Der Königsberger I. Kant hatte wohl den alten Fritz im Sinn, als er in seinem kleinen Text von 1784 „Über die Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ gegenüber den nur Befehlenden auf denjenigen hinwies, der als einziger Herr in der Welt sagt: „Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!“ Dieser forderte zwar wie Kirche, Militär und Steuereintreiber auch das Gehorchen, ließ aber den machtlosen Widerspruch zu. Das lässt den Dampf aus dem Kessel und neutralisiert den Zorn. Das scheint auch 250 Jahre später zumindest in Deutschland noch fast unvermindert zu funktionieren. Der gewöhnliche deutsche Untertan ist brav, befolgt gedankenlos jede Regel und verlegt das Räsonieren ins Private.
Neben den passenden Resonanzräumen, ob intellektuell im Salon oder prosaisch am Stammtisch, in denen lautstark aber ohnmächtig räsoniert werden kann, gibt es dagegen als echte politische Machtfaktoren nur die Straße und das Parlament. Angesichts eines in der Nachkriegsgeschichte beispiellos rapiden Autoritätsverfalls aller politischen Institutionen, an die wir uns nach 45 gewöhnt hatten, ergeht die Herausforderung an die Straße, die Macht des Volkes wieder zur Geltung zu bringen: potestas in populo - auctoritas in senatu. Bis es soweit ist, bleibt allerdings nur ein Parlament, das in einem bedauernswerten Zustand ist und über keinerlei Autorität mehr verfügt. Im aktuellen Bundesparlament gibt es nur eine Oppositionspartei, die noch politisch agiert, alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien orientieren sich längst an Herrschafts- und Privilegiensicherung. Mit Regieren oder Politik oder gar einer Orientierung am Gemeinwohl haben sie nichts mehr im Sinn. Um den Volkszorn für ihr Totalversagen in Serie von sich abzulenken, nutzen sie einen der ältesten Herrschaftstricks und hetzen den einen Teil der Bevölkerung auf den anderen. Katholiken gegen Protestanten, Linke gegen Rechte, Kommunisten gegen Sozialfaschisten, Arier gegen Juden, Geimpfte gegen Ungeimpfte. Die gute, alte abendländische Tradition liefert ausreichend Vorlagen für einen alten Hut: Konstitution einer imaginären Gemeinschaft über das gemeinsame Feinbild. Individuum und Masse sind nur die zwei Seiten derselben Medaille. Der politisch infantilisierte Pöbel macht erwartungsgemäß fleißig mit und möchte vom Herrn dafür belobigt werden.
Machtpolitisch nutzt das bloße Vorhandensein oppositioneller Kräfte wenig, wenn ihnen die nötige Stimmenanzahl fehlt, um die parlamentarischen Möglichkeiten auch ausschöpfen zu können. Nachdem das Bundesverfassungsgericht bislang versucht, sämtliche Eingaben bezüglich kontrafaktischem Ausnahmezustand auszusitzen, benötigt man für eine abstrakte Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht 25% der Abgeordneten des Bundestages oder eine AFD Landesregierung.
Ob die CDU jetzt schon in der Opposition landet, oder weiterhin an rot/schwarz plus x beteiligt sein wird, ist völlig ungewiss. Sollte sie In der Opposition landen, wird sie, wenn überhaupt, so schnell nicht aus dem selbstgewählten Jammertal heraus kommen. Entweder zerfällt sie völlig oder sie rappelt sich noch einmal auf und stellt sich vollkommen neu auf. Das wird nicht ohne gravierende personelle Rochaden gehen. Wie lange wird es dauern, bis sie parlamentarische Potenz aufgebaut hat? Wer soll innerhalb der CDU glaubhaft einen Neuanfang vertreten? Kann man abzählen. Gehen wir vom best case aus und träumen von Hans-Georg Maaßen als neuem Fraktionschef der CDU im Bundestag. Er ist momentan der Einzige, der innerhalb der CDU noch über eine nicht vom Zeitgeist korrumpierte politische Autorität verfügt. Bis er die Fraktion soweit hat, oppositionelle Kräfte zu bündeln - ein Herkulesjob. Hört sich beim aktuellen Zustand dieser Partei nicht wirklich überzeugend realistisch an, oder?
Wer also weder Knüppel noch Knarre in die Hand nehmen möchte und das Parlament nicht nur als unsere Vertretung, sondern überhaupt wieder gegenüber einer übermächtig gewordenen Exekutive als politische Potenz in Stellung bringen möchte, hat mitten in der Hegemonie des Alternativlosen nicht wirklich viele Alternativen. Man muss sich nur das Abstimmungsverhalten der im Bundestag vertretenen Parteien bei den Ermächtigungsbeschlüssen zur „Epidemischen Lage nationaler Tragweite“ genauer anschauen.
Ich bleibe daher bei meiner Einschätzung von August 2019 (Die AFD - Der Fuß in der Tür). Es bleibt nicht viel anders übrig, als sich gegenüber den Hetzkampagnen der veröffentlichten Meinung taub zu stellen, seine persönlichen Antipathien und Animositäten hintan zu stellen, kühl, emotionslos und unmoralisch zu kalkulieren und die einzige Kraft zu stärken, die noch politisch-parlamentarisch agieren kann, bevor die Schlacht auf der Straße stattfindet.
12. Dezember 2021 um 02:24 Uhr
Danke für diesen Kommentar zum politischen Geschehen. Ich habe das Internet gefühlt Jahrzehnte nach einer solchen Einschätzung durchsucht. Wo sonst hätte ich sie finden sollen, als auf einer Hannah Arendt-Seite? Danke.