intensivtäter, sie sind weder eindeutig das eine, noch eindeutig das andere. Betrachtet man hingegen die ‚öffentliche Meinung‘ in Bremen, so stellen diese Personen offenbar durch ihre bloße Tatsache, dass es sie als solche gibt, für den öffentlichen Umgang damit ein ernsthaftes Problem dar.
Nur ganz wenige der politisch Verantwortlichen sind in der Lage, sich dieser Tatsache zu stellen und die Faktizität angemessen zu berichten. Sie sind die große Ausnahme. In einer gemeinsamen Pressemitteilung der Ressorts Justiz, Innen und Soziales heißt es, und es gibt gute Gründe, zu unterstellen, dass dieser Abschnitt vom Vertreter der Innenbehörde stammt: „Eine ca. 15 Personen große Teilgruppe junger Flüchtlinge fällt aber wiederholt durch schwerere Straftaten wie unter anderem Körperverletzungs- und Raubdelikte auf.” Diese Personengruppe entziehe sich einer pädagogischen Betreuung und unterscheide sich von einer anderen Gruppe von ca. 30 Personen mit weniger schweren Straftaten dadurch, dass hier bereits die Gefahr einer Verfestigung der kriminellen Neigung bestehe. Zwar wird auch hier der Begriff ‚Intensivtäter‘ vermieden‘, aber alle sachlichen Hinweise weisen eindeutig darauf hin.
Von zahlreichen anderen öffentlichen Verlautbarungen politischer Funktionsträger sind dagegen Töne zu hören, die ein massives Problem mit der Faktizität als solcher erkennen lassen. So verkündet ein Vertreter der Sozialbehörde auf einer öffentlichen politischen Veranstaltung, bei den Straftaten dieser ‚Intensivtäter‘ handele es sich überwiegend um Kavaliersdelikte wie Schwarzfahren, ein lokaler ‚SPD-Fürst‘ qualifiziert die ’schweren Straftaten‘ als ‚dummes Zeug‘, so etwas wie ‚dumme Jungen Streiche‘, worunter man sich allenfalls das Stehlen von Nachbars Kirschen, aber wohl kaum das Töten eines anderen Menschen vorstellen kann, und ein Dritter, dies wiederum ein Vertreter der Sozialbehörde, verwandelt gleich Tatsachen in bekämpfbare Ansichten und charakterisiert Polizeiberichte als ‚Dämonisierung von Jugendlichen‘. Eilfertig sekundiert von Medien, die über das Niveau parteipolitischer Verlautbarungsorgane kaum noch hinauskommen, wird es dann geradezu grotesk in einem Schreiben der Sozialbehörde an ‚Liebe Anwohner‘. Hier wird jene spezielle Gruppe der Intensivtäter-Flüchtlinge folgendermaßen dargestellt:
„Wir machen sehr gute Erfahrungen mit diesen Jugendlichen. Viele sind klug,
sprechen mehrere Sprachen und sind es gewohnt, sich in größeren Gruppen
zu bewegen. Die weitaus meisten sind ehrgeizig und wollen etwas aus sich
und ihrem Leben machen, sie sind kontaktfreudig und verfügen über
ausgeprägte soziale Kompetenzen. Sie wollen ein besseres Leben
und einen Platz in unserer Gesellschaft.“
Um dieses romantische Bild vollständig zu machen, fehlt eigentlich nur noch der Hinweis, dass die Jugendlichen Geige oder Klavier spielen, zu Weihnachten im Chor singen und Gedichte der deutschen Klassik in fehlerfreiem Deutsch rezitieren. Weil man aber den anderen Aspekt nicht vollständig ignorieren kann, heißt es weiter:
„Andere aber haben einen besonders schweren Lebensweg hinter sich. Sie haben sich ohne Unterstützung durchschlagen müssen und dabei teilweise Verhaltensweisen entwickelt, die für ihr Überleben auf der Flucht notwendig waren, die wir in unserer Gesellschaft aber nicht tolerieren.“
Die Sozialbehörde optiert hier für die Eindeutigkeit eines Flüchtlings, dem jegliche Integrationsbarrieren, die schon von seinem bloßen Anderssein herrühren, wegretuschiert werden und dessen krimineller Aspekt als sekundär und abhängig herabgestuft werden muss. Der Flüchtling sei nur kriminell, solange er Flüchtling ist, sobald er angekommen und entsprechend willkommen geheißen, verliere sich seine Kriminalität quasi wie von selbst. Mit dieser Übertragung einer politischen Frage in den Bereich des Moralischen wird zuallererst der Zublick auf die Sache verstellt. Aus konkreten Flüchtlingen (Plural) wird das hergestellte, abstrakte Bild des singulären Flüchtlings (‚image making‘), es schiebt sich zwischen den Betrachter und die Wirklichkeit, aber das Bild verdeckt nicht nur, es vernichtet, es geht um weit mehr als nur Propaganda. Mit dieser gewaltsamen Vereindeutigung überlässt die Sozialbehörde den dadurch ausgeblendeten Bereich den anderen, die sie gleichzeitig mit Ihrem abstrakten Bild und einer zugehörigen moralisch zwingenden Vorschrift konfrontiert. Das Zwanghafte ruft den Widerspruch regelrecht hervor. Ein Teil der Anwohner, denen Jugendliche aus dieser speziellen Gruppe in einer wenig bürgerfreundlichen Geheimoperation vor die Nase gesetzt werden, fühlt sich übergangen und belogen, es entsteht spontan eine Facebook Gruppe, die in wenigen Tagen auf über 2500 Mitglieder anwächst - sie protestieren lautstark und vehement und wollen die Unterbringung von ‚Intensivtätern‘ vor Ihrer Haustür verhindern. Wie von selbst fokussieren sie sich auf den Aspekt des Kriminellen, ob es auch Flüchtlinge sind, spielt wiederum in ihrer Perspektive keine Rolle. Die spiegelbildliche Ausblendung von Faktizität führt zu weiteren Spiralen der Entfernung von der Sache, um die es ursprünglich ging. Die moralisch-monologische Struktur einer gewaltsam auftretenden Gesinnungswahrheit verschließt sich gegenüber der Wirklichkeit und spaltet die Anwohnerschaft in Gut und Böse - der Riss geht mitten durch Familien und Nachbarschaften. Von einem auf den anderen Tag sprechen Menschen nicht mehr miteinander, die seit Jahren stabile Nachbarschaften gepflegt hatten - der daneben ist jetzt das feindliche Gegenüber. Man muss sich jetzt entscheiden, auf welcher Seite man steht. Der Ruf des Schlachtfeldes zieht externe Glaubenskrieger an. Unbehelligt von den Kräften, die für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung sorgen sollten, denunziert ein linksradikaler Gesinnungsmob besorgte Anwohner als rechte Rassisten und terrorisiert in bester SA-Manier Geschäftsinhaber, die Unterschriftenlisten auslegen. Aus einer ursprünglich politischen Frage eines angemessenen Umgangs mit nicht eindeutigen, konflikthaften Personen entsteht in einer mehrstufigen Dynamik innerhalb weniger Tage und Wochen eine Gesinnungsschlacht mit Bürgerkriegsatmosphäre. Es kursieren Gerüchte von Molotow-Cocktails - die Polizei muss vor Ort massive Präsenz zeigen. Spätestens jetzt erliegen auch die Medien, deren Aufgabe der Bericht wäre, der Abwärtsspirale und verfallen den antifaschistischen Reflexen.
Die schlichte Tatsache, dass eine ganz bestimmte Gruppe von Jugendlichen, die jeweils einen Namen, eine Herkunft, eine erzählbare Geschichte, jeweils konkrete, genau bestimmbare Straftaten, ein Anrecht auf angemessenes Urteilen, sowohl im politischen als auch im juristischen Sinn haben, spielt keinerlei Rolle mehr - die Faktizität als solche ist durch ein organisiertes, öffentliches Lügen vernichtet - mit ihr versinkt eine gemeinsame Welt im Abwärtsstrudel. Aus den konkreten Personen, die dem öffentlichen Raum des Urteilens entzogen werden, wird die Gestalt des Flüchtlings, die zur Vorstellung des Guten dient. Das Phänomen ist nicht auf Bremen beschränkt, man kann es derzeit häufiger beobachten. Aber es steht weit mehr auf dem Spiel, als ein bloß moralisches ‚Du sollt nicht lügen‘.
Wir betrachten es als selbstverständlich, dass der Bereich der Machtpolitik durch die Lüge verunreinigt ist und ziehen uns daher gerne auf eine davon unberührte, moralisch integre, erhabene Haltung zurück, deren politische Ohnmacht zugunsten eines Gewinns an gefühlter Erhabenheit wir in Kauf nehmen. Die moralische Vorschrift ‚Du sollst nicht lügen‘ verstehen wir als Anweisung an uns selbst, ihre Überwachung besorgt unser eigenes Gewissen, mit dem wir bei Bedarf in einen, nach außen zu den anderen hin stillen, inneren Dialog treten. Hannah Arendt verschiebt jedoch gleich zu Beginn ihres Textes von 1964 ‚Wahrheit und Politik‘ Standort und Perspektive und fragt nicht nach der Würde desjenigen, der im Zwiegespräch mit sich selbst ist (das wäre die sokratische Frage, an der so mancher aus der hiesigen Arendt Gemeinde mit erstaunlicher Vehemenz festhält), sondern nach der Würde des politischen Bereichs einerseits und der Würde der Wahrheit in diesem Bereich andererseits, nach dem, was eine gemeinsame, mit anderen geteilte Welt, die einzig uns Sterblichen Halt gibt, ausmacht. Entlang der Spaltungslinie des Konflikts zwischen Philosophie und Politik, der wie ein Fluch auf unserer Geschichte lastet, öffnet Sie den Bereich des Politischen durch eine Reihe grundlegender Unterscheidungen: mathematische, wissenschaftliche und philosophische Wahrheiten ordnet sie den Vernunftwahrheiten zu, während die Tatsachenwahrheiten dem politischen Bereich angehören. Diese Zuordnung wird durch entsprechende Gegensatzpaare erweitert: wissenschaftliche Wahrheit versus Irrtum, philosophische Wahrheit versus Illusion oder Meinung, politische Tatsachenwahrheit versus organisierter Lüge. An der Frage, welchen Gefahren die jeweilige Art der Wahrheit im politischen Bereich ausgesetzt ist, bemerkt Sie überrascht, dass ausgerechnet bei der Art von Wahrheit, die von allen Wahrheiten am meisten gefährdet ist, der Tatsachenwahrheit nämlich, die Frage, wodurch sie gefährdet wird, bislang kaum beachtet wurde. „Tatsachen stehen immer in Gefahr, nicht nur auf Zeit, sondern möglicherweise für immer aus der Welt zu verschwinden“(S.331), während „von Plato bis Hobbes das organisierte Lügen … nirgends als eine wirksame Waffe gegen die Wahrheit auch nur erwähnt wird“ (S.332).
Wie so häufig bei Hannah Arendt, kommt Hochbedeutsames eher beiläufig, in einem Nebensatz, einer hingeworfenen Bemerkung, gar nicht mit großem Tam-Tam, sondern ganz unscheinbar daher - man kann es, wenn man zu unaufmerksam ist, leicht überlesen, zumal in einer Kultur, welche die Selbstbewichtigung ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellt, dem wartenden Hören jedoch nur noch geringe Beachtung schenkt. Hannah Arendt führt eine Figur ein, die wir in einer gewissen Vorläufigkeit den ‚Haltsucher‘ nennen wollen. Die Figur verweist darauf, dass die Philosophie sich einer Krisenantwort verdankt, womit ihr Dialog unter abgesonderten Auserwählten wieder auf das bezogen wird, wovon er sich absondert, jenem stetigen Fluss der Veränderungen, dem, je nach Ausmaß der Krisenerfahrung, von irgendwoher etwas Haltgebendes abgerungen werden muss, was aus Sicht der entstehenden Philosophie ein imaginäres Verhältnis des Philosophen zu seiner Phantasie werden wird, dem Bereich der Sterblichen entzogen schaut eine eigens dazu erfundene unsterbliche Seele die unveränderliche Wahrheit der göttlichen Dinge. Erst die in jüngster Zeit verschiedentlich vollzogene Hinwendung zu mütterlichen Aspekten hat uns gelehrt, in jenem Verhältnis auch die dem Leben entzogene Friedhofsatmosphäre zu bemerken. Die Entstehung der philosophischen Wahrheit verdankt sich einer radikalen Abwertung jeglicher Meinung, was die ‚eigentliche politische Schärfe des Konflikts‘ zwischen Wahrheit und Politik ausmacht, denn dieser Konflikt ist zunächst ‚an der Vernunftwahrheit ausgebrochen‘, was seine Bedeutung für die Tatsachenwahrheit lange verdeckt hat. Erst nachdem alle Versuche, von dieser philosophischen Wahrheit aus die menschlichen Angelegenheiten zu stabilisieren, im Terror oder der Tyrannei geendet sind (Denktagebuch I, S.253), wird der Blick wieder freier. Muss der Haltsucher tatsächlich, von allen abgewandt, in die Wüste flüchten, um in seiner Phantasie das wiederzufinden, was er unter Seinesgleichen verloren glaubt?
Tatsachenwahrheiten eignet, obwohl sie stets der Gefahr unterliegen, in Meinungen transformiert und damit der Beliebigkeit ausgesetzt zu werden, eine gewisse ‚unbewegliche Hartnäckigkeit, die durch nichts außer der glatten Lüge erschüttert werden kann‘, wie Hannah Arendt mit einem Hinweis auf ein Bonmot des von ihr sehr geschätzten Clemenceau betont: ‚Belgien ist nicht in Deutschland eingefallen‘, was auch immer man für eine Meinung zu den Fragen der Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg haben kann. Diese Hartnäckigkeit sorgt für eine gewisse Beständigkeit, für etwas, das durch den Gemeinsinn der Vielen, die einfach nur sagen, was ist, in der Zeit gehalten werden kann und damit eine Würde erlangt, die es mit jener stabilisierenden Funktion des Unveränderlichen, an dem sich die Philosophie orientiert, durchaus aufnehmen kann. Während der Philosoph, „der Wahrheitssucher und -sager nur als Einzelner mit Einzelnen existieren kann“ (S.335), fühlt sich der Haltsucher politisch unter Seinesgleichen am wohlsten, allerdings ist der Konflikt damit noch längst nicht beigelegt, sondern hängt an der Frage, worauf der Sinn der Gleichgesinnten sich richtet, ist doch die politische Versuchung, gerade aus der unwillkommenen Tatsachenwahrheit eine bloße Meinung zu machen, allgegenwärtig.
Die Tatsache benötigt, um Wirklichkeit für den Gemeinsinn zu werden, den Zeugen, jenen berichterstattenden Boten, der sie wahrnehmend in die Welt der Sterblichen überträgt. Festigkeit und Stabilität aber erlangt eine solche Welt erst mit der zunehmenden Anzahl derer, die diesen Sinn teilen und die Würde der Tatsachenwahrheit gegen jeden Versuch einer lügenhaften Vernichtung verteidigen.
„Es geht ja um den Bestand der Welt und keine von Menschen erstellte Welt, die dazu
bestimmt ist, die kurze Zeitspanne der Sterblichen in ihr zu überdauern, wird diese
Aufgabe je erfüllen können, wenn Menschen nicht gewillt sind, das zu tun, was
Herodot als erster bewusst getan hat - nämlich … das zu sagen was ist.“ (S.329)
Die Freiheit der Tatsachen, sein zu können, was sie sind, hängt an der Wahrnehmung derjenigen, die sie so sein lassen und ihre Würde respektieren, wodurch ihre Würde mit der Würde des politischen Bereichs als solchem direkt verknüpft ist, denn die Tatsachenwahrheit „gibt der Meinungsbildung den Gegenstand vor und hält sie in Schranken.“ (S.343, Hervorh. von mir, BB) Diese ganz eigenartige ‚Kraft des Wirklichen‘ stabilisiert den politischen Raum als solchen und verleiht ihm erst jene Beständigkeit und Sicherheit, ohne den so etwas wie Meinungsfreiheit eine reine Farce wäre. „Freiheit und Lüge schließen einander aus“, so Marianne Birthler kürzlich in einem Beitrag über 25 Jahre Mauerfall.
Das Wirkliche gibt dem Meinungsstreit seine Grundlage, seine Bindung und seine Begrenzung, sofern es lehrt, sich mit dem, was sich so und nicht anderes ereignet hat, auch wenn es sich jederzeit hätte anders ereignen können, abzufinden. Während die philosophische Wahrheit vereinzelt, die Gesinnungswahrheit spaltet, versammelt die Tatsachenwahrheit. Als Sache, um die es geht, öffnet und begrenzt Sie den Raum darum herum ebenso, wie sie das Spielfeld öffnet und einhegt für das, was auf dem Spiel steht.
Wird diese für das Leben in einer gemeinsamen Welt elementare Bindung durch öffentliches, organisiertes Lügen durchtrennt, gerät man unweigerlich auf die schiefe Bahn und damit schnell ins Bodenlose. Man verliert genau jene Orientierung, die dann durch ein erfundenes Freund/Feind Schema imaginär erst wieder konstruiert werden muss. Von Reportern aus Kriegsgebieten kennt man den Satz: Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Das gilt nicht nur für Kriege, die mit Kanonen ausgefochten werden, sondern auch für solche, die mit der Gesinnung als Waffe ausgetragen werden. Nicht nur in diesem Fall ist die Gefährdung, die von der faktischen Wirklichkeit ausging, weitaus geringer, als der Schaden, der durch das organisierte öffentliche Lügen angerichtet wurde.
4. Dezember 2014 um 16:41 Uhr
Ein sprachlich anspruchsvoller, lesenswerter Text, der mit dem Brückenschlag von Hannah Arendt zum Verhalten der Bremer Sozialbehörde und einiger Facebookforen im Streit um die Nutzung eines Hauses an der Rekumer Str. 12 im Bremer Norden überrascht.