Der siebte Oktober nähert sich und mich beschäftigt die Frage, wie wir mit so viel Wahrheit umgehen können. Wenn diese dann noch nackt und hässlich ist, mag doch niemand mehr hinsehen - oder doch?
Den Abgang in Würde gestalten
Ich wundere mich über mich selbst, und meine Zeitgenossen verwirren mich. Gestern habe ich ein kurzes Video angesehen, das eine Israelin zeigt, die - kurz bevor sie von Hamas-Terroristen erschossen wird - diesen die Zunge herausstreckt. Ihr Umgang mit der nackten Wahrheit ihres nahenden Todes beschämt und entlastet mich. Ich schaffe es immer noch nicht, mir Bilder von den Massakern anzusehen und bin froh um jeden, der das kann und ernsthaft davon berichtet. Nachdem ich das Video sah, wurde das Bild eines ganz anderen Abgangs und einer völlig anderen Form der hässlichen Wahrheit eingespielt: der deprimierte Abgang der beiden Grünen, wie sie mit hängenden Bäuchen und Schultern die Bühne der Pressekonferenz verlassen. Trotz meiner festen, inneren Überzeugung, dass die beiden menschenverachtende Politik gemacht haben, löste das Bild bei mir Mitleid aus. Zugleich das Gefühl der Scham: Das hätten wir doch nicht sehen müssen. Dann kam Empörung auf: Können die ihre Abgänge nicht schöner gestalten?
Diese Frage stelle ich mir auch mit der Erfahrung eines Sargträgers, der zahllose würdige und unwürdige Abgänge miterlebt hat. Der sogenannte letzte Gang kann auch aufrecht und in Würde geschehen, auch ästhetisch gestaltet werden, so dass wir ihn als angemessen und gar schön empfinden, selbst wenn wir im Gram gebeugt sind.
Die Toten schön machen
Abgänge würdevoll zu gestalten bedarf eines gewissen Gefühls und eines Zeremoniells. Und vor allem müssen wir die Toten schön machen und gut anziehen. Das scheint heute ein Problem zu sein und mir graust es vor dem 7. Oktober.
Tatsache ist, die Wahrheit ist nicht nur nackt, sie ist auch oft hässlich. Das war sie schon immer, aber es gab auch immer ehrenwerte Versuche die Wahrheit anzukleiden, ohne sie zu verkleiden. Sowohl in der Kunst als auch in den Religionen gibt es Möglichkeiten, Katastrophen-Erfahrungen so zu gestalten, dass wir sie zumindest erinnern wollen; sie so geschickt zu verbergen, dass wir uns mit ihnen auseinandersetzen können. Wir hatten kulturelle Techniken, um Abgänge und Abschiede zu zelebrieren, in der die Würde der Wahrheit und der betroffenen Menschen geschützt wird. Das galt auch noch dann, wenn die Wahrheit unannehmbar war und nur noch Gott helfen konnte. Diese kulturellen und religiösen Rituale sind alt, sie machen den Schmerz spürbar, begleiten aber Menschen durch die Trauer ins Leben zurück. Ich habe sie meist bei Menschen erlebt, die mit schweren Verlusten und dem eigenen Tod oder dem der Geliebten umgehen; bei jenen, die das Sterben bewusst erleben und jenen, die es professionell begleiten.
Du darfst abwählen und verhüllen
Mein Gefühl ist: wir sind verarmt und schon fast verkümmert. Die verhüllenden Kulturtechniken sind fast verloren. Das Protzen mit nackten Tatsachen ist normal geworden. Meine bangen Erwartungen vor dem Jahrestag werden bei diesen Gedanken nur noch schlimmer. Ich fürchte - informierte oder abwegige Intuition? - wir sind in einer neuen Phase der geistigen Verwahrlosung angekommen. Die Wahrheit zeigt sich nackter, nackter geht es nicht mehr; und kein Gott scheint uns zu Hilfe zu eilen. Es ist angesagt in der Öffentlichkeit, alle Hüllen fallen zu lassen und Fülle zu zeigen. Daher braucht niemand mehr Enthüllungsjournalismus. Die Forderung nach der Abschaffung der zwangsfinanzierten Verdummung müsste zugleich ein Verhüllungsangebot enthalten: opt out, allow to cover up (Du darfst abwählen und verhüllen). Einerseits dürfen wir selbst entscheiden, welche Wahrheit wir hören oder sehen wollen. Wir nehmen uns auch das Recht heraus, die Wahrheit so zu bekleiden, wie wir unsere Toten bekleiden: Mit Würde, Respekt für das Vergängliche der Menschen. Einem Verstehen, dass wir nicht besonders begabt sind, über die Geschichte Einzelner zu richten, aber immer gefährdet, die große Geschichte aus sicherer und herrschaftlicher Distanz heraus beurteilen zu wollen.
Hätte ich nicht dieses Gefühl der Verwahrlosung, könnte ich dem 7. Oktober gelassener entgegen schauen. Statt mich zu beruhigen, schlagen die Absurditäten der Politik selbst die letzten Sicherungen durch. Sie sind kaum noch entlang der üblichen Motive wie Gier, Neid oder Machtgeilheit einzuordnen. Wir müssen inzwischen auf die verrückten Geschichten der durchgeknallten Könige und Diktatoren zurückschauen, um eine Vorahnung für die Dynamik der kommenden Ereignisse zu bekommen. König Ludwig II und Caligula bieten sich als Vergleichssubjekte an. Wer keine Angst vor Rassismusvorwürfen hat kann auch den Ex-Diktator Jammeh aus Gambia studieren.
Die Wahrheit bekleiden
Die Frage heute ist: Was tun, wenn die Regierung Traumschlösser baut, die sich erst in 200 Jahren als Touristenattraktion amortisieren? Was tun, wenn die Regierung Pferde und anderes Getier zur Staatsräson erklärt und Esel zu obersten Pferde-Führern ernennt?
Natürlich kommt mir dabei auch das Märchen vom König in den Sinn, der nackte Tatsachen nicht mehr als solche erkennen konnte. Leider hört das Märchen gerade dort auf, wo wir heute Hilfe bräuchten. Die Geschichte endet mit der Enthüllung und der Scham der nackten Wahrheit. Was aber geschah dann? Hat der König das gemacht was menschlich und logisch gewesen wäre? Also den ganzen Hofstaat entlassen, das Kind und seine Familie in den Palast geholt und zu seinen Beratern gemacht; am nächsten Morgen mit dem Kind an der Seite durch sein Reich gefahren und es gebeten, ihm seine Augen zu leihen; an jeder Ecke angehalten und dem Kind erzählt, was er sieht, um es dann zu fragen: „Siehst auch du das und das?“
So hätte ein kluger König wohl gehandelt, nachdem er die Scham überwunden und die Freude an den Tatsachen wieder entdecken durfte. Es hätte eine Weile gedauert, aber schließlich hätte er das Vertrauen in seine Wahrnehmung zurück gewonnen. Und das Kind wäre klug gewesen und hätte den König zu Anfang gebeten: „Herr König, wir hören erst einmal nur zu. Das Zuhören wurde ihnen nicht vermiest. Sie haben nur auf die falschen Stimmen gehört, aber Sie können Wahrheit hören. Sie können auch hören, ob jemand angezogen oder nackt ist. Vertrauen Sie ihren Sinnen und ihrem Geist. Hören Sie zu, aber lassen Sie sich nichts mehr einreden“. So würde der König langsam die Zu- und Missstände in seinem Land kennen lernen und selbst die Schönheit der Nacktheit erneut entdecken - möglicherweise mit positiven Auswirkungen auf das ganze Reich und seine Beziehung zur Königin.
Was tun am 7. Oktober?
Mir wäre wohler am 7. Oktober,
- wenn wir uns und unsere Wahrheiten, unsere Verluste und unsere Toten schön anziehen würden;
- wenn die empathische Anerkennung der Todesursachen und Todesarten ebenso geboten ist wie eine würdevolle Leichenschau;
- wenn es seelsorgerische und erkenntnisfördernde Zeremonien gäbe, die von Herzen kommen und ernst gemeint sind;
- wenn jede Form der nachträglichen Leichenschändung - sei es physisch oder ideologisch - geächtet wäre;
- wenn ein Vermummungsverbot für alle gilt, die glauben im Besitz der nackten Wahrheit zu sein.
Liebe Leser, falls Ihnen am 7 .Oktober bange wird, rate ich Ihnen, nackte Tatsachen zu bekleiden, mit Freunden über ihre Erlebnisse zu sprechen, und wenn gar nichts mehr hilft: Hören sie einfach zu und schreiben hier in der Leserpost. Ich freue mich von Ihnen zu hören!
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