Einer breiteren Öffentlichkeit wurde der Name Dugin erst durch den tatsächlichen oder vermeintlichen Anschlag auf seine Tochter bekannt, zu dem gar der Papst unbedingt meinte, sich äußern zu müssen. Ob der Papst auch die ideengeschichtlichen Hintergründe der öffentlichen Äußerungen von Vater und Tochter genauer durchleuchtet hat, darf bezweifelt werden. Wir sollten uns diese Ignoranz nicht leisten. Alexander Dugin, Jahrgang 1962, gilt als einer der maßgeblichen aktuellen politischen Kommentatoren in Russland, Mitbegründer der mittlerweile verbotenen Nationalbolschewistischen Partei und Autor zahlreicher Bücher und Artikel. Zeitweise besetzte er auch den Lehrstuhl für Soziologie an der Moskauer Lomonossow-Universität. Seit etwa 2012 liefert er ideologische Unterstützung für Putins ‚postkommunistischen Mafiastaat‘ (Magyar).
Ich gehöre ja noch zu diesen altmodischen, weißen alten Männern, die einen Autor lesen, bevor sie über ihn urteilen. Also habe ich, nachdem er so hochgelobt wurde, eine aktuelle Schrift von Alexander Dugin zur Kenntnis genommen: „Das große Erwachen gegen den Great Reset“. Ursprünglich wollte ich auch noch „Die vierte Theorie“ und „Die Grundlagen der Geopolitik“ lesen, aber das ‚große Erwachen‘ erwies sich bereits als so herbe Enttäuschung, dass ich mir den Rest sparen kann. Schon der Vergleich zum Niveau der russischen Vechi (Wegzeichen) und De profundis Autoren, die etwa hundert Jahre zuvor ihre fundamentale Kritik an der Urkatastrophe der russischen Revolutionen artikuliert hatten, fällt für Dugin wenig schmeichelhaft aus.
Russlands rühriger Demagoge ist bloß ein pseudo-intellektueller Scharlatan. Fundierte Bildung - Fehlanzeige. Das Ganze ist nicht mehr als ein aus beliebigen Versatzstücken zusammengerührter ungenießbarer Weltanschaungsbrei. Woran mag es liegen, dass russische Zaren eine Vorliebe für so höchst zweifelhafte Figuren wie Rasputin oder Dugin entwickeln, wobei man fairerweise zugeben muss, dass Rasputin mehr die Zarin als Nikolaus II. in seinen Bann gezogen hat?
Das neue ideologische Feindbild, der Titel lässt es ahnen, ist der Liberalismus. Dugin verweist zwar gerne auf Carl Schmitts Definition des Politischen, schmückt sich mit Heidegger und anderen, hat aber schon den Unterschied zwischen Feind und Feindbild nicht verstanden. Ein politischer Feind und ein ideologisches Feindbild sind zwei gänzlich unterschiedliche Angelegenheiten. Beim persischen Großkönig Dareios I., dessen Einmarsch im Mutterland der poleis 490 v. Chr. zu der für die dadurch entstandenen Griechen erfolgreichen Schlacht von Marathon führte, handelte es sich um einen politischen Feind, ebenso wie Putin aus Sicht der Ukraine ein politischer Feind ist, dagegen handelt es sich bei der „jüdischen Weltverschwörung“ oder dem, was Dugin unter Liberalismus verstanden wissen möchte, um ein ideologisches Feindbild. So gibt es in Dugins Darstellung nur einen Liberalismus als zentrales Feindbild und auch nur eine einzige allumfassende Geschichte, die ungebrochen vom Universalienstreit im 12. Jahrhundert bis zur heutigen Globalisierung reicht. Geschichtsphilosophisch winken ganz von ferne Hegel & Marx. Nur das mit der Dialektik war Dugin zu kompliziert. Personalisiert heißen die beiden Hauptfeinde Joe Biden und George Soros. Vor allem letzterer erweist sich als taktischer Schachzug. Damit lässt sich auch im Westen ordentlich Proselytenmacherei betreiben.
Liberalismus, insbesondere die Herauslösung des Individuums aus allen vorherigen traditionellen Bindungen, steht bei Dugin zum einen für die Moderne schlechthin, die in Bausch und Bogen als zivilisatorische Fehlentwicklung abgelehnt wird, zum anderen aber, weil er keinerlei Vorstellung davon hat, was sich politisch mit einem freigesetzten Individuum anfangen ließe, für das Andere des EINEN. Über Entwurzelung als unbeabsichtigte Nebenfolge der durch die Trennung von Staat und Gesellschaft hervorgerufenen Atomisierung ließe sich ja noch diskutieren, aber Auseinandersetzungen sind hier nicht vorgesehen. Die Masse muss zusammengepresst eine einzige gewaltige Kraft und dann in Bewegung gesetzt werden. Damit eine Ideologie Massen mobilisieren kann, muss sie einfach und leicht verständlich sein, eine Erfahrung, die ganz nebenbei auch Hitler bei seinen ersten Erfolgserlebnissen als Redner ermutigte. Hatte er zu Beginn seiner Rednerkarriere Kritik und Hetztiraden gegen mehrere unterschiedliche Personen verteilt, war der erwünschte Effekt weitaus schwächer. Zuhörer lassen sich dramaturgisch nur dann aus der Besonnenheit herauslocken und in die gezielte Erregung versetzen, wenn man sich als Redner auf ein einziges Feindbild beschränkt, dies aber zum Inbegriff alles Negativen verdichtet. Unterschiede dürfen da keinerlei Rolle spielen, nicht die zwischen Frankreich und Deutschland, nicht die zwischen kontinentaleuropäischem und angelsächsischem Denken und erst recht nicht, dass die amerikanische eine gänzlich andere Revolution war und nicht bloß der kleine Bruder der französischen. Wo die Wirklichkeit zu störend ins Bild kommt, wie beim Phänomen Trump, macht Dugin Liberalismus 1.0 und 2.0 daraus. Schon passt es wieder.
Bezogen auf einen metaphysischen, allgemeingültigen Wahrheitsbegriff, der den menschlichen Angelegenheiten von Zeit und Raum entzogen ist, wären individuelle Wahrheiten der Abgrund des Allgemeinen. Sammlung, Zeitlichkeit, Vermittlung kann Dugin nicht denken. In einer orthodoxen ideengeschichtlichen Tradition, die weder das (römische) Recht als ein Verhältnis zwischen Personen, noch eine Person nicht nur als Träger von Rechten und Pflichten, sondern auch als Überträger von wahrgenommer und mitgeteilter Wirklichkeit kennt und der EINE die einzige Person und damit auch die einzige Quelle von Gerechtigkeit ist, muss jede individuelle Abweichung als das metaphysisch Böse schlechthin bekämpft werden. Von hier aus speist sich das Motiv der Verteufelung des Individuums. Dugin muss deshalb mit zwei Liberalismen hantieren, einem historisch, ideengeschichtlich, politisch wie ökonomisch bestimmten, der Moderne, und einem, der mehr einer alttestamentarischen Grundkonstante gleicht. Aus allen Kontexten herausgeschält ist der zweite Liberalismus nicht nur irgendein Feind, sondern muss zum „uralten Feind der gesamten Menschheit“ hypostasiert werden. Bei so viel religiösen Anleihen wundert es nicht, dass dieser Liberalismus von Dugin als satanisch qualifiziert wird. Bei den Nationalsozialisten übernahm diese Position im Weltanschauungskonstrukt die jüdische Weltverschwörung. Und natürlich geht es auch bei Dugin um Armageddon, die letzte Schlacht. Wenn es nur einen Gott gibt, kann es auch nur einen Auserwählten geben. Bescheidener wird es daher nicht, schließlich „geht es nicht nur um die Rettung des Westens […], sondern um die Errettung der Menschheit […] von der totalitären Diktatur der liberal-kapitalistischen Eliten.“
Mit Differenzierungen hält sich Dugin nicht auf. Wo es nur gut und böse gibt, weder Unsicherheit noch Zweideutigkeit irgendeine Rolle spielen dürfen, sind die beiden Felder beiderseits der Front jeder Auseinandersetzung entzogen - tertium non datur. Grenzgängerei wäre da ein Kapitalverbrechen. Alle Differenzen werden ausgelöscht zugunsten einer einzigen, die alles erklärt. Man setzt auf Gewissheiten und eindeutige Zuordnungen. „Es gibt nur zwei Parteien auf der Welt: die globalistische Partei des Great Resets und die antiglobalistische Partei des großen Erwachens. Und nichts in der Mitte.“ Mit westlicher Kreuzzugsrhethorik muss der Kampf gegen eben diesen Westen universell werden, denn die Globalisten seien das absolut Böse.
Für eine Neuauflage des Widerstandes gegen die liberale Zerstörung der Menschheit wird gar Orwell ins Reich heimgeholt. „Die Dystopie von Orwells 1984 wird nicht von einem kommunistischen oder faschistischen, sondern von einem liberalen Regime verkörpert.“ Dugins einfache Lösung der Links-Rechts Blockade: Die Linke müsse ihren Anti-Faschismus, die Rechte ihren Anti-Kommunismus aufgeben. Nur vereint sei der Liberalismus zu schlagen. Aus Dugins Perspektive sind russischer und deutscher (National)-Sozialismus kein Zivilisationsbruch, sondern legitime Widerstandsformen gegen das absolute Böse. Ihr einziger Nachteil war nur, dass sie noch zu modern und deshalb nicht siegreich waren. Dugins Vorschlag: Man muss über den Westen und die gesamte Moderne zurückgehen und sich am Osten orientieren. Iran, Indien, China, selbst das archaische Afrika sollen die Vorbilder für die erneuerte Zivilisation sein. Da reichen sich, ideologisch gesprochen, Ayatollah Khomeini und Alexander Dugin die Hände, aber nicht auf Augenhöhe. Russland sei, so Dugin, die Avantgarde und daher berufen, sich an die Spitze zu stellen, um den internationalen Kampf der Völker gegen die Globalisten anzuführen. Solche Textbausteine, minimal angepasst, klingen vertraut. Es waren auch nur die westlichen Demokratien, die sich „angesichts einer Pandemie rasch in totalitäre Gesellschaften verwandeln“. Dass China dafür das Modell lieferte, muss Dugin’s Konstrukt verschämt verschweigen.
Nicht, dass es an Liberalismus und Globalisierung nichts auszusetzen gäbe, aber doch bitte nicht so. Arendt hat sich ja nicht umsonst schon Anfang der Fünfziger in einem Brief an Blücher über die ‚Wiederkehr des verstunkenen Liberalismus‘ empört. Wer Scharlatanen wie Dugin auf den Leim geht, sollte vielleicht doch noch einmal über ein Studium nachdenken. Es gibt in Russland keine Tradition politischen Denkens, nicht einmal als verborgene oder verschüttete, oder haben Sie schon mal was von einem russischen Machiavelli oder einem russischen Thukydides oder Tocqueville gehört. Am deutlichsten spürt man das in den Texten der oben erwähnten Vechi und De profundis Autoren, denen es trotz radikaler Kritik an den russischen Revolutionen nicht gelingt, ihre Kritik von einer politischen Perspektive aus zu artikulieren. Irgendwie kommt immer eine Variante der Theokratie dabei heraus.
Die griechische Erfindung des Politischen und das römische Recht mit Person und Körperschaft als Träger von Rechten und Pflichten sind aus abendländischer Sicht Hoffnungsanker gegen einen erneuten Rückfall in die Barbarei, während sie für Dugin die größte Bedrohung seiner Vorstellung eines geordneten orthodoxen Gemeinwesens darstellen. Folgerichtig schwärmt Dugin von Platons drei Stände Modell. Ganz oben herrschen die Priesterphilosophen, die Aristokraten machen die Krieger und der Rest sind Bauern, die kurz und dumm gehalten werden. Jeder an seinem Platz. Vertikale Mobilität, auch bekannt als „vom Tellerwäscher zum Millionär“, ist nicht vorgesehen.
Die Unfähigkeit, zwischen Person und Persönlichkeit, zwischen Amt und Amtsinhaber unterscheiden zu können, eine für das römische Recht zentrale Differenz, verleitet Dugin zu einer für Russland fatalen Fehleinschätzung. Aus Bidens Schwäche liest er die Schwäche Amerikas und eine Einladung für Russland. „Im Moment - solange in den USA ein Idiot an der Macht ist - hat Russland die historische Chance, […] seinen Einflußbereich fast weltweit dramatisch auszudehnen.“ Dass Amerika weit mehr ist als das, was Dugin unter Liberalismus versteht, dass die abendländische Tradition politischen Denkens nach Amerika ausgewandert war, bevor sie sich in der kontinentaleuropäischen Moderne verwurzeln konnte, hat Dugin übersehen. Der Preis dieser Ignoranz ist hoch.
Hannah Arendt schrieb in den Fragmenten zur Politik: Die politische Philosophie beginnt mit Platon und endet mit Marx. Soll heißen: das Politische kam innerhalb dieser Tradition nicht zu Wort. Außerhalb dieser Tradition, dafür lieferte die amerikanische constitutio libertatis ein überzeugendes Beispiel, war das anders. Wer die entpolitisierenden Effekte des Liberalismus der Moderne korrigieren möchte, braucht dafür nicht nach Indien, China, Iran oder Russland gehen.
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Publiziert auf: Weissgerber Freiheit, tabula rasa magazin, PT-Magazin,
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