Über den Verfassungsbruch vom Sommer 2015, als unsere Bundeskanzlerin in einer einsamen Entscheidung jede staatsmännische Klugheit über Bord warf, die Grenzen öffnete und ob ihrer politikfreien Moralität am lautesten von denen gefeiert wurde, die von den schmutzigen Niederungen der Politik ohnehin nicht verunreinigt werden wollen, ist viel geschrieben worden. Die unterschwellig hochaggressive Kehrseite dieser neuen Menschenfreundlichkeit wurde weniger beachtet. Ich möchte deshalb die Aufmerksamkeit auf einen Satz lenken, der damals gefallen ist, dessen weitausgreifender Sinn aber erst allmählich deutlicher wird. Zur Verteidigung ihrer außerordentlichen Maßnahme sagte Frau Merkel im Herbst 2015 auf einer Pressekonferenz: „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Zumeist hat man aus dem Satz die humanitäre Überzeugung versus den kalten, bürokratischen Anforderungen des Rechtsstaates herausgehört. Auch der protestantische Duktus, der die innere Gesinnung zum allein gültigen Maß und damit über das Gesetz erhebt, wurde registriert. Ich möchte hier statt dessen den Fokus auf die beiden unscheinbaren Worte ‘mein Land’ richten.
Das ist nämlich, genau besehen, eine ganz erstaunliche Formulierung, die zunächst gar nicht groß aufgefallen ist. (Es ist nicht notwendig, aber hilfreich, wenn man unter ‘Land’ auch die Bedeutung mitdenken kann, die der Historiker Otto Brunner dem Begriff in ‘Land und Herrschaft’ gegeben hat.) Eine ‘normale’ Reaktion auf die Kritik wäre gewesen, ihre Kritiker aufzufordern, im Parlament als dem von der Verfassung dafür vorgesehenen Raum öffentlich darüber zu streiten, welches Land wir uns denn vorstellen, wie unser Land in Zukunft aussehen soll und welches Land in welchem Zustand wir unseren Kindern übergeben wollen. Dort hätten dann alle denkbaren und möglichen Vorstellungen von ‘unserem Land’ zu Wort und Austrag kommen können. Das nennt man gemeinhin repräsentative Demokratie. Stattdessen aber sprach Frau Merkel von Ihrem Land in direkter Opposition zum Land der Anderen. Wer oder was diese Anderen sind, blieb vorerst unklar.
Wenn ein Tourist nach dem Besuch eines fremden Landes sagt, dies sei nicht sein Land, so würde er damit lediglich aussagen, dass er sich zuhause wohler fühlt als in der Fremde. Wenn jedoch eine Bundeskanzlerin, die auf das Wohl des Deutschen Volkes vereidigt wurde (§56, GG), auf Kritik an ihrer Entscheidung antwortet, dieses sei dann nicht mehr ihr Land, müssen wir genauer hinhören. In der Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin zum Jahreswechsel 2015/16 wurde diese eigenwillige Konstellation schon etwas deutlicher. Man findet die kurze Ansprache bei youtube. Ein Wiederhören lohnt sich. Es kommt in dieser Rede ein Satz vor, den, soweit ich mich erinnern kann, noch kein Bundeskanzler vor ihr bei einer so herausragenden Gelegenheit wie einer Fernsehansprache an alle Bürger in dieser Form gewagt hätte. Der Satz lautet: „Es kommt darauf an, denen nicht zu folgen, die mit Kälte oder gar Hass in ihren Herzen ein Deutschsein allein für sich reklamieren und andere ausgrenzen wollen.“ Ein kurzer Blick in das Grundgesetz macht die Diskrepanz deutlich. Dort steht in Art.8 Abs.1 kurz und knapp. „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ Nur der Redlichkeit halber sei vermerkt, dass hier nicht von einer beliebigen Anhäufung, sondern von ‚Allen Deutschen‘ die Rede ist, womit freilich noch nichts darüber verfügt ist, was denn dieses ‘Deutsche’ sein soll.
Merkels Satz fiel im Kontext einer Beschäftigung mit den regelmäßigen Demonstrationen in Leipzig, die das Motto jener Montagsdemonstrationen wiederholten, die 1989 die Autorität der SED als führendes Organ der DDR zu Fall brachten und damit wesentlich zur Auflösung der DDR als totalitärer Ordnung beitrugen. Mit dieser Freiheit, sich spontan, ohne äußere Begrenzung, Erlaubnis oder Bewertung jederzeit und zu welchem Zweck auch immer versammeln zu können, hat Frau Merkel offenbar Schwierigkeiten. Es hat ganz den Anschein, als versuche sie hier, einschränkende Bedingungen festzusetzen. Es ist kein Zufall, dass diese Schwierigkeiten an einer Konstellation auftauchen, in der es um Versammlung und Freiheit geht. Die Freiheit der Einzelnen ist politisch unbedenklich, erst im einträchtigen Zusammenhandeln der Vielen wird politische Potenz erfahrbar und wirksam, eine Erfahrung, die 1989 auch an Frau Merkel nicht spurlos vorübergegangen sein dürfte. Nur ist sie jetzt selbst die Zielscheibe der Delegitimierung.
Ihre Ansprache versuchte daher ganz traditionell, die Demonstranten zu isolieren, sie mit einem Odium des Unreinen zu belegen, womit sie den politischen Anspruch in eine moralisch anrüchige Gesinnung verschob, damit erfolgreich das schuldbeladene Reinigungsbedürfnis der Westdeutschen bedienen konnte und gleichzeitig einen Cordon sanitaire um die jetzt ‘rechtsradikalen’ Ostdeutschen zog, um eine potentielle Ausbreitung des politischen Virus einzudämmen. In Krisenzeiten der Menge einen Opfertypus anzubieten, gehört zum Standardrepertoire des christlichen Abendlandes (Rene Girard), das sich durch wiederkehrende Wellen von Selbstreinigungsleidenschaften auszeichnet. Die pastorale Unterstützung durch die Unterscheidung des hellen vom dunklen Deutschland schlug in die gleiche Kerbe und verstärkte die Zwietracht. Merkels Ansprache lautet also übersetzt: Ihr dürft euch ja gerne versammeln aber nur mit solchen, von denen für mich keinerlei politische Gefahr ausgeht. Was vordergründig nur wie eine Moralpredigt daherkommt, entpuppt sich als politischer Angriff auf die Versammlungsfreiheit. Unter der Hand ist aus der Freiheit eine Versammlungsvorschrift geworden.
In den darauffolgenden Tagen blieb es seltsam ruhig. Den Vertretern der Qualitätsmedien fehlte offenbar Sinn, Horizont und Bildung. Sie bemerkten die en passant erfolgte Änderung des Grundgesetzes gar nicht. Auch bei den Organen der Rechtspflege, den Richtern, den Staats- und niedergelassenen Anwälten blieb es still. Sie verhielten sich nicht anders als zu Weimarer Zeiten. Wozu wir ihnen noch Privilegien gewähren, wenn sie keinerlei Anstalten machen, den Verfall des Rechtswesens aufzuhalten, darf gefragt werden. Nur in den kleinen Oasen des Internet, in denen die Freiheit noch halbwegs unbedrängt zu Wort kommen kann, wurde verstanden, was auf dem Spiel steht.
Vor einigen Tagen nun formulierte Frau Merkel auf einer Wahlkampfveranstaltung folgenden Satz: „Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt“. Auch dieser Satz fiel wieder in einem Kontext, in dem die Erinnerung an die Leipziger Montagsdemonstrationen mitschwang. Der Satz markiert die bislang deutlichste Kampfansage an jede politische Kategorie von Volk. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte man hier unterscheiden zwischen einem vor-politischen Sinn von Volk: in dieser Bedeutung ist ‚Volk‘ schon unabhängig und vor seiner politischen Konstitution in Sprache, Kultur, Geschichte, Blutsverwandtschaft oder was auch immer präsent und einem politischen Begriff von Volk, für den die gründenden Väter das bislang überzeugendste Beispiel beisteuerten, denn Amerikaner in diesem politischen Sinn gibt es nicht schon lange vorher, sondern erst durch, seit und mit der ‚amerikanischen‘ Verfassung. Sie sind gewissermaßen gleichursprünglich mit ihrer Verfassung erst ins Leben gekommen und würden als Amerikaner auch wieder aus der Geschichte verschwinden, wenn ihr ‘heiliger Text’ seine Bindungskräfte verlieren würde.
Die beteiligten Positionen an dieser speziellen Kampfkonstellation lassen sich am besten identifizieren, wenn wir in die Phase der Etablierung des Runden Tisches in Polen zurückgehen. Wegen der inzwischen inflationären Verwendung des Begriffs, muss daran erinnert werden, dass der entscheidende politische Sinn des Runden Tisches die Auflösung und Durchbrechung der klassischen Trennung zwischen Staat und Gesellschaft war. Das Gesetz des Tisches setzte die Mitglieder der Kommunistischen Partei und die Vertreter der Gesellschaft politisch gleichberechtigt in einen gemeinsamen Bezug und eroberte damit einen Bereich zwischen Staat und Gesellschaft. Die führende Rolle der Partei - in allen Ostblockstaaten in der Verfassung verankert - war damit faktisch aufgehoben, die Entfernung des entsprechenden Paragraphen aus den Verfassungen folgerichtig häufig einer der ersten Beschlüsse des Tisches. Dass Frau Merkel im Modus des Runden Tisches Politik für unser Land betreiben möchte, lässt sich schwerlich erkennen - eher schon das Gegenteil. Strebt Sie etwa ganz bewusst in die andere Richtung? Hatte Gabriel im Stern-Interview etwas Derartiges im Sinn, als er von ‘übermütig’ sprach? Geht man noch etwas weiter zurück, so wird man sich daran erinnern, dass die Vernichtung der politischen Potenz des Volkes eines der wesentlichen Elemente stalinistischer Herrschaft war, ob als direkte Vernichtung der Elite wie in Polen (Katyn), oder als großangelegte Menschenumsiedlung: die politisch unzuverlässigen Litauer, Letten und Esten in den Gulag - irgendwelche Russen von weither ins Baltikum. Man müsste hier vieles anführen. Stets ging es darum, jener politischen Versammlungspotenz, die die führende Rolle in Frage stellen könnte, schon im Ansatz die Möglichkeiten und die Kraft zu entziehen.
Greift Frau Merkel bei der Vorstellung von Ihrem Land also auf Prägungen ihrer Jugend zurück? Haben wir uns eine verkappte stalinistische Laus in den Pelz gesetzt? Noch im Historikerstreit konnte man sich wenigstens noch auf Verfassungspatriotismus einigen. Das scheint heute schon nicht mehr möglich zu sein. Es könnte aber auch die Ruhe vor dem Sturm sein.
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