Arendtsche Denkungsart und Öffnungsweisen der ‚Demokratischen Frage‘
Stünde, liebe Tagungsgäste und Freunde, diese Tagung und dieser Vortrag unter einem guten Stern, so bekämen beide etwas vom Charakter einer guten Aufmerksamkeitsübung. Eine gute Aufmerksamkeitsübung hat, wie wir wissen, sowohl die Seite einer Konzentrationsübung, wie die einer Lockerungs-, ja Entspannungsübung. Beides zusammen unterscheidet sie wohl von einer eher einseitigen reflexiven Anstrengung, oder von einer, bloß Standpunkte klärenden Diskussion. Sie können natürlich fragen, liebe Freundinnen und Tagungsgäste: Muß das sein, diese auch noch zwiefache Übung? Wäre es nicht ehrlicher und zweckdienlicher, uns an die Normalität der gewohnten Tagungs- und Vortragsform zu halten? Genügt nicht eine Tagungsform, in der politisch und intellektuell Interessierte mit politischen Akteuren und professionellen Politikwissenschaftlern zusammenkommen, um Thesen und Erklärungsmuster zu Gegenwartsfragen vorzustellen? Über diese könnte man dann, mit variierender Vehemenz, aber, selbstverständlich, ‚offen und tolerant‘ debattieren.
Es wäre naiv, liebe Tagungsgäste und Freunde, zu meinen, wir könnten ganz und gar aus dem üblichen setting der Tagungen dieser Art herausspringen. Dennoch: es gibt irgend etwas an der Sache dieser Tagung, die ja Arendtsche Denkungsart und politische Gegenwartsfragen aufeinander beziehen will, das einem eher abhandelnden und erklärenden setting widerstrebt. Indem wir nämlich Arendtsche Denkungsart und Gegenwartsfragen aufeinander beziehen möchten - und sogar so, daß sie sich gegenseitig beleuchten - stoßen wir auf eine zunächst kaum wahrgenommene Diskrepanz. Wir werden diese Diskrepanz - in einem Arendt’schen Sinn - verstehen müssen, wenn die genannte Sache dieser Tagung ein setting bekommen soll, das ihr günstig ist.
Vieles spricht dafür, daß diese Diskrepanz in den letzten Jahren erst richtig wahrnehmbar geworden ist. Nicht nur Margaret Canovan spricht - jetzt in ihrem zweiten Arendt-Buch - davon, daß geschichtliche und theoretische Ereignisse der letzten zwei Jahrzehnte uns den Zugang zu einer Schlüsseldimension des Arendtschen Denkens erleichtert haben. Zu jener, in der die Unangemessenheit der theoretischen Zugriffe auf die totalitären Einbrüche unseres Jahrhunderts zu einer zentralen Erfahrung wird. Zu einer Erfahrung, die damit auch besagt: auf unsere Theoriegebäude ist beim Handeln kein Verlass.
Von dieser Erfahrung her bekommt die Arendtsche Wendung der epochalen Heideggerschen Dekonstruktion jener Begründungsontologien, die unsere historischen und soziologistischen Erklärungsweisen weiterhin ausrichten, ihre noch kaum voll erfaßbare politische Bedeutung. Es geht somit um die Diskrepanz zwischen den Ehrungen, in denen Hannah Arendt als die hervorragendste politische Denkerin des Jahrhunderts auf das Podest gehoben wird, und der praktisch völligen Ignorierung der zentralen Anliegen ihres Denkens in all jenen Diskursen, in denen die vorherrschenden Wirklichkeits- und Verständnisweisen unserer politischen Geschichtlichkeit fortgeschrieben werden. Es ist genau diese Diskrepanz, die unsere politischen Handlungsräume und Handlungshorizonte - auch inmitten vervielfachter Arendt-Bezüge - gegenüber der Arendtschen Denkungsart abdichtet. Sie befördert die Selbstverständlichkeit mit, mit der ihr Denken, verbunden wie kein anderes mit dem Abbau der Dichotomie von Politik und Philosophie, immer wieder und fast überall einfach der ‚politischen Philosophie‘ zugeschlagen wird. Aber wohin sollte man auch das Arendtsche Denken einordnen, solange es für ausgemacht gilt, daß für unsere, politisch handlungsrelevante ‚gesellschaftliche Realität‘, letztlich, wenn schon nicht die ’struktur-erklärenden‘ Diskurse der ‚Politischen Ökonomie‘, so doch das interessenfunktionale Wissen der ‚Politischen Soziologie‘ oder das der Mainstream-Politikwissenschaft zuständig sind? Und wenn, komplementär dazu, die Politische Philosphie dann zuständig bleibt für das Wolkige der politischen Sonntagsreden und für machtferne ‚autonome‘ - und emanzipierte - Öffentlichkeiten innerhalb und außerhalb der ‚Global Academy‘?
Wenn nun diese seltsame Diskrepanz dasjenige an der Sache dieser Tagung ist, was einer üblichen Behandlungsart besonders widerstrebt, wie sollen wir dann sie, diese Diskrepanz verstehen? Was ‚Verstehen‘ in der Arendtschen Denkungsart heißt, geht über das hermeneutische Interpretationsverstehen hinaus. Es geht darüber hinaus zum einen, durch das, auf was sich dieses Arendtsche Verstehen vorzüglich bezieht. Hierzu ist die Formel hilfreich, in die Ernesto Laclau den Sinn von: ‚die gesellschaftliche Wirklichkeit verstehen‘ einbettet. Sie lautet:
„To understand social reality, then, is not to understand what society is, but what prevents it from being.“
Übersetzt: Gesellschaftliche Wirklichkeit zu verstehen, heißt nicht, zu verstehen, was Gesellschaft ist, sondern was sie daran hindert zu sein. (d.h.: was sie daran hindert, als ein positiv Seiendes, als eine Entität - sei es nun eine Willensentität, oder eine Struktur- oder Systementität - zu sein.) In diese Formulierung spielt aber auch noch eine Bedeutung von ‚Verstehen‘, von ‚politischem Verstehen‘ hinein, gerade wenn sie sich auf eine Art Negativität des Politischen selbst bezieht, wie hier. Es ist die damit verknüpfte Bedeutung von ‚konfrontieren‘, oder genauer: ‚konfrontieren können‘. Eine relativ frühe Formulierung von Hannah Arendt, im englischen Vorwort zur ersten Ausgabe der ‚Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft‘ hilft uns dabei, sie zu entdecken. Sie heißt:
„Comprehension means the unpremeditated, attentive facing up and
resisting of reality - whatever it may be.“
Für aufmerksame Ohren hat dieses ‚comprehension‘, das später zu ‚understanding‘ wird, klare Anklänge zum ermöglichenden und konfrontativen Daseinsverstehen des frühen Heidegger. Wir könnten den Satz also, zusammen mit seinem Bedeutungshof, vielleicht so übersetzen: ‚Geschichtlich-politisches (oder geschichtlich-existentielles) Verstehen-können heißt, die Wirklichkeit in einer nicht vorkalkulierten und vorkalkulierbaren Weise konfrontieren und ihr widerstehen zu können.‘
Arendts ‚Realität‘, als das Hereinbrechende und das uns dramatisch Fordernde unserer geschichtlichen ‚human condition‘, fällt hier fast mit dem zusammen, was bei Ernesto Lacalau der nicht-positivierbare ‚Unmöglichkeitspunkt‘ des ‚Sozialen‘ ist. D.h. mit dem Politischen, das der Schließung des positiven Differenzsystems der ’sozialen Wirklichkeit‘ - und seiner Einschließung in dasselbe - widersteht.
Wie weit das Arendtsche Verstehen über das theoretische, oder über ein Verstehen innerhalb der vita contemplativa hinausgeht, zeigt uns eine andere, kurz aufblitzende Stelle. In einem Essay aus dem Jahre ’62 sagt Hannah Arendt plötzlich und wie unwillkürlich zwischen den Zeilen:
‚verstehen heißt immer verstehen, was auf dem Spiel steht‘
Was steht nun, liebe Gäste und Freunde, bei dieser Diskrepanz auf dem Spiel? - Ich glaube, wir haben alle schon bei einer ersten Beleuchtung dieser Diskrepanz bemerkt: was auf dem Spiel stehen könnte ist, ob wir der Logik dieser Diskrepanz folgen, oder ob wir sie unterbrechen können. Oder, krasser gesagt: ob wir die Arendtsche Denkungsart, mit dem selben Zug, mit dem wir sie hervorheben, mit dem wir ihre Bedeutsamkeit unterstreichen, zugleich uns weiter vom Leibe halten, oder ob wir sie, genau da, an uns heranlassen können. Aber, liebe Freundinnen und Tagungsgäste, vielleicht ist dies doch zu krass, zu eindeutig gesagt. Vieles spricht dafür, daß in dieser Diskrepanz mehr steckt, als eine bloß zweiwertige Abwehrlogik der Anerkennung/Nichtanerkennung oder eine ihrer Verkleidungen. Vieles spricht dafür, daß in dieser Diskrepanz auch andere Zeitverhältnisse unserer politischen Geschichtlichkeit arbeiten. Das hieße dann: sie ist nicht nur eine Abwehrkonstellation, sondern auch eine, in der wir ein Verhältnis zu dem Nicht-Eingelösten oder Verfehlten in unserem politisch-geschichtlichen Handeln aufbewahren konnten und können. Es ist so, als ob wir, in dieser zweiten Konstellation der Diskrepanz, mit unseren Arendt-Bezügen, einen Raum aufrechterhielten, für den es in unserem theoretisch- funktionalen Konzeptrahmen eigentlich keinen Platz mehr gibt.
Ich muß Ihnen gestehen, liebe Freunde und Tagungsgäste, daß ich auf diese hochbesetzte und sensible Beziehungsdimension vieler Menschen aus unserem weiteren Umkreis, zur Gestalt und zum Denkraum Hannah Arendts erst in diesen letzten Wochen richtig aufmerksam geworden bin. Aufmerksam durch die Antworten auf unsere Arendt-Initiative und durch das, was aus ihnen herauszuhören war. Erst allmählich wurde mir deutlich, wie in einem sehr viel größeren Kreis von Menschen, als ich es geahnt hätte, und der gewiß über den Kreis von Menschen hinausgeht, die sich sozusagen berufsmäßig mit Hannah Arendt beschäftigen, die Gestalt und das ’story telling‘ von Hannah Arendt eine besondere Bedeutung hat. Sie ist, unterschwellig, mit dem einzig uns übriggebliebenen Freiheits- und Transzendenzbezug verbunden, mit einem Versprechen, das gleichzeitig auch etwas Behutsames und Behütendes an sich hat. Eine kluge Freundin aus den bewegten Tagen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung fragte mich unlängst am Telefon:
„Weißt Du was das größte Problem an Eurer Arendt-Initiative ist?“
- Und als ich dem sokratischen Spiel gemäß mit nein geantwortet habe, sagte sie:
„Euer größtes Problem ist, daß ihr zwanzig Jahre zu spät kommt.“
Ich glaube, wir können alle aus diesem einen Satz einer deutschen Frau der 68-er Generation das Entscheidende in Bezug auf die Geschichte der politischen Nation der Deutschen der letzten 20 Jahre heraushören. Mir, liebe Gäste und Freunde, ging, wenn ich das erwähnen darf, nach diesem Satz, beim Zurückzählen, nicht nur die zwanzigjährige Geschichte dieser politischen Nation, deren Bürger ich nun bin, durch den Kopf. Beim Zurückzählen kam ich, beklommen, genau auf die Jahre, in denen mir nahestehende Frauen und Männer, in Santiago und Buenos Aires, grausam umgebracht worden sind, in der antagonistischen und allseits grausamen Entladung einer politisch-ideologischen Gegensatzwelt. Auch dort hat die damals gleichsam schon arbeitende Arendtsche Denkungsart nicht die geringste Chance gehabt, vernommen zu werden. Das, was aus der Antwort einer anderen Freundin, die heute gerne dabei gewesen wäre, herausklang, war von der eben referierten nur scheinbar verschieden. Antje Vollmer sagte uns:
„Leute, die Hannah Arendt ist doch das Wertvollste was wir haben.
Geht mit Ihr bitte vorsichtig um.“
In diesen und anderen ähnlichen Antworten, liebe Freundinnen und Gäste, erscheint uns eine andere Gestalt dessen, was ich eben als die zentrale Diskrepanz ansprach. Diese Gestalt hat mehr mit der Spannung eines Dilemmas zu tun, sowie mit einer Verschiebung - Derrida würde sagen: mit einer Differierung - dieser Spannung zwischen dem, was einerseits die Arendtsche Denkungsart aus unseren aufleuchtenden politischen Erfah-rungsmomenten als Einlösbares bestärkt, und den hegemonischen Realitätsprinzipien andererseits, die diese Momente nur als verlorene, verpasste und nicht transmittierbare wahrnehmen lassen.
Dies ist hier, liebe Freunde und Gäste, die erste Stelle in diesem Vortrag, von wo aus ich uns fragen möchte: Wäre es denn denkbar, daß wir heute, hier, mit der Nachträglichkeit dieser zwangzig-jährigen Verspätung und fünf Jahre nach den doch so vieles - auch rückwirkend - beleuchtenden Ereignissen des Novembers 89, ein Gespräch begännen, das vielleicht an der Zeit ist? Ein Gespräch über die Verwobenheit dieser Diskrepanz, dieses Dilemmas mit unseren politisch-geschichtlichen Erfahrungen auf der einen Seite, und mit den Problemen unserer Aufnahmebereitschaft für die Arendtsche Denkungsart auf der anderen. Das hieße dann auch: das Beginnenkönnen eines Gespräches, das dieses Dilemma nicht aufzulösen, sondern es von seinen Fixierungen abzulösen versucht. Oder auch: es in die Öffnungsweisen der Demokratischen Frage zu transferieren, zu übertragen. In welchem Sinne könnte man nun, liebe Freunde und Gäste, sagen, daß ein Beginn eines Arendtschen Gesprächs an der Zeit wäre? Wie sollen wir dabei die ‚Demokratische Frage‘ verstehen? Und was könnte die hier angesprochene Übertragung des Arendt-Dilemmas in dieser Frage leisten?
Bevor ich auf diese Fragen zu antworten versuche, lassen Sie mich noch auf einen berechtigten Zweifel gegenüber unserer Gewichtung der besprochenen Diskrepanz eingehen. Man könnte doch, mit einer gewissen Berechtigung, sagen: die hier charakterisierte Diskrepanz ist eine Übertreibung. Auch hier, auf dieser Tagung, sind doch im weiteren oder näheren Bereich bekannte Interpretinnen und Interpreten Hannah Arendts mit uns - und dies trifft auf Ágnes Heller ebenso zu wie auf Ernst Vollrath, auf Wolfgang Heuer ebenso wie auf Karol Sauerland -, bei denen doch dieses Dilemma nicht ausschlaggebend scheint und die doch, im Wesentlichen, in einer großen Arendt-Nähe denken. Lassen Sie mich aber die Vermutung äußern, daß wir es hier wohl weniger mit einer gänzlichen Abwesenheit des fraglichen Dilemmas zu tun haben, als mit seiner sich doch durchsetzenden Verschiebung. Das heißt: mit einer Verschiebung der Schwierigkeit, die Arendtsche Denkungsart in die Wahrnehmung unserer politischen Wirklichkeiten selbst hereinzulassen und diese letztere mit ihr zusammen zu artikulieren.
Eine Sache ist es nämlich, wesentliche Momente der Arendtschen Denkungsart in eher philosophie- und politikgeschichtlichen Diskursen mitzuartikulieren, und eine ganz andere Sache ist es, solche Momente in Diskursen wirksam werden zu lassen, die nicht nur einen ideologischen oder theoretischen, sondern auch einen öffentlichen, politischen Charakter haben. Bei den letzteren müßten diese Momente nicht nur einen allgemeinen hermeneutischen Bezug zu politischen Fragen bekommen. Sie müßten sich dort, wo der Bezug zu den Vernehmungsweisen des politischen Gemeinsinns entscheidend wird, auch gegenüber den vorherrschenden politischen Differenzmustern und Wirklichkeitswahrnehmungen real behaupten können. Dies müßte wesentlich mehr implizieren, als eine rein theoretische oder ideologiebezogene Intervention.
Deshalb haben es dann Arendt-bezogene Autoren wie Ágnes Heller und Ferenc Fehér, die auch - in einem amerikanischem Sinne - ‚öffentliche Intellektuelle‘ sind, in dieser Hinsicht schwerer. Es ist, wie wir es noch näher sehen werden, so, als ob ein auch öffentlicher, politiknaher Diskurs, wollte er ein solcher bleiben, nur ein bestimmtes Maß der Arendtschen Denkungsart zur Wirkung bringen könnte. Diese ist dann, hier wie dort, in ihrer Sache wie ‚verschoben‘, wie ‚differiert‘.
Ich glaube, der Text von Ferenc Fehér, ‚Pariah und Citizen‘, den Boris Blaha uns für diese Gelegenheit übersetzt hat, ist ein gutes Beispiel für das Gesagte. Ich möchte damit sagen: es ist ein lehrreiches Beispiel für ein bestimmtes Verhältnis von eingebrachten und ‚verschobenen‘ Momenten der Arendtschen Denkungsart in einem handlungsnahen Diskurs, in dem diese Denkungsart ausschlaggebend geworden ist. Mit ‚handlungsnah‘ meinen wir nicht die strategische oder normative ‚Politikberatung‘, die von ‚Wissensplätzen‘ ausgeht, die selber nicht auf dem Spiel stehen, sondern jene ‚attentiveness to reality‘, jenes wirklichkeitsgerichtetes Merken-können, das, wie einmal David Luban über Hannah Arendt sagte, „mehr das Zeichen eines politisch Handelnden, als das eines Gelehrten ist“.
Daß sie in diesem Fehér-Diskurs ausschlaggebend geworden ist, können wir an einem wesentlichen Punkt ablesen. Dort nämlich, wo Fehér die Arendtsche Differenzierung zwischen a-politischer Legitimierungsdemokratie und politisch gegründeter Republik auch noch dort produktiv macht, wo er diese Differenzierung auch schon kritisch behandelt. In den rein staatslegitimierenden, wie auch in den ‚anti-staatlich‘ und ‚basis-demokratisch‘ orientierten Weisen jener Demokratie, die sich als etwas auf den Mehrheitswillen oder ‚Volkswillen‘ Fundiertes vorstellt, ist das ‚Gesellschaftliche‘ immer schon ein geschlossener Verfügungs- und Innenraum. Die ‚polishafte‘ Natur des eigentlich Politischen wird dabei - auch wenn sie nicht gänzlich zum Verschwinden gebracht werden kann - immer schon übersprungen. Mit ‚Republik‘ hingegen werden bei Hannah Arendt zunächst geglückte Neuanfänge des unabschließbaren und pluralen Freiheitsraumes einer ‚politischen Gemeinschaft‘ bezeichnet.
Dort, wo diese Differenzierung produktiv wird, bricht die Selbstverständlichkeit der, das Politische verdrängenden Dichotomie: ‚Staat/Bürgerliche Gesellschaft‘ auf. Diese hegemonisiert, besonders das europäisch-kontinentale Denken auch noch dort, wo sie in scheinbar ganz anderen Gestalten auftritt. (Z.B.: in den genau so politikverdrängenden Gestalten der - eine positive Totalbeschreibung des Sozialen implizierenden - Dichotomie: ‚System/Lebenswelt‘.)
Der letzte Abschnitt dieses Fehér-Textes ist der über ‚Die Politik der Sterblichen‘. Fehér nimmt diesen Begriff von Reiner Schürmann auf (vom unlängst verstorbenen Denker der New-Yorker New School, der in Amerika vielfach rezipiert, in Deutschland eisern ignoriert wird), der ihn auf eine entscheidende Dimension des Heideggerschen Denkens bezieht. Die ‚Sterblichen‘ - bei Martin Heidegger immer im Plural, wie es Hannah Arendt bemerkt - sind dabei nicht in einem biologischen Sinne solche: schon für die Griechen sind nur Menschenwesen im wahren Sinne ’sterbliche‘ Wesen und können es nur sein, weil ihr konstitutiver Bezug zum Tod den zum ‚Unsterblichen‘ miteinschließt.
Dabei ist der sich am weitesten herauswagende Punkt dieses Abschnittes (und vielleicht auch der Extrempunkt einer gegenwärtigen Aufnahmemöglichkeit der Arendtschen Denkungsart in einem handlungsnahen Text) der, in dem der ‚Freiheitsraum des Politischen‘ mit seinen eigentümlichen, unterbrechenden Zeitlichkeiten, sich als ein zugleich grenz- und transzendenzbezogener ‚Spielraum‘ behaupten kann. Der spezifische Transzendenzbezug des Politischen - für Fehér am letztlich nicht instrumentalisierbaren Charakter des ‚freien, öffentlichen Handelns in der Republik‘ festmachbar - ist für ihn dann auch der für die Moderne verbleibende Transzendenzbezug. (Ágnes Heller nennt ihn: ‚transfunktionale politische Tätigkeit‘ und macht, letztlich, Demokratie von ihr abhängig.)
Da erst durch diesen das Politische nicht in das Selbstreferentielle von ‚Gesellschaft‘ einschließbar ist, spannt sich dann auch von hier aus ein Bogen zu jenem ‚Verstehen‘, das im obigen Laclau-Zitat („To understand social reality … “) artikuliert wird. In Wahrheit löst sich erst in diesem Verstehen die in der positiven, funktionalistischen Gesellschaftsfixierung weiterarbeitende, ‚umgekehrte Metaphysik‘, d.h., das unheimliche, weil Unsicherheit mitproduzierende Sicherungswissen, nicht der ‚Ideen‘, sondern der positiv-selbstreferentiellen ‚Basis‘ des Menschenuniversums.
Jedoch: Wie wohl in allen unseren modern-politischen und so ’noch‘ unter dem Anspruch von eher unter ‚männlichem‘ Autonomiegebot stehenden Diskursen, wird auch hier, in diesem Fehér-Text, etwas, für die Arendtsche Denkungart entscheidendes, verschoben, differiert. Es ist das, was sie, mit einem, in seinem politischen Sinn zunächst nur schwer faßbaren Wort, ‚Gebürtlichkeit‘, ’natality‘ nennt. Sie wird, öfters, in jenen Rezeptionsweisen Arendts, die weniger einen handlungsnahen, als einen eher philosophienahen Charakter haben, relativ problemlos, als ein konstitutives Element ihrer Denkungsart registriert.
Sie ist, in Arendts Worten, ‚die Gabe‘ unseres spezifischen und wundersamen ‚Auf-die- Welt-Kommens‘, das uns, anders als bloße ‚Gattungsexemplare‘, in die Lage versetzt ‚etwas Neues zu beginnen‘. Auf einen ersten Blick scheint diese ‚Gebürtlichkeit‘, diese ‚Natalität‘ auch bei Hannah Arendt selber ihren Platz bloß in einem philosophischen Diskurs zu haben. „Philosophisch gesprochen“ - lesen wir in ‚Macht und Gewalt‘- „ist das Handeln die Antwort des Menschen auf das Geborenwerden (meine Hervorhebung, Z.Sz.); … ohne die Tatsache der Geburt wüßten wir nicht einmal, was das ist: etwas Neues; alle ‚Aktion‘ wäre entweder bloßes Sichverhalten oder Bewahren.“
Hören wir nun genauer auf die Arendtsche Artikulierung der ‚Gebürtlichkeit‘ hin, so merken wir: es handelt sich hier nicht um eine anthropologische und schon gar nicht um eine biologische Kategorie. In ihr arbeitet ein Ernstnehmen der früh-Heideggerschen ‚Geworfenheit‘, aber auch eine Differenz zu derselben. Sie ist, in der Arendtschen Denkungsart, vor allen Dingen politikkonstitutiv: ihre Artikulierung insistiert auf die zugleich ‚gebende‘ und ereignishafte Dimension jenes Mangels, der Menschenwesen und ihre geschichtlichen Wir-Weisen nicht mit den ‚Exemplaren einer Gattung‘ und mit den ’soziologischen Gruppen‘ solcher Gattungsexemplare vertauschbar macht. Sie insistiert mit ihr aber auch auf eine untergründige - weil trotz des großen ‚Traditionsbruchs‘ wirksame - Weitergabematrix der politisch republikanischen Freiheitsdimension des auch christlichen Westens und auf ihre, sowohl ‚Wesensfixierung‘, wie auch ‚Schuld‘ unterbrechen-könnende Wirklichkeitsart.
Was ‚verschiebt‘ nun die Artikulierbarkeit der ‚Natalität‘ in unseren politiknahen Diskursen und Diskursplätzen? Was hat diese Verschiebung mit den Phantasmen der Selbstgeburt zu tun, die in den ‚politischen Wir-s‘ der modern-okzidentellen Geschichte mächtig wurden? (In ‚materialistischen‘ und ‚konstruktivistischen‘ Varianten). Was hat sie schließlich mit der Schwierigkeit der Bürgerrechtler der vormaligen DDR zu tun, die Erfahrung einer ‚antwortenden Handlung‘ (im obigen Sinne Arendts) politisch verständlich zu machen, die Wolfgang Ullmann - den die Geschichte der letzten Jahre vom politischen Dissidenzplatz der DDR ins Europäische Parlament getragen hat - mit dem Satz charakterisierte : „Wir haben eine öffentliche Sprache gefunden“?
Könnte es denn sein, daß die scheinbare Unmöglichkeit, diese ‚öffentliche Sprache‘ nach 1989 fortzuführen, damit zu tun hat, daß der, gerade nicht voll gesellschaftsimmanente politische Ort, wo sie sprechbar wurde, weder auf den politikwissenschaftlichen, noch auf den instrumentell- pragmatischen Politiklandkarten verzeichnet ist?
Lassen sie mich versuchen, liebe Freundinnen und Gäste, diese Frage vom anderen Faden dieses Vortrags her zu beleuchten. Kehren wir also zum Punkt zurück, wo ich uns hier fragte, ob es nicht an der Zeit wäre, ein Arendtsches Gespräch über die ‚Demokratische Frage‘, über ihre Öffnungs- und Schließungsweisen aufzunehmen. Was verstehen wir nun unter der ‚Demokratischen Frage‘? In welche Dimensionen des Politischen, in welche Spielräume unserer politischen und geschichtlichen Identität fragt sie hinein? Es ist vielfach - wenn auch in Deutschland nicht hinlänglich - bekannt, daß die ‚Demokratische Frage‘ (La question de la démocratie, The Question of Democracy) ein - oft benutzter - Sammeltitel für das Hauptthema der Schriften von Claude Lefort ist. Das heißt: der Schriften, die - wie kaum ein anderes Theoriewerk der letzten 20 Jahre - einen Einschnitt in das politische Denken des Jahrhunderts markieren.
Es sind vor allem drei Momente, die, in ihrem Zusammenspiel, diesen Einschnitt zustandebringen.
Das erste dieser Momente, liebe Freundinnen und Gäste, ist die Schlüsselerfahrung des Totalitären. Sie ist zunächst die Erfahrung der Ohnmacht - der Intellektuellen- und Handlungsohnmacht - der rationalistischen und liberalen Weisen sich ihm entgegenzusetzen. Sie ist aber auch die Erfahrung die so etwas wie eine Kontrastfolie zur ‚geschichtlich-politischen Natur‘ des Demokratischen abgibt. Durch sie erst können wir ermessen und verstehen, was mit dem Demokratischen, als der instituierenden politischen Antwort des modern-okzidentalen, auf dem Spiel steht.
Das zweite Moment ist das einer erfahrungsbezogenen Wiederverflüssigung der ‚politischen Selbstverständlichkeiten‘ der letzten zwei Jahrhunderte: d.h.: des - das Dritte immer ausschließenden - dualistischen Zwangsrahmens unserer funktionalistischen und historistischen Sozialkategorien. Will also sagen: die Wiederverflüssigung jener Sedimente der positivistischen Imagination - auch innerhalb der ‚antipositivistischen‘ Theorie- und Wahrnehmungsweisen - die ein jedes Begegnenkönnen mit dem Okzidental-Politischen (d.h. mit der republikanisch übertragenen demokratischen Instituierung und mit den Einheits- und Zeitlichkeitsweisen desselben) unmöglich machen.
Das dritte Moment ist schließlich jene Dimension der ‚Demokratischen Frage‘, die, vielleicht, entscheidende Figuren unserer politisch-geschichtlichen Wir-Weisen fähig machen könnte, sich - endlich - mit der unauflösbaren Widersprüchlichkeit der modernen Gesellschafts- und Naturbezüge zu konfrontieren. D.h.: sich zu konfrontieren diesseits der illusionär-‚problemlösenden‘, instrumentell- oder moralrationalen Antworten und jenseits der ‚falschen Versprechen‘ der Ideologie der Moderne.
Was das erste Moment betrifft: Der theoretische Einschnitt der bei Lefort von der Erfahrung des Totalitären herkommt, ist nur mit dem Hannah Arendts vergleichbar. In dieser Erfahrung spielt sich eine Art Heimsuchung der politischen Identität der Moderne ab. Wir könnten sie auch als die Erfahrung einer unheimlichen Doppeltheit in der Erscheinung des Modern-Demokratischen kennzeichnen. Es geht um die unheimliche Doppeltheit, die wir einerseits mit dem Antagonismus zwischen dem Demokratischen und dem Totalitären erfahren, und andererseits in den manifest gewordenen Umschlagspotentialen des Demokratischen, seiner Versuchung, gerade durch den Realisierungswillen der souveränen Volkseinheit und deren Anspruch die ‚Geschichte in die eigene Hand zu nehmen‘, ins Totalitäre umzuschlagen.
Beide Seiten dieser Doppeltheit wurden und werden immer wieder verdeckt und unkenntlich gemacht.
Der Antagonismus des Demokratischen und des Totalitären wurde, vor allem in den ‚progressiven‘ und ‚konservativen‘ politischen Öffentlichkeiten dieses Jahrhunderts immer wieder vom vordergründig-plakativen Antikommunismus und Antifaschismus der nationalsozialistischen und bolschewistischen Totalitarismusgestalten verdeckt. Unkenntlich gemacht wurde dabei, daß beide Gestalten - mit der gleichen hintergründigen Präzision - die demokratische Instituierungsweise innerhalb der okzidentell-modernen politischen Gesellschaftlichkeit im Visier gehabt haben. Im Fadenkreuz beider lag die demokratische - oder auch revolutionäre - Instituierungsweise unserer Wir-Formen, unserer politischen Einheitsformen. D.h.: die Instituierungsweise, die im republikanischen Übertragsmedium des jüdisch-christlichen ‚covenant‘-Volkes und des polis-haften Freiheitsraumes der ‚political nation‘ möglich und erhandelbar wurde. Unerträglich war dabei, für beide totalitäre Gestalten, nicht nur die Art und Weise wie diese Institutionsweise immer wieder existentielle Entortungen der Einzelnen scheinbar zuließ, sondern auch und vor allem die Art und Weise wie sie ihre eigenen Grundlagen, d.h., die Wir-Weisen die uns ‚halten‘ sollen, einer irreduziblen Pluralität und einem politischen Antagonismus aussetzte.
Desgleichen wurde die geschichtliche - und gleichsam ’nach-metaphysische‘ - Dimension dieses Antagonismus in der politischen Öffentlichkeit der zweiten Nachkriegszeit nur allzu oft zu einem ideologischen Gegensatz oder zu einem der Legitimitätsdifferenzen der positiven Institutionen verflacht.
Der fragliche Antagonismus wurde und wird aber auch im Gesellschafts- und Geschichtsverständnis unserer vorherrschenden Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften unkenntlich gemacht. Unkenntlich deshalb, weil er innerhalb dieser Wirklichkeitsverständnisse, nur als ein sekundärer Antagonismus erscheinen kann.
Wir alle kennen, liebe Freundinnen und Tagungsgäste, jenes, in die alltägliche Gegenwartswahrnehmung hereinherrschende Verständnis der globalisierten ‚Menschheitslage‘, auf dessen Hintergrund der fragliche Antagonismus des 20. Jahrhunderts, der sich in noch kaum ausmachbaren Weisen in jenes überträgt, das auf uns zukommt, als ein relativ sekundärer erscheinen muß.
Wie soll auch dieser Antagonismus nicht sekundär sein dort, wo es uns - wenn auch fern von unserern wirklichen politischen Handlungserfahrungen - fast gänzlich selbst-verständlich geworden ist, daß die wirklich entscheidenden Probleme die eines uns alle involvierenden Geschichtsprozesses sind, eines objektiven wie voluntaristischen Geschichtsprozesses also, dessen selbstreferentielles Subjet - die ‚Menschheit‘ als rein positive ‚Weltgesellschaft‘ in einer ausschließlich linearen Zeitlichkeit - ausgemacht ist?
Was wird auch nicht alles sekundär, liebe Freundinnen und Gäste, wenn man zu wissen meint, daß die ‚Überlebensprobleme der Menschheit‘ die einzig wirklichen oder zumindest die klar prioritären politischen Fragen sind? Und wenn man ebenso zu wissen meint, daß hinter den Schrecken der planetarischen Gewalt- und Ausschlußphänomene - deren Probleme ‚die Politik‘, instrumentell oder moralisch, natürlich zu lösen hätte - sich nichts anderes verbirgt, als die noch nicht voll säkularisierten und nicht stabil genug zivilisierten Schichten der Menschenwesen - ihre barbarischen oder regredierenden Anteile also? (Wenn sie schon nicht vom ‚politisch Bösen‘ herkommend wahrgenommen werden, vom ‚faschistischem Wesen‘, von der ‚Machtgier der Eliten‘, oder aus jenem ‚eurozentristischen Wachstumswahn‘, der bloß auf eine ’nachhaltige Entwicklung‘ umzuschalten wäre, wie es uns die verdummend-moralistischen Mahn- und Schuldgeschichten des globalen Fernsehens tagtäglich zumuten.)
Ist es nicht klar, liebe Freundinnen und Gäste, daß innerhalb derartiger, eine ausschließliche und endgültige Wirklichkeit beanspruchenden Problem- und Problemlösungsvorstellungen, das Demokratische - und somit auch ihr Antagonismus zum Totalitären - auch und gerade in Bezug auf das Ökologische nur eine sekundäre Bedeutsamkeit reklamieren kann? Von ihnen her - objektiv - gesehen, hat unsere rational-funktionale - uns so gleichsam natürliche - Wir-Identität, und der ‚Geschichtsprozess‘ auf dem sie aufsitzt, d.h. die zwei Instanzen durch die wir das Ökologische konfrontieren sollten, mit der republikanisch übertragenen demokratischen Instituierung unserer okzidentell-politischen Wir-Formen und mit ihren Zeitigungsweisen nichts zu tun. Es ist letztlich eine Frage der Mittel- und Werteabwägung, ob ‚wir‘ (was dies auch immer ‚objektiv‘ heißen soll) die sogenannte ökologische Überlebensfrage ‚demokratisch‘ angehen wollen oder auch nicht. Anders gesagt: das Demokratische kann, in diesem wissen-schaftlich gestützten a-politischen Wirklichkeitshorizont, nur eine moralisch mehr oder weniger legitimierende und letztlich bloß prozedurale Instanz sein. Für die realistische Imagination kann es das Demokratische als die spannungsgeladene modern- und metamoderne, primär-symbolische und sich dem Anderen aussetzende Seinsweise unserer geschichtlichen Wir-Form gar nicht ‚geben‘. Oder wenn, dann nur als ein Gespenst innerhalb der sich selber bestätigenden ‚entzauberten Welt‘ Max Webers.
Wie aber, liebe Freundinnen und Gäste der Tagung, wenn es so wäre, daß wir auf das, was auf uns am Ende dieses Jahrhunderts fragend und bedrängend zukommt - und somit auch auf das, was uns als das Ökologische erschienen ist - nur aus einer Wir-Weise heraus antworten könnten - frei antworten, nicht zwanghaft reagieren - in der dieses Gespenst - das Gespenst jener Freiheit die Hannah Arendt immer gemeint hat - samt seiner Wirklichkeitsart nicht verleugnet wird?
Wie, wenn diese Arendt-Tagung - und unser Hannah-Arendt-Preis selber - gar nicht hätte zustande kommen können, wäre diese Frage, wäre diese wahrnehmungsvolle Vermutung nicht an dem Punkt, sich einen politisch-geschichtlichen Öffentlichkeits- und Resonanzraum zu geben? Und wie wenn dieser Punkt, diese nicht topologisch oder chronologisch verortbare Schwelle, weniger an intellektuellen Lern- und Entwicklungsprozessen läge, als an den manifesten wie auch unterschwelligen politisch-geschichtlichen Ereignissen dieser letzten zwanzig Jahre, die, in einer völlig unerwarteten Weise, die geschichtlichen Horizonte unserer Welt, ebenso wie ihre Besetztheit und Durchlässigkeit, auch für die transformiert haben, die es noch nicht wahrhaben wollen?
Sie sehen, liebe Freundinnen und Gäste dieser Hannah-Arendt-Tagung, wie von diesem Punkt des Vortrages sich einiges beleuchtet. Sich beleuchtet, sowohl nach vorne hin, zu der Bedeutung die der Schluß dieses Vortrages annehmen könnte, wie auch nach hinten, zum Sinn des Titels dieses Vortrages hin und zum Sinn des Vorschlages, ein Arendtsches Gespräch über die Demokratische Frage aufzunehmen.
Hier ging es ja nicht darum, eine rein buchstäbliche, intersubjektive Kommunikation über Arendtsche Themen aufzunehmen, sondern um die Erweiterung jener auch politischen Wir-Weisen, in denen die antwortende, zeitkonfrontierende Dimension der Arendtschen Denkungsart- und somit ihre geschichtliche Bedeutung - vernehmbar wird.
Sie haben es wahrscheinlich auch gemerkt, liebe Freundinnen und Tagungsgäste, daß wir schon bei der Erörterung des ersten Moments des Lefort’schen Einschnitts, d.h. bei seiner für die ‚Form‘ der Theorie und für die Identitätsweise unseres politischen Wir’s gleichermaßen relevanten Erfahrung des Totalitären, die ‚Demokratische Frage‘ nicht mehr nur als einen Lefortschen Titel und eine Lefort’sche Thematik behandeln konnten oder wollten. In der Tat: in den letzten zwanzig Jahren ist, relativ plötzlich, und unzweifelhaft mit den seismischen Erschütterungen der ‚Erde‘ verbunden, die zum ‚Himmel‘ unserer Zeit- und Sinnhorizonte und seiner radikalen Wandlungen gehört, eine ganze Konstellation von einschneidenden, neuen Annäherungen an das Politische entstanden.
Für die sie bildendenden Theorien, Diskurse, Frage- und Verständnisweisen - die alle, in einem Arendtschen Sinne, auch handlungsnah sind, ohne direkt-pragmatisch zu sein - ist gerade ‚Die Konstellation der Demokratischen Frage‘ ein adäquater und guter Name. In ihnen haben sich Erfahrungsweisen des Politischen angebahnt, für die die Verbannung jenes Gespenstes der Freiheit von der oben die Rede war, nicht mehr die selbst-verständliche Vorbedingung ist, um politisch ‚gut genug‘ denken, verstehen und handeln zu können. In ihnen gelingt es das erste mal - sei es nun ‚in‘ der Moderne oder an ihrer Übertragungsschwelle - die entpolitisierende Dimension der bürgerlichen Welt und ihrer Geschichte, ihr falsches Versprechen, das Politische in einem antagonismus- und gebürtlichkeitsfreien, rein interessen- und wertrationalen gesellschaftlichen Innenraum zurückzuholen, in einer Weise zu konfrontieren, die nicht mehr das Reaktive und das unterschwellig Subalterne an sich hat, die die Formen dieser Konfrontation mehr als zwei Jahrhunderte lang bestimmt hat. Das heißt: jene Formen des fast immer Anti-Liberalen, des oft Anti- Rationalen und, in der entscheidenden Hinsicht, auch Anti-Demokratischen, von denen sich auch solche herausragenden Zugänge zum Politischen wie die eines Sorel oder eines Carl Schmitt kaum richtig freimachen konnten.
Diese Zugangsweisen zum, diese Verstehensweise des Politischen (und beim ‚Verstehen‘ sollten wir, mit Hannah Arendt, an das denken, was das ‚facing‘, die Konfrontation mit dem was ist und mit dem was auf uns - aus Zukunft und Vergangenheit - zukommt, möglich macht) konnten nicht nur durch die offenen Risse zustandekommen, die die vielerorts fast ‚realisierte‘ Psycho- und Sozialontologie der Moderne geschichtlich bekommen hat. (Das heißt, jene dichotomische Doppelontologie, die geheißen ist, alles
auf ein rein subjektives, schwellenloses Innen, oder auf ein rein objektives - und so voll äußeres Außen - zu reduzieren und so die Form der Metaphysik auch im ‚Anti-Metaphysischen‘ weiterträgt.)
Diese Risse waren ja im Grunde nie ganz schließbar. Und mehr noch: wie wir es, vermutlich, erst heute adäquater wahrnehmen können, hat sich die demokratische Revolution, die geschichtliche Instituierung unseres symbolisch-antagonistischen ‚politischen Körpers‘ gerade durch die Risse hindurch instituiert. Nur durch diese Risse - durch dieses ‚gap‘, durch diese Lücke -, und nicht auf der Basis und in der Logik unserer allgemein vorherrschenden Sozio- und Psychoontologie, konnte die übergangsraum-eingebettete und eben darum ‚durchlässige‘ Form erhandelt werden, die die Form der Einheit all dessen ist, das wir ‚okzidentell-moderne Gesellschaft‘ nennen. Die ‚Universalität‘ derselben ist nicht eine festgestellte oder geforderte, sondern eine - in der politische Sprache sprechend - ansprechende.
Es ist vielleicht aufschlußreich, an diesem Punkt auf eine kaum wahrgenommene theoretische Schlüsselstelle in Arendts ‚Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft‘ hinzuweisen. In ihr ist auch von einem ‚gap‘, von einer ‚Kluft‘ die Rede. Es geht um die „Kluft“, so lesen wir auf Seite 49 des Buches, „zwischen Staat und Gesellschaft“. Das heißt: zwischen jenen zwei dichotomisiert- komplementären Gestalten des Sozialen, die für den ‚tabula-rasa‘-Gründungsmythos der bürgerlichen Moderne die alleinigen Wirklichkeitsweisen sind. (Komplementäre Gestalten, wie Hannah Arendt es bemerkte, auch in dem Sinne der ‚guten‘ (weil machtfrei-selbstorganisierten) Gesellschaft und des ‚bösen‘ (weil machtverdichteten) Staates: ein Mythos, der, wie wir wissen, eine lange ideologische wie sozialwissenschaftliche Fortsetzung hat.)
Es ist nun, seltsamerweise, ‚auf‘ dieser Kluft, daß Hannah Arendt jenes etwas, jenen metaphorisierten (und nie voll ‚intersubjektiv‘-buchstäblichen) Öffentlichkeitsraum aufruhen sieht, den sie den ‚politischen Körper der Nation‘ nennt. Sie spricht von diesem ‚politischen Körper‘, hier in diesem Kontext, als von etwas, das in Europa (in Europa wohlgemerkt, und nicht in Amerika) genau in den Umbrüchen hin zur totalitären Implosion praktisch ‚untergegangen‘ ist. Sie fügt aber etwas hinzu, das, für die heute hochkonjunkturellen soziologischen Bemühungen um das Problem der ‚Integration‘ und ‚Migranten‘, bemerkenswert sein müßte: „Ohne diese Kluft“, lesen wir -und das heißt auch: ohne das auf sie entgründet-Gegründete -, „hätte keine Notwendigkeit, ja nicht einmal eine Möglichkeit bestanden, die Juden in die europäische Geschichte“ -Geschichte wohlgemerkt, nicht Gesellschaft und nicht Staat - „voll einzugliedern“.
Wir können auf die vielfältigen Ankläge dieser Schlüsselstelle, liebe Freundinnen und Tagungsgäste, nicht weiter eingehen. Das in ihr weiterhin Bedenkenswerte möchte ich uns aber noch wenigstens in Form von zwei Fragen mit auf den Weg geben:
- Hieße das hier von Arendt gesagte, daß es ‚Geschichte‘, nicht als Fortschritts- oder Verfallsgeschichte, sondern als die Zeitigungsart unseres auf der ‚Kluft‘ gegründeten Freiheits- und Übertragungsraumes, nur dort geben kann, wo dieses ‚Zwischen‘, als das eigentlich und spezifisch Geschichtsöffnende, nicht gänzlich verschüttet ist? War und ist damit der Totalitarismus, noch hinter all seinen konkreten Schrecken, vor allem das, was das geschichtliche Sein unserer Wir’s, und damit unsere Demokratiefähigkeit, selber bedroht hat und weiter bedroht?
- Hat dies etwas damit zu tun, was Ágnes Heller und Ferenc Fehér als ‚Biopolitik‘ und als das ‚Verschwinden der okzidentalen Spannung zwischen Freiheit und Leben‘ benannt haben? D.h. mit jenem a-politisch-scheinpolitischen Raum, in dem sich Wir-Identitäten nur noch als geschlossene Präsenz-Identitäten bilden können, die von den rassistischen und ethnischen Identitäten bis hin zu den Sonderidentitäten von ‚Frauen‘, ‚Männern‘ oder ‚Kulturen‘ gehen können? Und damit, daß sich ihnen gegenüber dieselbe liberal-rationale Ohnmacht wiederholt, die sich, in der Mitte des 20. Jahrhunderts, schon einmal gezeigt hat?
Lassen sie mich, liebe Freundinnen und Gäste, bevor wir noch einmal zur Demokratischen Frage im Lefort’schen und im erweiterten Sinne zurückkommen, noch eine Zwischenbemerkung machen.
Vielen mag zunächst die Rede über das ‚Dritte‘, über die ‚Kluft zwischen Staat und Gesellschaft‘, über das ‚Gespenst der Freiheit‘ als eine philosophische Spekulation vorkommen, die mit ‚konkreten politischen Fragen‘ nichts zu tun hat. Es genügt aber unsere tagtägliche politische Erfahrung wirklich ernst zu nehmen, um uns darüber anders belehren zu lassen. Dabei wird offenbar, was uns alles ‚im Kopf‘ daran hindert, sie - handlungsnah im Arendtschen Sinn - ernstzunehmen.
Sehen wir uns doch einmal in aller Kürze an, was ein Verstehen des Politischen, im Arendtschen Sinne, am Beispiel der bosnischen Katastrophe eröffnen kann. An der Katastrophe also, die auch eine der aufrechten Wir’s der okzidentellen ‚political nations‘ und ihrer Zusammenhalte ist. Wir erfahren, liebe Freundinnen und Tagungsgäste, mit einer ziemlichen Präzision, wie die realistisch- moralistischen Identitätszwänge gegenüber dem politisch-geschichtlichen Handeln blockierend ‚arbeiten‘, so daß unser verstehen-könnendes, sich aussetzend-konfrontierenkönnendes Wir gar nicht zum Zuge kommen kann. Wenn wir hier über das ‚Wir‘ sprechen, so ist dabei weder von etwas Substantiellem oder Kollektivem, noch über eine Art von Selbstbewußtsein die Rede. Das Wir, von dem aus wir auch sprechen können, ist auch kein Kollektiv-Ego. Es ist, von sich aus, und immer von einem genauen, aber sich der Festlegung entziehenden Ort her, an das Andere gerichtet und gewendet, an das Andere, das es - im doppelten Sinne - angeht.
Die auschließenden Dichotomien, eher der bürgerlichen als der demokratischen Moderne - die scheinbar immer zwanghafter, aber so auch sichtbarer werden -, lassen jedoch im Grunde dieses politische, handlungsnahe, zeitausgesetzte und sich konfrontativ-aussetzende Wir gar nicht zu. Wie es an den Bosnien-Diskussionen deutlich wurde: Für den dualistischen Wir-Realismus können ‚Wir‘ entweder nur Wir-s von Nationalstaaten und ihrer Bündnisse sein, mit den harten, eindeutigen und undurchlässigen Grenzen derselben, über die nur das instrumentell-strategische Handeln im handfesten nationalstaatlichen Interesse hinausreicht, oder das ‚Wir‘ der moralisch-universellen ‚Gesellschaft‘, die nur universal, planetarisch-polizeilich, im Namen zeitloser Prinzipien handeln können soll. (Und in dem übrigens die in das politische Handeln hineinspielende Macht- und Gewaltdimension als ‚Applikation des Gesetzes‘ - und so als etwas im Grunde ‚Gewaltfreies‘ - kaschiert ist.)
Beide dieser Wir-s haben jenen Vorteil der Eindeutigkei und Sicherheit, mit dem ihre geschichtlichen Ursprünge verknüpft sind. Sie geben für das Handeln jeweils voll gesicherte, voll ‚rationale‘ Grundlagen ab; keines der beiden muß sich dem Anderen wirklich aussetzen.
Aber ‚terium datur‘, liebe Freundinnen und Tagungsgäste. Wir erfahren doch, wenn wir es wagen politisch-geschichtlich zu denken und zu verstehen, mit einem Wir, aus dem das Gespenst der Freiheit nicht verbannt ist und das sich auch gegenüber der geschichtlich-politischen Bedeutung des Sieges einer Agression aussetzt, daß etwas an den Unmöglichkeitsgeboten an das Handeln, die von den beiden rational anerkannten Wir-Realitäten ausgeht, nicht stimmt.
Wir haben übrigens, liebe Freundinnen und Tagungsgäste, bei diesem konkret-politischen Exempel, fast unbemerkt, etwas in den Blick bekommen, auf das wir nicht näher eingehen, sondern das wir nur kurz vermerken wollen. Es ist die Tatsache, daß die ‚Demokratische Frage‘, entgegen dem politischen Alltags- und Wissenschaftsverständis, keine Frage eines reinen ‚Innen‘, keine rein ‚innenpolitische Frage‘ sein kann. Das ‚Außen‘ derselben ist aber auch nicht das ‚reine‘ Aussen der klassisch- nationalstaatlichen ‚Außenpolitik‘.
Dies letztere mag wiederum als eine abstrakte Spekulation erscheinen, über etwas, das es gar nicht gibt. Dabei schärft uns diese Überlegung den Blick auf etwas Naheliegendes, was die rein ‚realpolitisch‘ geschulte Sehweise garantiert überspringt, auch wenn es ihr tagtäglich vor der Nase liegt. Fragen wir einmal: ist etwa das Verhältnis Außen/Innen für die amerikanische Demokratie dasselbe wie für die Demokratien Westeuropas? Gibt es vielleicht eine westeuropäische Demokratie wo das Parlament, auch gegen die Exekutive, über ‚außenpolitische Fragen‘ entscheidet. Seit mehr als hundert Jahren pflegt man auf solche Fragen, innerhalb des westeuropäischen politiwissenschaftlichen Paradigmas, mit der ‚amerikansichen Ausnahme‘ zu antworten. Könnte es aber nicht sein, daß es eher um die ‚westeuropäische Ausnahme‘ geht, um die einzige politisch-geschichtliche Region der Welt, in der die dichotomische Sozialontologie der bürgerlichen Moderne ‚fast‘ verwirklicht werden konnte, so daß sie den Anschein des ‚Natürlichen‘ bekam?
Unsere Geschichte würde ganz anders ausschauen, wäre für die amerikanische politische Nation - bei all den imperialen Überlagerungen der amerikanischen Staatswirklichkeit - auch in den zwei Weltkriegen das ‚Außen‘ die gleiche Art von ‚Außen‘ gewesen, wie für die westeuropäischen Nationalstaaten, in denen die mehrzeitliche political nation und das Gespenst der Freiheit besonders gründlich zum Schweigen gebracht werden konnte. Dabei dürfte es aber hinlänglich klar sein, daß die Art der amerikanischen Republik, trotz der sich überkreuzenden Diskurse über ’nationale Interessen‘ und ‚moralische Gebote‘, sich auf Momente zu beziehen, in denen der das Demokratische ermöglichende Freiheitsraum geschichtlich ins Spiel kommt, nichts mit einer normativ-moralischen Beziehung aus dem Nirgendwo zu tun hat; die Vereinigten Staaten sind keine ‚Gewissensorganisation‘.
Aber kehren wir noch einmal zu den Bedingungen der Demokratischen Frage zurück.
Wir haben oben gesagt, daß es nicht nur die geschichtlich-politisch zu Tage getretenen Risse in der Geschichts-, Psycho- und Sozioontologie der Moderne waren, die die Demokratische Frage hervortreten ließen. Es ist ja real sogar so, wie wir wissen, daß für die noch immer hegemonischen Denkweisen der Sozial- und Geschichtswissenschaften der totalitäre Einbruch im Grunde als eine Bestätigung ihrer Kategorien und nicht als etwas, das sie in Frage stellt, gelesen wurde. Für die Sozialontologie des mainstreams der Sozial- und Politikwissenschaften, die ja aus der Zeit vor diesem Einbruch stammt, ist mit diesem nichts ‚Ontologierelevantes‘, nicht Problembeleuchtendes vor sich gegangen.
Dies gilt übrigens auch für die Beleuchtung unserer Geschichte und unserer politischen Identitäten, die von den Ereignissen um 1989 und von Phänomen der polnischen Solidarnosc, die dies möglich gemacht haben, ausgeht. Deshalb lesen wir auch in der Vorbemerkung eines Büchleins von Jürgen Habermas zu diesen Ereignissen das schöne Exempel einer Freud’schen Verneinung! „Nein“, heißt es da, verneinungs- und verleugnungsbetonend, „die Ereignisse werfen kein neues Licht auf unsere alten Probleme.“
Gibt es nun, so müssen wir uns fragen, auch noch eine andere Ereignisart dieser Risse, eine auf einer anderen Ebene, die es mit-ermöglicht, die geschichtlich-politischen Ereignisse dieses Jahrhunderts in ihrer vollen Dimension wahrzunehmen? Könnte es sein, daß es die Ausblendung dieser Risse der Ontologie der vollen Begründbarkeit und des universellen Eindeutigmachenkönnens ist, die die wissenschaftliche und politische Wahrnehmung dieser Dimension blockiert? Es kommt ja nicht aus einer rein moralischen Insensibilität heraus, daß die Vertreter des Wissenschaftswissens ihre Abwehrreaktionen gegenüber diesen Ereignissen entwickeln.
Diese andere Art der Risse in der modernen Verzauberung der Welt, in der wohl mächtigsten, die es je gab, die sich als die endgültige Entzauberung der Welt ausgibt - und so wohl, implizit, genau jenes ‚Ende der Geschichte‘ verkündet, bei deren expliziten Herausstellung sie sich skandalisiert -, existiert in der Tat. Sie waren wohl auch schon im Ereignis des Marx’schen Denkens angelegt, wie Jacques Derrida uns kürzlich gezeigt hat. ‚Das Gespenst des Kommunismus‘ war, in vielen Hinsichten, eine Verwandlung des ‚Gespenstes der Freiheit‘, das trotz seiner Wiederverbannung in die Geschlossenheit der Geschichts- und Sozialontologie, eine Spur seiner Uneinschließbarkeit bewahrt hat.
Vollends zu Tage getreten sind aber diese Risse in jenen Denkdurchbrüchen, die sich an den entscheidenden ‚Schwachstellen‘ der fraglichen Ontologien ereignet haben: an den gewaltförmigsten (weil weltzerstörendsten) Reduktionsanstrengungen dieser Ontologien dem gegenüber, was den gebürtlichen und sterblichen, nie ganz immanenten und ganz transzendenten Menschenwesen und ihren geschichtlichen Wir-Weisen ‚Zeit‘ und ‚Sprache‘ ist.
(Vieles spricht dafür, daß das verbergend/entbergende Moment der Überlappung dieser zwei ‚Schwachstellen‘ noch eine dritte, eher verborgenere wahrnehmbar macht, an die, in ihren guten Momenten der Differenzfeminismus anklopft: Heidegger und Derrida weisen mit dem ‚es gibt‘ darauf hin, Arendt mit der ‚Gebürtlichkeit, Winnicott mit der ‚Mutter‘ der Menschenwesen, die - wahrscheinlich genauer als die Mathematik - jenes ‚Gut Genug‘ trifft, mit dem sie sowohl in die ‚Freiheit‘, wie in den ‚Halt‘ entläßt.)
Es ist oft gespenstisch zu sehen, wie, heute noch, in unseren hegemonisch sozialwissenschaftlichen, geschichtswissenschaftlichen Diskursen verzweifelt versucht wird, diese Risse und Durchbrüche ungeschehen zu machen. Es wird, mit einer sich steigernden Anstrengung, versucht, den absurden Glauben zu bewahren, daß das, was sich vor allem im Denken Saussure’s, Freuds, Heideggers und Winnicotts ereignet hat, eine Sache der Linguistik, der Psychologie, der Philosophie oder gar der Kinderpsychologie wäre, die unsere - ontologisch gesicherte - ‚wirkliche Wirklichkeit‘ unserer Welt, unserer Selbste und Wir-e gar nicht berühren würde. Genau jene ‚wirkliche Wirklichkeit‘, die, wie wir gesehen haben, das Politische und das ‚Gespenst der Freiheit‘ nie richtig zulassen konnte.
Es ist aber genau durch diese Risse der Sozio- und Psychoontologie, genau durch diese Denk- und Erfahrungsdurchbrüche, daß uns das Politische entgegenkommen kann. Nicht, was eine fast automatische Einübung verfehlend nahelegt, als eine ’neue Begründung‘ desselben, sondern als die Möglichkeit mit den Stärken und Schwächen des Rationalen anders umzugehen.
Maurice Merleau-Ponty, dessen Gestalt, zusammen mit der Hannah Arendts, hinter Claude Lefort steht, sagte in einer seiner letzten Vorlesungen über die, auch für ihn epochale Bedeutung des Heideggerschen Denkens, daß in ihm ‚die Anstrengung‘ arbeitet ‚unsere Fähigkeit sich zu irren in die Wahrheit‘ einzugliedern. Und auch die Anstrengung, ‚die Frage‘, die dem Sich-Entziehen des Seins in seiner Unerschöpflichkeit, d.h. auch seiner Abwesenheit, Unerfassbarkeit gerecht wird, in die ‚Evidenz des Seins‘ einzubeziehen.
Diejenigen, die die Anstrengung des Arendtschen Werkes kennen, die ‚klassische Art der Wahrheit, sei es im wissenschaftlichen oder moralischen Sinne vom Politischen fernzuhalten - da sie dieses und die Freiheit notwendig zerstören muß -, werden vielleicht ermessen können, was dies für das ‚Verstehen‘ des Politischen, das, wie wir gesehen haben, auch das Konfrontierenkönnen desselben impliziert, bedeuten kann.
Das ist, liebe Freundinnen und Tagungsgäste, keine Frage der ‚Philosophie‘. Wie es ebensowenig eine Frage der ‚Psychologie‘ ist, wenn, wie Samuel Weber es einmal genau formuliert hat, bei Freud es nicht darum geht, ein Wissen über das Unbewußte in das ‚bestehende‘ - erklärende und begründende - Wissenschaftswissen einzugliedern, sondern darum, ein anderes Verhältnis zwischen dem Wissen und dem Nicht-Wissen herzustellen, das nicht ‚theoretisch‘ ist, sondern auch die Möglichkeit eines anderen ‚arbeitenden Bezuges‘ auf das uns involvierende Verhältnis beider impliziert. Und ebensowenig dreht es sich bei D.W. Winnicott um ‚Kinderpsychologie‘, wenn es doch bei ihm genau darum geht, eine ‚arbeitende‘ Erfahrbarkeit jenes ‚Zwischen‘, jenes ‚Übergangsraumes‘ herauszuarbeiten, der, da er weder ’subjektiv‘ noch ‚objektiv‘ ist, weder in der Psycho-, noch in der Sozioonotologie der Moderne einen Platz hat. Keinen Platz hat, da er die Ermöglichung nicht nur unserer Welt und unseres Spielenkönnens ist, sondern auch, spezifischer noch, die Ermöglichung des Politischen, der Freiheit und des Handelnkönnens im Arendtschen Sinn.
Nirgendwo finden wir einen besseren Zugang zu der Arendtschen Gebürtlichkeit und zu ihrer Verknüpftheit mit dem im metaphorisierten Öffentlichkeitsraum ermöglichten Handelnkönnen - die auch bei sonst Arendt-geneigten Köpfen, wie dem Helmut Dubiels, nur Abwehrbegriffe provoziert - als in diesem ‚Ontologiedurchbruch‘ Winnicotts.
Wir können hier nicht mehr einzeln auf die anderen zwei Momente des Lefort’schen Einschnittes eingehen, die mit dem Moment der Erfahrbarkeit der ’sozioontologischen‘ Relevanz des totalitären Einbruchs einhergehen. Was uns aber vom Gesagten her klarer sein dürfte, ist: im politischen Denken Leforts, arbeitet der Riss, der ontologische Durchbruch des Denkens, vielleicht das erste mal voll auf das Politische gewendet. Dieses ‚bekommt‘ dann eine gänzlich andere Wirklichkeitsart als die, die ihr, im mainstream der Politikwissenschaft der Moderne, die mit dem Demokratischen der Demokratischen Frage und mit der Freiheit selber immer im clinch lag, zugewiesen wurde, sei es als funktionales Machthandeln, sei es als ein, in das funktional-strukturelle eingebettetes und in diesem Sinne sekundär symbolisches Handeln. Es geht bei Lefort auch nicht um das Politische im Sinne einer - das Zwischen verfehlenden - Massenpsychologie, die die geschichtlichen Wir-Weisen letzlich nur als pathologische Phänomene (von der Ich-Souveränität aus gesehen) betrachten kann. Es geht ihm aber schließlich auch nicht um einen rein ’säkularisierten Innenraum‘ der menschlichen Wahl- und Entscheidungshandlungen, in den einige Interpreten sowohl Leforts Denken, als auch das Denken Hannah Arendts hineinzwingen wollen, um es sozialwissenschaftlich objektiv kompatibel zu machen.
Lefort schreibt: „Wir können das Politische nur unter der Bedingung mit der Insituierung des Sozialen, mit den Formprinzipien die die Form des Sozialen generieren, gleichsetzen, wenn wir gleichzeitig anerkennen, daß das Politische sich nicht auf eine reine Wahl (im Sinne, müssen wir hinzufügen, von’Choix‘, von ‚choice‘ oder auch von ‚Entscheidung‘; Z.Sz.) reduzieren läßt, nicht einmal auf eine, als ‚unbewußt‘ angesehene Wahl.“ Dies bedeutet dann auch die Anerkennung, daß das Politische „zur gleichen Zeit von einer Aufarbeitung und von einer Prüfung (épreuve) der human condition“ unter historisch „gegebenen Umständen Zeugnis ablegt.“
Von hier aus können wir auch die Unmöglichkeit ermessen, die Demokratische Frage in den reinen Objektivitätsraum der Sozialwissenschaften einzuschließen. Das bedeutet selbstverständlich keinen ‚anti-wissenschaftlichen‘ Bias, sondern eine andere Wahrnehmung ihrer Exklusivansprüche.
Diese Einschließung, liebe Freundinnen und Tagungsgäste, ist fast immer mit unguten politischen Konsequenzen in der politischen Beurteilung der Bedingungen des Demokratischen und der mehrdimensionalen Wirklichkeitsweisen derselben verknüpft. Sie impliziert meistens nicht nur eine Exorzierung des ‚Gespenstes der Freiheit‘, sondern auch die seiner symbolischen Geschwister ‚Volk‘ und ‚politische Nation‘, die ebensowenig eindeutig zu machen sind, wie es selber. Sie gehören zum Übertragungsraum des okzidental-demokratischen, wie das Republikanische und seine polishaften und biblischen Dimensionen. Dort wo es von ihnen keine Spur gibt, ist auch das aufrechte demokratische Wir kaum gesehen worden. Keine der bösartigen Verwandlungen des Zwischenraumes zwischen ‚Staat‘ und ‚Gesellschat‘ kann ihre geschichtliche Bedeutsamkeit auslöschen.
In den vielfachen Frageweisen der Demokratischen Frage schließlich, liebe Freundinnen und Tagungsgäste, die wir, wie oben gesagt, als Momente einer neuen Konstellation am Ausgang dieses Jahrhunderts verstehen möchten, ‚arbeiten‘ sowohl die horizontverändernden Ereignisse, als auch die Denkdurchbrüche von denen wir gesprochen haben. Dies gilt von den Werken Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes, ebenso wie von den letzten Werken Ágnes Hellers und Ferenc Fehérs, von denen Gianni Vattimos und Dick Howards, von denen Reiner Schürmanns und Jean Luc Nancys, von denen Jacques Derridas und Philippe Lacoue-Labarthes, von denen Adam Michniks und Mihály Vajdas, von denen Margaret Canovans und Simona Fortis und von denen vieler Anderer, die gar nicht mehr aufzuzählen sind. Wir sehen heute auch, wie die Denk- und Erfahrungsweisen eines Reinhart Kosellecks oder eines Ernst Vollraths diese ‚Konstellation‘ mit vorbereitet haben.
Merken wir, liebe Freundinnen und Tagungsgäste: fast nichts von einer Konstellation, von dieser vielfachen Öffnung der Demokratischen Frage, von der Weise wie sie uns mehr-
stimmig auch mit der Frage konfrontiert, in welcher Art von Geschichte wir leben, war noch vor zwanzig Jahren sichtbar. D.h., zu dem Zeitpunkt, als Hannah Arendt, die diese Frage vielleicht am entscheidensten, aber allein und fast isoliert, eröffnet hat, starb.
Fast ebensowenig sichtbar war eine Frage, die mit der Demokratischen Frage verwandt ist und direkt oder indirekt an eine andere, verwandtere Dimension des Arendtschen Denkens und Merkenkönnens anknüpft. Ich meine die ‚Amerikanische Frage‘, nicht mehr als die Frage nach der amerikanischen Besonderheit, wie sie in der Politikwissenschaft jahrzehntelang gestellt wurde, aus dem - ontologisch versicherten - Glauben heraus, daß das zur Natur der bürgerlichen Gesellschaft zugehörige Politische in Westeuropa ’normal‘ zu Tage kam. Ich meine jene Frage, die an Hand des in Amerika weniger verschwundenen ‚Zwischens‘ der ‚politischen Nation‘, der anderen Beziehung von Innen/Außen, auch in der Lage ist nach Europa ‚zurückzufragen‘. Viele von uns wissen, wie wichtig es auch für sie selber war, in den Werken J.G.A. Pocock’s, Michael Walzers und vieler anderer, diese Frage wahrzunehmen.
Von hier aus können wir auch eine andere Beleuchtung auf das werfen, was wir am Anfang des Vortrags als ‚Diskrepanz‘ zu artikulieren versucht haben. An diesem Anfang, um nicht vorzugreifen, mußten wir gleichsam einen ‚direkten‘ Zugang zu dem wählen, was bei Hannah Arendt im sozialwissenschaftlichen oder auch rein politisch-moralischen nicht aufgeht. Wenn aber, liebe Freundinnen und Tagungsgäste, die schon breit sichtbar gewordene Konstellation der Demokratischen Frage inzwischen gerade um dieses ‚was nicht aufgeht‘ herum entstehen könnte, ist das Werk Hannah Arendts nicht mehr isoliert und allein. Sie hat ihren, vielleicht auch nur ihren ersten politisch-denkerischen Übertragungsraum gefunden. Den, den sie mitgeschaffen hat.
© Zoltán Szankay, all rights reserved
der Text ist die erweiterte Fassung des Vortrages vom 26.11.1994
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